Papst Franziskus, Felix Gmür und Joseph Maria Bonnemain am 15. November 2023 im Vatikan.
Analyse

Die härteste Nuss: Das Kirchen-Strafgericht

Bis Ende Jahr hat Bischof Bonnemain die Einrichtung eines unabhängigen Schweizer Kirchenstrafgericht versprochen. Sechs Monate später ist klar: Das Versprechen ist kaum zu halten. Der Abschluss der Serie «Wo stehen wir?»

Annalena Müller

«Wir haben grünes Licht bekommen und können uns an die Arbeit machen», so äusserte sich der Vorsitzende der Schweizer Bischofskonferenz, Felix Gmür, im November 2023 gegenüber kath.ch. Wenige Tage zuvor waren Felix Gmür und Joseph Maria Bonnemain aus Rom zurückgekehrt. Dort hatten die beiden Bischöfe bei Papst Franziskus für die Einrichtung eines Schweizer Strafgerichts vorgesprochen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain (l) und Bischof Felix Gmür (r) am 15. November in Rom.
Bischof Joseph Maria Bonnemain (l) und Bischof Felix Gmür (r) am 15. November in Rom.

Über den aktuellen Stand der Arbeit weiss man wenig. Bis Anfang Mai gibt es von Seiten der SBK eine Kommunikationssperre. Was man weiss: Das versprochene unabhängige Kirchenstrafgericht ist die grösste Nuss, die RKZ, SBK und KOVOS zu knacken haben. In Deutschland kommen ähnliche Pläne seit Jahren nicht voran und das französische Pendant taugt nicht zum Vorbild.

Kirchenstrafgericht in Frankreich

In Frankreich gibt es seit 2022 ein nationales Kirchenstrafgericht. Ein Blick in die Statuten zeigt: Das Tribunal mit Sitz in Paris ist kein grosser Wurf, und es ist alles andere als unabhängig. Das Gericht untersteht der Bischofskonferenz. Die Bischöfe selbst können nicht zur Verantwortung gezogen werden. Vielleicht am wichtigsten: Das Tribunal kann keine Missbrauchsfälle behandeln, die Minderjährige betreffen.

Der Sitz der französischen Bischofskonferenz und des Kirchenstrafgerichts in Paris
Der Sitz der französischen Bischofskonferenz und des Kirchenstrafgerichts in Paris

Der Vorsitzende des «tribunale pénal canonique interdiocésain de la conférence des évêques de France» ist der Präsident der Bischofskonferenz; seit 2019 also Eric de Moulins-Beaufort, Erzbischof von Reims. Sein Einfluss auf das Gericht ist gross. Moulins-Beaufort ernennt die Kirchenanwälte. Der Offizial selbst, also der Kirchenrichter, wird von der Bischofskonferenz bestimmt, er leistet seinen Treueeid aber auf den Präsidenten.

Konkret bedeutet diese Struktur: Das Gericht ist nicht unabhängig. Die bekannten Loyalitätskonflikte, die durch ein Ausgliedern der Kirchengerichtsbarkeit aus der jeweiligen Diözese auf eine nationale Ebene behoben werden sollen, bestehen beim französischen Gericht weiter. Ein zentrales strukturelles Problem der innerkirchlichen Gerichtsbarkeit, das in der Schweiz jüngst im Fall Nussbaumer besonders offensichtlich zu Tage trat, wurde derart verlagert, aber nicht gelöst.

Kein Partikular-Recht

Die Einrichtung des französischen Kirchenstrafgerichts war im Rahmen des bestehenden Kirchenrechts (CIC) möglich. Entsprechend geht es nicht über die bekannten Strukturen hinaus. Der CIC erlaubt es Bischöfen, anstellte der verschiedenen Diözesangerichte ein einzelnes Gericht einzurichten.

Can. 1423: § 1. Mehrere Diözesanbischöfe können mit Genehmigung des Apostolischen Stuhles einvernehmlich anstelle der in cann. 1419—1421 erwähnten Diözesangerichte für ihre Bistümer ein einziges Gericht der ersten Instanz einrichten.

(CIC)

Während Can. 1423 nur ein erstinstanzliches Gericht vorsieht, hat Rom in Frankreich zwei Instanzen erlaubt – also ein Strafgericht und eine erste Berufungsinstanz. Die Zuständigkeiten des nationalen Tribunals sind die gleichen wie bei den Diözesangerichten.

Probleme bleiben

Entsprechend bleiben auch die strukturellen Probleme die gleichen. Belangt werden können Kleriker, ausgenommen Bischöfe. Betroffene haben während des Verfahrens kaum Möglichkeit, sich zu beteiligen, da sie weiterhin nicht als Nebenkläger auftreten können. Sie sind darauf angewiesen, dass ihr Dossier von den zuständigen Offizialen und Kirchenanwälten korrekt geführt und betreut wird.

Bahalten die Kontrolle über die Kirchengerichtsbarkeit: Frankreichs Bischöfe
Bahalten die Kontrolle über die Kirchengerichtsbarkeit: Frankreichs Bischöfe

Schliesslich kann das Tribunal nur solche Fälle verhandeln, die nicht von Kirchenrechts wegen nach Rom gemeldet werden müssen. Für Missbrauchsfälle, in denen Minderjährige betroffen sind, ist das Tribunal nicht zuständig. In der Schweiz betrifft das, laut Pilotstudie, 74 Prozent aller bekannten Missbrauchsfälle. Eine Übertragung des französischen Modells auf die Schweiz wäre entsprechend wenig sinnvoll.

