Bischof Felix Gmür wendet sich scheinbar ungerne an Rom.
Story der Woche

Bistum Basel: «Mit bestem Wissen und Gewissen» reicht nicht

Der Missbrauchsskandal im Bistum Basel zeigt dramatische Systemfehler auf. Das Bistum ignorierte Beschwerden über den ehemaligen Offizial. Dieser ist bis heute uneinsichtig. Es sei kein «gravierender» Fehler gewesen, die Akten nicht nach Rom zu schicken, sagt er. Der Fall zeigt mehr: Die Schweizer Bischofskonferenz verbreitet missverständlich formulierte Richtlinien. Eine einordnende Analyse.

Annalena Müller

Wenige Wochen vor Veröffentlichung der Vorstudie stolpert Bischof Gmür über einen Missbrauchsskandal. Im Zentrum steht der Umgang des Bistums mit einer Betroffenen. In einer Stellungnahme hat der Bischof mittlerweile «Verfahrensfehler» eingeräumt. Doch so einfach lässt sich die Sache nicht vom Tisch wischen. Der Fall um Denise Nussbaumer (Pseudonym*) offenbart massive strukturelle Defizite. Und er offenbart den mangelnden Willen, diese zu beheben – und zwar auf Seiten des Bistums Basel und der SBK.

«Mit bestem Wissen und Gewissen»

Ende April 2023 gibt Bischof Felix Gmür kath.ch ein Interview. In dem Gespräch geht es um zwei Themen: Die kommende Missbrauchsvorstudie in der Schweiz und das schockierende Ausmass der Vertuschungen im deutschen Erzbistum Freiburg. Zum Skandal im Nachbarbistum findet Felix Gmür klare Worte.

Bischof Felix Gmür hat nach "bestem Wissen und Gewissen" gehandelt.
Bischof Felix Gmür hat nach "bestem Wissen und Gewissen" gehandelt.

«Was ich gelesen habe, ist wirklich schrecklich», sagt der Bischof gegenüber seiner Gesprächspartnerin, Jacqueline Straub. Besonders schlimm dünkt den Basler Bischof, dass «man offensichtlich die Kirche und die Täter mehr geschützt hat als die Opfer». Ebenfalls «schlimm» sei, dass man im Erzbistum Freiburg «sogar kirchenrechtliche Vorgaben nicht eingehalten» habe. Auf sein eigenes Bistum angesprochen, versichert Felix Gmür: «Ich habe alles mit bestem Wissen und Gewissen getan.»

Vier Monate nach dem Interview stolpert der Basler Bischof nun über einen Missbrauchsfall. Dieser ist in seinen Ausmassen keinesfalls mit den Vorkommnissen im Erzbistum Freiburg vergleichbar. Aber im Fall Denise Nussbaumer scheint auch das Bistum Basel «Kirche und Täter» mehr geschützt zu haben als das Opfer. Und auch in Basel wurden kirchenrechtliche Vorgaben nicht eingehalten. Besonders erwähnenswert: Als Felix Gmür im April mit kath.ch sprach, wusste er vom Fall «Denise Nussbaumer» und von journalistischen Recherchen dazu.

Der pensionierte Offizial

Der Offizial, der 2020 die kanonische Voruntersuchung im Fall Nussbaumer geleitet hat, ist ein Aargauer Domherr. Bereits früher ist er negativ aufgefallen. Aus Bistumskreisen heisst es, seine Arbeit als Offizial sei vor der Pensionierung lange problematisch gewesen. Dem Bistum waren Beschwerden über ihn bekannt. Eine stammt vom Juni 2019 und liegt kath.ch vor. Damals wurden verschiedene Personen, inklusive Bischof Gmür, darauf hingewiesen, dass der Offizial im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen unsensibel sei.

Der Offizial verstand sich Untersucher und Entscheider in einem - Staatsanwalt und Richter in Personalunion.
Der Offizial verstand sich Untersucher und Entscheider in einem - Staatsanwalt und Richter in Personalunion.

Ein Anruf bei dem pensionierten Offizial, um mit ihm über die Vorwürfe zu sprechen. Die Frage, ob er die Kontaktdaten an den mutmasslichen Täter weitergegeben habe, streitet er vehement ab. Davon wisse er nichts. Damit bestätigt er die Recherchen des «Beobachter», der schrieb, dass es Felix Gmür selbst war, der die Informationen weiterleitete.

Auf die Frage, warum der zuständige Offizial die Akten 2020 nicht nach Rom übersandt habe, antwortet er lapidar: «Wir hielten dies damals nicht für nötig.» Mit «wir» meint der Domherr sich und den Bischof. Denn auch «Bischof Felix war damals der Meinung, dass wir das Dossier nicht nach Rom weiterleiten müssen». Weiter sagt er, dass sich diese Einschätzung nun als falsch herausgestellt habe. Aber Fehler würden passieren und dies sei «kein gravierender». Es ist ein verbaler Schlag ins Gesicht der Opfer.

