Angesichts der Missbrauchskrise treten viele aus der katholischen und der reformierten Kirche aus.
Schweiz

Nach Missbrauchsstudie: Austritte erschüttern die Kirchenlandschaft

Derzeit findet ein Massenexodus aus der katholischen Kirche statt. Im Kanton Aargau zeigt eine Momentaufnahme: Die Austritte haben sich mehr als vervierfacht im Vergleich zum September des vergangenen Jahres. In einer Kirchgemeinde sind es sogar 21 Mal mehr. Betroffen von der Austrittswelle ist aber die ganze Deutschschweiz.

Barbara Ludwig

Seit Tagen berichten die Medien über massive Austrittszahlen in der römisch-katholischen Kirche. Unzählige Menschen haben nach der Veröffentlichung der Pilotstudie zum Missbrauch vor drei Wochen beschlossen, die Kirche zu verlassen. 

Vergleich mit Vorjahresmonat im Aargau

Die römisch-katholische Landeskirche des Kantons Aargau will es genau wissen. Sie hat deshalb diese Woche eine Umfrage unter den Aargauer Kirchgemeinden gestartet. Das teilt die Kommunikationsbeauftragte Jeannette Häsler Daffré kath.ch auf Anfrage mit. Zurzeit erfasst die Landeskirche die Zahl der Austritte im September 2023 und 2022 in ihren 96 Kirchgemeinden, die noch laufend Zahlen liefern.

Jeannette Häsler, Kommunikationsbeauftragte Römisch-Katholische Kirche im Aargau.
Jeannette Häsler, Kommunikationsbeauftragte Römisch-Katholische Kirche im Aargau.

Austritte mehr als vervierfacht

Die vorläufige Übersicht, die kath.ch vorliegt, zeigt einen klaren Trend nach oben. Gesamthaft stehen im katholischen Aargau 1198 Austritten im September 2023 270 Austritten im Vorjahresmonat gegenüber, also 4,4 Mal mehr. Die Zunahme der Austritte fällt in den einzelnen Kirchgemeinden jedoch unterschiedlich stark aus.

In Wohlen zum Beispiel steigt die Kurve exponentiell an: Letzten September sind dort bloss 3 Personen ausgetreten. Diesen September waren es 64 Personen. Das sind 21 mal mehr als im Vorjahresmonat. In Oberwil-Lieli (22 gegenüber 2) und Rheinfelden-Magden-Olsberg (38 gegenüber 3) sind jeweils zwölf Mal mehr Personen ausgetreten. Auch Zofingen verzeichnet eine starke Zunahme. Dort haben der Kirche fast neun Mal mehr Mitglieder den Rücken gekehrt: 107 waren es diesen September, im Vorjahresmonat nur 12.

Orte ohne Austritte dürften Ausnahme bleiben

Jeannette Häsler Daffré stellt fest, dass der Aderlass in urbaneren Gebieten stärker ist. Sie hat den Eindruck, dass das Wirken der Kirche in der Seelsorge, die Gottesdienste, der kirchliche Sozialdienst und die Jugendarbeit von Jungwacht und Blauring in ländlichen Gebieten stärker wahrgenommen und geschätzt werden.

Baden AG mit Blick auf die Stadtkirche Maria Himmelfahrt (l).
Baden AG mit Blick auf die Stadtkirche Maria Himmelfahrt (l).

Einige Aargauer Kirchgemeinden hatten im September des letzten Jahres keinen einzigen Austritt zu beklagen. Was den September 2023 betrifft, dürften solche Kirchgemeinden eine Ausnahme bleiben. Im Moment stehen auf der Liste nur zwei Kirchgemeinden mit Null Austritten: Es ist Aristau im Reusstal und das ebenfalls ländlich geprägte Baldigen-Böbikon auf dem Gebiet der Gemeinde Zurzach.

