Schweiz

Zeno Cavigelli: «Im Gebilde der Kirche sind die Bischöfe eigentlich die Überflüssigsten»

Der frühere Zürcher Synodalrat Zeno Cavigelli fordert: Die Kantonalkirchen «müssen den Druck auf die Bischöfe wagen» und die Forderungen der RKZ vollumfänglich unterstützen. Im Alltag der Kirchgemeinden spielten Bischöfe und Priester vielfach «kaum eine Rolle». Man solle dem Wohl der Menschen dienen, nicht dem der Bischöfe.

Annalena Müller

Herr Cavigelli, kuscht die Zürcher Kantonalkirche vor den Bischöfen?

Zeno Cavigelli*: Ich befürchte es. Einfach weil man das angenehme Miteinander zwischen Synodalrat und Bistumsführung nicht riskieren will. Man ist es gewohnt, freundlich miteinander zu sprechen und sich ansonsten weitgehend in Ruhe zu lassen.

«Das Miteinander zwischen Kantonalkirchen und Bischöfen funktioniert bei gutem Wetter.»

Die Zürcher Kantonalkirche scheut den Konflikt mit Chur?

Cavigelli: Ja, das tut sie. Traditionell ist es so, dass sich die Kantonalkirche möglichst wenig in Fragen einmischt, die das Theologische berühren. Aber wenn wir über strukturelle und kulturelle Reformen sprechen, wird es irgendwann zwangsläufig theologisch. Jetzt muss man sich entscheiden, ob man diese Fragen wirklich, wie bisher, den Bischöfen überlassen will und kann.

Der Zürcher Synodalratspräsident Raphael Meyer.
Der Zürcher Synodalratspräsident Raphael Meyer.

Das duale System der Schweiz erlaubt es nicht-geweihten Personen, Einfluss auf die Bischöfe zu nehmen. Warum nutzt man diese Chance nicht?

Cavigelli: Ich denke, Synodalratspräsident Raphael Meyer würde Ihnen widersprechen und sagen: «Jetzt haben wir doch aufgedreht!» Aber ich frage mich, wohin solche Klein-Massnahmen, wie die Einführung des «Grünen Buttons», führen können, wenn man vor den strukturübergreifenden Schritten zurückschreckt…

Sie meinen, wenn man keine konkreten Forderungen an die Bischöfe stellt?

Cavigelli: Genau. Das gute Miteinander zwischen Kantonalkirchen und Bischöfen funktioniert bei gutem Wetter. Sobald es um grössere Schritte geht, wird die Hilflosigkeit deutlich. Am 19. September gab es die sehr klare Ansage vom Präsidium der RKZ im «SRF-Club», gesendet in alle Schweizer Stuben. Und was ist die Reaktion auf kantonalkirchlicher Ebene? Man rudert zurück: Irgendwie möchte man doch nicht so einen Druck machen. Eigentlich hat man es ja gut mit dem Bischof und man möchten ihn nicht noch mehr stressen.

Über den «Grünen Button» können Missbrauchsbetroffene anonym Meldung machen.
Über den «Grünen Button» können Missbrauchsbetroffene anonym Meldung machen.

Diese Rücksichtnahme klingt so, als hätte die RKZ radikale Forderungen gestellt. Aber sie fordert ja nur naheliegende Dinge: Dass die geplanten Reformmassnahmen wie Meldestelle und Gericht durch externe Kontrollmechanismen abgesichert werden…

Cavigelli: Ja, aber sie fordert damit eben ein Einmischen der Kantonalkirchen in die traditionellen Bereiche der Bischöfe.

Haben Studie und die Vertuschungsskandale der letzten Wochen nicht ausreichend belegt, dass die Bischöfe es nicht alleine hinbekommen? Nochmal: Warum scheuen die Kantonalkirchen ihre Macht?

«Solche Aussagen grenzen an Entmündigung der Kirchenmitglieder.»

Cavigelli: Ich kann nur mutmassen. Ich war selbst zwölf Jahre Synodalrat und von daher kenne ich diese Kultur, in der man die Themen lieber den anderen überlassen möchte. Und scheinbar ist auch das Vertrauen weiterhin sehr gross, dass ein Bischof etwas ändern kann und will. Schliesslich muss man auch einfach sagen, dass viele Leute in der Kirche wenig konfliktfreudig sind.