Groteske Verfahrensfehler

Die Einschätzung des ehemaligen Offzials zeigt, dass die Kenntnis des kirchlichen Strafrechts anscheinend selbst unter Schweizer Kirchenrechtlern lückenhaft ist. Mehrere Kanonisten bestätigen unabhängig voneinander, dass die Nichteinhaltung der Meldepflicht nach Rom durch den Offizial und Bischof Gmür «eine schwerwiegende Pflichtverletzung» war.

Seit 2001 gilt: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen ausnahmslos nach Rom gemeldet werden.
Seit 2001 gilt: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen ausnahmslos nach Rom gemeldet werden.

Ausserdem wurden in der Voruntersuchung grotesk anmutende Verfahrensfehler gemacht. «Es scheint, als wären Verfahrensregeln, welche für das eigentliche Strafverfahren beziehungsweise nur in einem Ehenichtigkeitsverfahren gelten, auf die Voruntersuchung angewendet worden», erklärt ein Kirchenrechtler, der anonym bleiben will. «Es wurden von Frau Nussbaumer völlig unsinnige Dinge verlangt», sagt er weiter.

Im Kleingedruckten des Kirchenrechts

Die gröbsten Verfahrensfehler betreffen die vom damals zuständigen Offizial geforderte Beglaubigung der eingereichten Dokumente, sowie die Einstellung der Untersuchung, als eine direkte Reaktion von Seiten Frau Nussbaumers ausblieb. Beides sind Prozeduren aus dem kirchlichen Ehenichtigkeitsverfahren, nicht aus dem Strafrechtsverfahren.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

In einem Strafrechtsverfahren ist beides unnötig. «Tatsächlich hat die meldende Person in der Voruntersuchung keinerlei Verpflichtung», sagt der Experte. Im Gegenteil: Wegen der unbedingten Meldepflicht bei Missbrauchsfällen, die Minderjährige betreffen, hätten die gesamten Akten umgehend zur weiteren Beurteilung an das Dikasterium für die Glaubenslehre gesandt werden müssen. Dieses prüft dann, ob ein kirchliches Strafverfahren einzuleiten ist.

Gewurstel im Bistum

Bischof Felix Gmür hat in seiner Stellungnahme Verfahrensfehler eingeräumt. Aber der Bischof und sein Offizial hätten dies alles lange wissen müssen. Die beschriebene Prozedur gilt seit 2001. Allerdings, nicht jeder Bischof ist Kirchenrechtler. Aber jeder Bischof kann einen Spezialisten zu Missbrauch und Kirchenstrafrecht um Rat fragen.

Die barocke St. Ursen-Kathedrale in Solothurn.
Die barocke St. Ursen-Kathedrale in Solothurn.

Felix Gmür hätte auch einen Experten mit der Voruntersuchung betrauen können. Denn das sieht das Kirchenrecht vor: Ein Bischof muss die Voruntersuchung nicht an den Offizial geben. Er kann einen anderen Kirchenrechtler damit beauftragen. Im Fall Nussbaumer wäre dies allein wegen der im Bistum bekannten Kritik am Offizial angebracht gewesen.

Tatsächlich empfiehlt das offizielle «Vademecum» des Dikasteriums für die Glaubenslehre sogar, den Offizial nicht mit einer Voruntersuchung zu beauftragen. Der Grund für die Empfehlung ist das Rollenproblem des Offizials. Der Leiter der Voruntersuchung kommt «im Falle eines Strafverfahrens nicht mehr als Richter in Frage», erklärt ein Kirchenrechtler.

Spezialist im Nachbarbistum

Ein ausgewiesener Spezialist im Bereich Strafrecht ist Stefan Loppacher. Er hat in dem Bereich 2017 doktoriert. Bereits im ersten Kapitel seiner Dissertation behandelt Loppacher die seit 2001 geltende Meldepflicht. Dort schreibt er, dass der Ortsbischof verpflichtet sei, jeder Missbrauchsmeldung nachzugehen. Loppacher erklärt, dass diese Pflicht bei Verdacht auf eine Sexualstraftat eines Klerikers gegenüber Minderjährigen aus zwei Schritten besteht: einer Ermittlungs- und einer Meldepflicht.

Stefan Loppacher ist promovierter Kirchenrechtler. Spezialgebiet: Missbrauch und Strafrecht.
Stefan Loppacher ist promovierter Kirchenrechtler. Spezialgebiet: Missbrauch und Strafrecht.

Der Bischof muss also zwingend eine Voruntersuchung eröffnen. Und er ist in jedem Fall verpflichtet, die Ermittlungsakten zur weiteren Beurteilung an das Dikasterium für die Glaubenslehre zu senden. Damit ist die Strafverfolgung in solchen Fällen obligatorisch und es liegt nicht im Ermessen des Bischofs, ob er Ermittlungen einleitet und diese nach Rom meldet. Das Kirchenrecht verpflichtet ihn dazu.