«Gericht muss unabhängig sein»

Kirchenrechtler Nicolas Betticher freut sich über das grüne Licht aus Rom. Das französische Gericht hält der Kirchenrechtler für ungenügend. Betticher erklärt, um ein effektives Strafgericht zu schaffen, müssten die hiesigen Bischöfe vom Papst «ein Partikularrecht für die Schweiz erwirken. Dafür müssen die Verantwortlichen ein Konzept ausarbeiten, wie das Schweizer Tribunal aufgebaut und welche Kompetenzen es haben soll.»

Nicolas Betticher ist selbst Kirchenrichter
Nicolas Betticher ist selbst Kirchenrichter

Das Gericht müsse unabhängig von den Bistümern sein und «die Befugnis haben, alle Fälle vom Missbrauch bis zur Vertuschung zu untersuchen. Laien, Priester und Bischöfe sollten Verantwortung tragen müssen.» Wichtig ist laut Betticher, dass das Kirchenrecht die Aufhebung der Verjährung kennt und somit auch noch viele Jahre nach einer Tat untersuchen kann.

Standesrecht anderer Berufsgruppen

Brigitte Tag, Rechtsprofessorin an der Universität Zürich und eine der beiden Fachpersonen, die Bischof Bonnemain unterstützt haben, erachtet die Regionalisierung der kirchlichen Rechtsprechung für einen sinnvollen Weg. Allein die Anzahl der Fälle, für die Rom zuständig ist, stellten für das zuständige Dikasterium eine grosse Herausforderung dar. Die Regionalisierung würde hier eine Entlastung schaffen, so Tag gegenüber kath.ch. Ein weiterer Vorteil der Dezentralisierung wäre, dass man vor Ort den Kontext und die Strukturen kenne.

Pierre Cornu und Brigitte Tag unterstützten Bischof Bonnemain bei der kanonischen Voruntersuchung
Pierre Cornu und Brigitte Tag unterstützten Bischof Bonnemain bei der kanonischen Voruntersuchung

Das Kirchenrecht sei in einigen Fragen mit dem Standesrecht vergleichbar, erklärt Tag. Dieses enthalte zum Beispiel für Ärzte und Anwälte ergänzende Regelungen zum staatlichen Recht, die in Bezug auf ihre Berufsausübung gelten. Die Einhaltung würde durch die jeweiligen Standesgerichte oder Standeskommissionen überwacht. Wie bei der Meldestelle müsste die Schweizer Kirche auch beim Kirchengericht das Rad nicht völlig neu erfinden, sondern könnte sich an bereits existierenden Strukturen orientieren, so die Rechtsprofessorin.

Unabhängigkeit zentral

Betticher ist überzeugt, die Einrichtung eines professionellen Kirchenstrafgerichts ist möglich. Wichtig sei, dass das Gericht Rom und nicht der Schweizer Bischofskonferenz unterstehe. Die Ernennung der Richterinnen und der Anwälte sollte ebenfalls in Rom passieren, basierend auf einer Liste von Kandidaten und Kandidatinnen, welche SBK, RKZ und KOVOS zusammenstellen. «Derart würde die Unabhängigkeit garantiert.»

Darf sich aktuelle nicht äussern: der Kirchenstrafrechtler Stefan Loppacher
Darf sich aktuelle nicht äussern: der Kirchenstrafrechtler Stefan Loppacher

Des Weiteren müsse sichergestellt werden, dass es eine Aufgabenverteilung analog der weltlichen Strafgerichtsbarkeit gäbe. Also dass Richter, untersuchende «Staatsanwaltschaft» und Verteidigung getrennt voneinander agieren könnten. Auch könnte ein solches Gericht eine Lücke im Kirchenrecht schliessen: «Das Schweizer Strafgericht muss Betroffenen und Opfern Aussagerecht gewähren.» Zeugenanhörung sichere die Rechtsfindung, im Gegensatz zu rein formalistischen Dossier-Entscheiden.

Als Vorbild für das kirchliche Strafgericht sollte die Rechtspraxis der Schweizer Strafgerichte gelten. Betticher, der Offizial des interdiözesanen schweizerischen Gerichtes ist, sagt: «Ein solches Konzept zu erstellen, ist eine spannende Initiative. Vertreter aller implizierten Gremien der Schweizer Kirche sollten hier involviert werden.»

Die härteste Nuss

Die Frage, ob es ein Gremium gibt, das an einem Gerichtskonzept arbeite, kann Betticher nicht beantworten. Auch Brigitte Tag wurde bisher für kein Gremium angefragt. Unklar ist, ob Stefan Loppacher, der bekannteste Kirchenstrafrechtsexperte der Schweiz, in das Projekt involviert ist. Von ihm sind aktuell keine Auskünfte zu erhalten, gleiches gilt für die angefragten Bistümer.

Ebenfalls unklar ist, ob die Schweizer Bischöfe sich auf ein unabhängiges Gericht einlassen würden. De facto würde dessen Einrichtung ihnen die Kontrolle über die Rechtsprechung entziehen. Es wäre der Anfang einer Gewaltenteilung. Selbst wenn sie sich auf ein unabhängiges Gericht einlassen sollten, müsste der Papst noch immer seine Zustimmung geben. Dieser müsste ein entsprechendes Partikularrecht für die Schweiz erlassen.

Ob Franziskus oder sein Nachfolger das tun würden, darf bezweifelt werden. Dann würden schnell die Nächsten anklopfen und Ähnliches fordern. Die Deutschen zum Beispiel. Sie wollen seit Jahren ein unabhängiges Strafgericht – und stossen damit im Vatikan auf taube Ohren. Woran auch immer gerade in der Schweiz gefeilt wird, klar ist: Das Strafgericht ist die härteste Nuss, die es zu knacken gilt. Und auch klar ist: Das französische Modell reicht nicht.

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Papst Franziskus, Felix Gmür und Joseph Maria Bonnemain am 15. November 2023 im Vatikan. | © KNA
25. März 2024 | 12:00
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