Muss man den Konflikt nicht wagen, wenn man Veränderung will? Ein konkretes Beispiel wäre die Streit-Frage um Kompetenzen der nationalen Meldestelle. Durch Druck der RKZ und der Medien hat sich Bischof Joseph-Maria Bonnemain von der Verweigerung jeglicher Kontrollkompetenzen innert einer Woche dahin bewegt, dass er sie nicht mehr ausschliesst

Cavigelli: Ja, man muss den Druck auf die Bischöfe wagen. Ich staune darüber, dass, soviel ich weiss, bis jetzt kein einziges unsere Kirchenparlamente eine Versammlung einberufen hat. Unsere Synode hier in Zürich könnte ja sagen: Es ist eine Katastrophe, was wir am zwölften September erfahren haben. Wir treffen uns im Rathaus und wir diskutieren darüber.

«Auf der einen Seite brodelt es im Volk. Das merken wir bei den explodierenden Austrittszahlen. Auf der anderen Seite agieren unsere gewählten Instanzen wie gelähmt.»

Aber nein. Man überlässt das Thema dem Synodalrat. Der aber ist in seinen exekutiven Aufgaben gefangen und traut sich nicht, Bischof Bonnemain herauszufordern. Es ist paradox: Auf der einen Seite brodelt es im Volk. Das merken wir bei den explodierenden Austrittszahlen. Und auf der anderen Seite agieren unsere gewählten Instanzen wie gelähmt.

In konservativen Kreisen heisst es zu den Austrittszahlen, dass die Leute Steuern sparen wollen...

Cavigelli: Das ist doch Unsinn. Die Menschen zahlen die Kirchensteuer nicht erst seit gestern und sie sind sich auch nicht erst seit gestern bewusst, dass sie sie zahlen. Solche Aussagen grenzen an Entmündigung der Kirchenmitglieder.

Zeno Cavigelli wünscht sich mehr Druck auf Joseph-Maria Bonnemain. Aufnahme von der Podiumsdiskussion zum Thema Missbrauch im kirchlichen Umfeld.
Zeno Cavigelli wünscht sich mehr Druck auf Joseph-Maria Bonnemain. Aufnahme von der Podiumsdiskussion zum Thema Missbrauch im kirchlichen Umfeld.

Dass es nicht um Geldsparen geht, suggeriert auch der Fall Adligenswil LU. Seit die Kirchgemeinde die Steuergelder auf ein Sperrkonto und nicht mehr ans Bistum Basel zahlt, sind die Austrittszahlen deutlich zurückgegangen.

Cavigelli: Das ist spannend, oder? Denn ich finde es eigentlich doof, was sie dort machen. Aber die Wirkung lässt tief blicken. Für mich zeigt dies: Es gibt kein Misstrauen gegen Kirche, sondern ein Misstrauen gegen die Bischöfe.

Welche Erfahrungen machen Sie in Volketswil ZH?

Cavigelli: Bei unseren Kirchenaustritten habe ich bisher nur wenige Begründungen bekommen. Eine Frau hat mir zurückgemeldet: «Wenn ich meine Enkel anschaue, dann überkommt mich das Heulen». Eine andere hat mir erzählt, dass sie selbst vor 22 Jahren verletzt wurde. Für mich zeigt das, dass diese Frau eigentlich wirklich in der Kirche sein möchte, wenn die Wunde noch immer eine Rolle spielt nach 22 Jahren und wenn der Austritt erst jetzt erfolgt, weil sie das Gefühl hat, es tue sich nichts.

«Bischöfe sind insofern überflüssig, weil sie in Rom nichts zu sagen haben.»

Während die Kantonalkirchen weiter auf die Bischöfe hoffen wollen, was können die Gemeinden tun?

Cavigelli: Ich hatte letzten Sonntag ein Erweckungserlebnis als ich den Gottesdienst in Greifensee ZH vorbereitet habe. In meiner Predigt sollte es um das Gleichnis vom Hochzeitsfest im Matthäusevangelium gehen. Dort gibt es diese sehr schwierige Stelle, in der es heisst: «Denn viele sind eingeladen, aber nur wenige sind auserwählt.» (Mt 22,14.) Eigentlich ist dieser Satz schrecklich, denn er schliesst die Mehrheit vom Heil aus. Und ich frage mich, ob das nicht spiritueller Missbrauch ist, wenn allein die «Auserwählten» entscheiden.

Mit anderen Worten, man sollte die Bischöfe abschaffen und Entscheidungen den Gemeinden direkt überlassen?

Cavigelli: Das habe ich auch schon gedacht. Also weil, im ganzen Gebilde der Kirche sind die Bischöfe eigentlich die Überflüssigsten.

In der aktuellen Kirchenstruktur sind Bischöfe überflüssig, findet Zeno Cavigelli.
In der aktuellen Kirchenstruktur sind Bischöfe überflüssig, findet Zeno Cavigelli.

Inwiefern?

Cavigelli: Bischöfe sind insofern überflüssig, weil sie in Rom nichts zu sagen haben. Sie kommen jeweils im Oktober in Rom zusammen und schwatzen ein paar Wochen miteinander, und dann gehen sie wieder nach Hause und es geschieht: Nichts. Denken Sie doch mal an die Amazonasbischöfe. Was haben sie sich ins Zeug gelegt! Was hat es genützt? Nichts.