«Markante» Zunahme im Thurgau

Die katholische Landeskirche im Thurgau kann zurzeit keine genauen Zahlen liefern. Es sei aber «vorgesehen, dass wir Ende Oktober bei den Kirchgemeinden im Thurgau nachfragen», teilte Manuel Bilgeri von der Fachstelle Kommunikation auf Anfrage mit. Man höre aus «diversen» Kirchgemeinden, dass die Kirchenaustritte seit dem 12. September «markant» gestiegen seien, so Bilgeri.

Die Stadtkirche in Frauenfeld.
Die Stadtkirche in Frauenfeld.

Das Gebiet der Kirchgemeinde Frauenfeld-Plus umfasst zehn politische Gemeinden rund um Frauenfeld mit rund 11’700 Kirchbürgerinnen und -bürgern (Ende 2022). Seit der Publikation der Pilotstudie seien 111 Personen aus der Kirche ausgetreten, teilt Marcel Berger, Kirchgemeindepräsident, mit. Das seien knapp ein Prozent der Kirchbürgerinnen und -bürger. Im vergangenen Jahr haben in Frauenfeld und Umgebung total 257 Personen die Kirche verlassen.

«Wir werden dieses Jahr eine Rekordzahl von Austritten verzeichnen.»

Marcel Berger, Kirchgemeindepräsident in Frauenfeld

«Wir werden dieses Jahr eine Rekordzahl von Austritten verzeichnen», vermutet Berger. Er erwarte einen ersten Höhepunkt mit der Publikation der Studie und einen weiteren gegen Ende Jahr. Zu einer Häufung von Austritten gegen Jahresende kommt es laut Berger nämlich in jedem Jahr. Der Kirchgemeindepräsident betont, dass Kirchenaustritte übers Jahr nicht linear erfolgen.

Die Kirchgemeinde Kreuzlingen-Emmishofen zählte Ende 2022 rund 8200 Mitglieder. Seit dem 12. September sind dort bislang 52 Personen ausgetreten, wie Simon Tobler auf Anfrage mitteilt. Tobel ist Leiter Verwaltung der Thurgauer Kirchgemeinde. Sechs Personen hätten die Berichterstattung über die Pilotstudie als Grund für ihren Entscheid genannt. In einem Zeitraum von drei Wochen würden normalerweise zwischen 10 und 15 Personen aus der Kirche austreten.

Über 700 Austritte in vier Zürcher Kirchgemeinden

Laut Medienberichten haben auch in anderen Regionen viele Menschen der Kirche den Rücken gekehrt. So sind in der Stadt St. Gallen laut Recherchen von SRF innerhalb von zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Studie 120 Personen ausgetreten, fünf Mal mehr als sonst im gleichen Zeitraum.

Katholische Kirche "St. Peter und Paul" in Winterthur.
Katholische Kirche "St. Peter und Paul" in Winterthur.

Die «Tageschau» von SRF präsentierte am Sonntag auch Zahlen für die Stadt Luzern. Dort sind demnach 160 Personen ausgetreten, sechs Mal mehr als normalerweise. In Basel-Stadt waren es 140, fünf Mal mehr als sonst. Der Kanton Schwyz zählte 70 und der Kanton Nidwalden 35 Austritte.

Im Kanton Zürich traten laut SRF in den vier grössten Kirchgemeinden Zürich, Winterthur, Uster und Dübendorf über 700 Personen aus. Das seien so viele wie normalerweise in drei Monaten.

Adligenswil hat Austrittswelle gebrochen

Die Luzerner Kirchgemeinde hat jüngst für Schlagzeilen gesorgt. Deren Kirchenrat hat als erste lokale Kirchenbehörde im Kanton einen Stopp der Kirchensteuern ans Bistum Basel beschlossen. Diese Massnahme habe sich positiv auf die Austrittsquote ausgewirkt, sagte Mirjam Meyer gegenüber der «Urner Zeitung» vom Dienstag. Als der Missbrauchsskandal Mitte September bekannt wurde, habe die Kirchgemeinde Adligenswil innert einer Woche 37 Austritte verzeichnet, heisst es in dem Bericht. Seit die Kirchgemeinde ihren Zahlungsstopp publik gemacht habe, seien nur noch elf Personen ausgetreten. (bal)


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5. Oktober 2023 | 17:00
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