Fehlinformation in SBK-Richtlinien

Nach aktuellem Stand scheinen sich weder der damals zuständige Offizial, noch Bischof Felix Gmür dieser klaren Regelung bewusst gewesen zu sein. Auch die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz werfen Fragen auf. Die Richtlinien zu «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» sind eine Zusammenfassung des geltenden Kirchenrechts und sollen den Verantwortlichen als kirchenrechtliche Orientierung dienen. Allerdings enthalten just die Richtlinien falsche – oder, wenn man es wohlwollender ausdrücken möchte, äussert missverständlich formulierte Informationen zur Meldepflicht.

Kapitel 5 der Richtlinien behandelt "adäquates Vorgehen". 5.2.7 informiert, welche Delikte nach Rom gemeldet werden müssen.
Kapitel 5 der Richtlinien behandelt "adäquates Vorgehen". 5.2.7 informiert, welche Delikte nach Rom gemeldet werden müssen.

Dort heisst es: «Falls sich demzufolge nach der entsprechenden Voruntersuchung die Anschuldigung eines sexuellen Übergriffes an Minderjährigen als glaubwürdig erweist, muss der Fall an die Glaubenskongregation übermittelt werden.» Die Richtlinien suggerieren einen Ermessensspielraum des Bischofs. Denn nur «falls» dieser die Anschuldigungen für glaubwürdig hält, müsse er diese nach Rom übermitteln. Das ist nachweislich falsch.

Konfrontation der SBK

Die Richtlinien der SBK stammen aus dem Frühjahr 2019. Der Passus war bereits damals inkorrekt. Zusätzlich hat Papst Franziskus mit dem Motu Proprio «Vos estis lux mundi» vom Mai 2019  das Kirchenrecht in dieser Frage und nochmals im Mai 2023 präzisiert. Keine der beiden päpstlichen Erlasse scheint für die SBK Anlass gewesen zu sein, nochmals über die Richtlinien zu gehen und den Fehler zu korrigieren.

Davide Pesenti ist Generalsekretär der SBK.
Davide Pesenti ist Generalsekretär der SBK.

Nach Rücksprache mit Experten, kontaktiert kath.ch die SBK. Der Generalsekretär der Schweizer Bischofskonferenz, Davide Pesenti, schreibt: Die «Richtlinien können nicht jährlich angepasst werden». Und er versichert: «Bei der künftigen Bearbeitung dieses Dokumentes werden die neuen Vorgaben (aus Rom) selbstverständlich berücksichtigt und eingearbeitet.» Ob und wann diese Überarbeitung geplant ist, erwähnt Pesenti nicht.

Bezüglich der Meldepflicht versichert Pesenti, «dass den Mitgliedern der SBK und ihren Mitarbeitenden in den Bistümern bewusst ist, dass in solchen Fällen eine Meldepflicht an das Dikasterium für die Glaubenslehre besteht.» Eine Rückfrage, was die SBK zu tun gedenke, da dieses Wissen offensichtlich nicht zu allen Offizialen durchgedrungen ist, bleibt unbeantwortet.

Strukturelle Probleme angehen

In weniger als drei Wochen wird die nationale Vorstudie zu Missbrauch im kirchlichen Umfeld veröffentlicht. Die Auftraggeber der Studie sind neben den Landeskirchen und den Vereinigten Orden auch die Bischöfe. Gerade auch vor diesem Hintergrund verstört der Skandal im Bistum Basel besonders.

Natürlich würde man auch ohne Studie erwarten, dass Offiziale und Bischöfe geltendes Kirchenrecht kennen und anwenden. Man würde erwarten, dass die Bischöfe nur adäquate Offiziale mit Fallführung betrauen – oder einen externen Kirchenrechtler damit beauftragen. Der damals im Bistum Basel zuständige Offizial war für diese Aufgabe offensichtlich ungeeignet. Das zeigen nicht nur die von ihm gemachten Verfahrensfehler, sondern auch die Beschwerden über ihn, sowie der Umstand, dass er sich weiterhin uneinsichtig gibt. Schliesslich würde man erwarten, dass die offiziellen Richtlinien der Bischofskonferenz das Kirchenrecht korrekt und unmissverständlich zusammenfassen.

Dass dem nicht so ist, zeigt strukturelle Probleme in der Kirche auf, die über den Fall Nussbaumer hinausgehen. Es zeigt einen systemischen Dilettantismus, der selbst in den Führungsebenen zu herrschen scheint. Und es zeigt, dass ein Agieren nach «bestem Wissen und Gewissen» wenig wert ist, solange Verantwortungsträger es versäumen, sich und die Strukturen zu hinterfragen und zu ändern. Ohne Ausreden.

*Denise Nussbaumer ist ein Pseudonym, das zuerst vom «Beobachter» verwendet wurde. Dieser Name wird auch in der Berichterstattung von kath.ch verwendet.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene ist hier zu finden.

Für eine unabhängige Beratung ist die «Opferhilfe Schweiz» zu empfehlen.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Bischof Felix Gmür wendet sich scheinbar ungerne an Rom. | © Vera Rüttimann
25. August 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 7 Min.
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