Huldrych Zwingli hätte grosse Freude an Ihren Worten.

Cavigelli: (lacht) Also, ich fände Bischöfe schon gut, wenn sie etwas bewirken könnten. Aber das können sie weder gegenüber Rom, noch uns gegenüber, beziehungsweise in ihren Bistümern. Zuhause machen sie nichts, vielleicht weil sie sich nicht trauen, etwas zu tun, was ihr Peer nicht auch tut. Also, der Nachbarbischof oder auch der Bischof in Texas, der ihnen dann böse Mails schreibt, wenn sie ausscheren. Also verharren sie im Nichtstun. Und für die Gemeinden spielen die Bischöfe auch kaum eine Rolle. Wir haben andere Probleme – und im Alltag wenige Berührungspunkte mit dem Bischof.

«Es ist Realität, dass es auf der Ebene der Gemeinde oft seit langem ohne Priester an der Spitze geht»

Aber mit Priestern ja schon – ist ein Bischof nicht auch einfach ein Ober-Priester?

Cavigelli: Selbst mit Priestern haben wir immer weniger zu tun. Das ist schlicht eine Realität, die sich aus dem seit Jahrzehnten andauernden Priestermangel ergibt. Wir Kirchgemeinden haben uns arrangieren müssen. Das geschieht unterschiedlich. Aber ich finde das Modell von Greifensee zum Beispiel gut.

Wie sieht das aus?

Cavigelli: Die Kirchgemeinde hat vor kurzem einen Priester mit einem Pensum von 5 Prozent angestellt…

Das heisst, er kommt einmal im Monat und zelebriert die Eucharistie?

Cavigelli: So ungefähr, ja. Den Alltag organisiert die Gemeinde unabhängig – Seelsorge und Wortgottesdienste, die man auf partizipative Art und Weise nach den Bedürfnissen vor Ort gestaltet. Es muss nicht überall so laufen. Aber es ist schlicht Realität, dass es auf der Ebene der Gemeinde, also der Gläubigen, oft seit langem ohne Priester an der Spitze geht. Schlicht, weil es ohne Priester gehen musste. Aber man hat sich mittlerweile dran gewöhnt und festgestellt: Es geht gut ohne Priester.

Der Gemeinde Greifensee ZH reicht ein Priester mit fünf Stellenprozenten. Den Rest machen sie selbst.
Der Gemeinde Greifensee ZH reicht ein Priester mit fünf Stellenprozenten. Den Rest machen sie selbst.

Sie beobachten also eine Entfremdung zwischen den Menschen, die Kirche sind, und den Klerikern, denen im katholischen Selbstverständnis eine zentrale Rolle zukommt?

Cavigelli: Absolut. Für mich ist das Interview, das Bischof Felix Gmür Ende September in «Horizonte» gegeben hat, ein Schlüsseltext. Sowohl zum Verständnis der bischöflich-klerikalen Selbstwahrnehmung, als auch der Entfremdung in Bezug auf gelebte Kirche.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Cavigelli: In dem Gespräch sagt Gmür: «Wenn wir die Weihe abschaffen, dann sind wir nicht mehr römisch-katholisch.» Wirklich? Nur eine verschwindend geringe Minderheit der katholischen Gläubigen ist geweiht.

«Es kann doch nicht sein, dass die Existenz des einen Prozent das gesamte Katholischsein definieren soll.»

Circa ein Prozent, glaube ich …

Cavigelli: Eben! Es kann doch nicht sein, dass die Existenz des einen Prozent das gesamte Katholischsein definieren soll. Aber dies scheint noch immer das Verständnis der Bischöfe zu sein, selbst der progressiven wie Felix Gmür. Deshalb habe ich Zweifel, dass das Vertrauen, welches die Zürcher Kantonalkirche den Bischöfen entgegenbringt, gerechtfertigt ist. Also, dass man ohne Druck und Konflikt zu einem Kultur- und Strukturwandel kommen wird. Davon scheinen mir die Bischöfe weit entfernt.

*Zeno Cavigelli (Jahrgang 1955) ist promovierter Pastoraltheologe und pensionierter Seelsorger in Volketswil ZH. Er war zwischen 2007 und 2019 Synodalrat der Katholischen Kirche Zürich. Cavigelli gehört aktuell zu den vehementesten Kritikern des zögernden Kurses des Zürcher Synodalrats in der Missbrauchskrise und fordert eine Unterstützung der Politik der RKZ durch die Kantonalkirchen.


| © Annalena Müller
20. Oktober 2023 | 12:00
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