In der aktuellen Kirchenstruktur sind Bischöfe überflüssig, findet Zeno Cavigelli.
Analyse

Kirche in Katerstimmung: Ohne Systemveränderung bleiben die Probleme

Die Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch und die jüngsten Vertuschungsvorwürfe an Bischöfe zeigen: Die Kirche hat systemische Probleme, die nicht der Vergangenheit angehören. Die von Bischof Bonnemain angekündigten Massnahmen greifen zu kurz. Es braucht Veränderungen am System. Eine Analyse.

Annalena Müller

In der katholischen Kirche herrscht Katerstimmung. Sicher, niemand hat erwartet, dass die Kirche nach der Pilotstudie gut dastehen würde. Dennoch sind die Erkenntnisse dieser Woche ernüchternd. Zusätzlich zeigen journalistische Veröffentlichungen der vergangenen Wochen, dass Missbrauch und Missbrauchsvertuschung nicht der Vergangenheit angehören. Sie sind Teil der kirchlichen Gegenwart.

Probleme der Gegenwart

Wäre am Dienstag «nur» die Studie veröffentlicht worden, vielleicht hätte sich die katholische Öffentlichkeit in die Hoffnung fliehen können, dass das Schlimmste hinter ihr liegt. Schliesslich zeigt die Studie Verbesserungen seit 2002. Dazu gehören die institutionelle Anerkennung der Missbrauchskrise und die Einrichtung diözesaner Meldestellen, der sogenannten Fachgremien.

Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.
Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.

Aber neben der Studie haben Reportagen des «Beobachter», «kath.ch» und «SonntagsBlick» gezeigt: Die strukturellen Probleme der Kirche sind gegenwärtig; die diözesanen Meldestellen sind bis heute zahnlos. In St. Gallen reagierten weder Bischof Fürer noch Bischof Büchel auf wiederholte Handlungsaufforderungen durch die Fachgremien der Diözesen und der SBK. Im Fall Nussbaumer hat kath.ch gezeigt, dass Bischof Gmür und sein Offizialat die Meldepflicht nach Rom ignorierten, obwohl das Fachgremium darum wusste.

Fünf von sechs

Ein Blick in Ränge der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) bezeugt die Aktualität der Kirchenkrise. Fünf der sechs amtierenden Bischöfe sehen sich mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert. Gegen drei führt der vatikanische Sonderermittler, Bischof Joseph Bonnemain (75), selbst Mitglied der SBK, eine Voruntersuchung. Mit Jean Scarcella (71), Abt der Territorialabtei Saint-Maurice, legte am Mittwochmorgen ein SBK-Mitglied sein Amt vorrübergehend nieder. Scarcella wird des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Auch gegen ihn ermittelt Bischof Bonnemain.

Abt Jean Scarcella von Saint-Maurice lässt sein Amt bis zum Abschluss der Voruntersuchung ruhen.
Abt Jean Scarcella von Saint-Maurice lässt sein Amt bis zum Abschluss der Voruntersuchung ruhen.

Für alle Personen gilt die Unschuldsvermutung. Trotzdem zeigen die Zahlen: Das Thema Missbrauch und bischöfliche Vertuschung durch Nichtagieren ist kirchliche Gegenwart. Diese Gegenwart muss bei der Einordnung der am Dienstag vorgestellten Massnahmen berücksichtigt werden.

Vier Massnahmen

Joseph Bonnemain ist Hauptverantwortlicher des Fachgremiums «Missbrauch im kirchlichen Umfeld» der SBK. Auf der Pressekonferenz am Dienstag sass er in dieser Funktion auf dem Podium und stellte vier Sofortmassnahmen zur Missbrauchsbekämpfung vor.

Bischof Joseph Maria Bonnemain.
Bischof Joseph Maria Bonnemain.

Erstens kommt die lang geforderte, unabhängige nationale Meldestelle. Zweitens müssen sich alle Personen, die künftig in der Seelsorge wirken wollen, einem psychologischen Eignungstests unterziehen. Drittens soll die Personalführung professionalisiert und viertens die periodische Aktenvernichtung per sofort sistiert werden. Dazu haben die Schweizer Bischöfe eine Selbsterklärung unterzeichnet.

Diese Massnahmen sind alle wichtig und lange überfällig. Ob sie etwas bewirken, kann hingegen bezweifelt werden. Denn keine der Massnahmen greift in die Strukturen ein, die Missbrauch und Vertuschung begünstigen.

Eignungstest ohne Kandidaten

Es fehlen weiterhin Kontrollmechanismen. Zum Beispiel bei den psychologischen Tests. Diese müssen schliesslich nicht nur absolviert, sondern die Resultate auch ernstgenommen werden. Und das wiederum hängt von den Personen ab, die über die Aufnahme von Priesteramtskandidaten entscheiden. Und den Entscheidern schaut auch künftig kein externes Kontrollgremium auf die Finger.

In der Schweiz eine Seltenheit, in Nigeria zahlreich: Priesteramtskandidaten in Kaduna
In der Schweiz eine Seltenheit, in Nigeria zahlreich: Priesteramtskandidaten in Kaduna

Die Kirche ist in einer schwierigen Lage, plagen sie doch massive Nachwuchsprobleme. Würden die Tests ernst genommen und Seelsorgende abgelehnt, müsste die Kirche vermehrt auf ausländische Priester zurückgreifen. Diese wiederum stammen oft aus Ländern, in denen «ein traditionellerer Katholizismus gepflegt wird als in der Schweiz», sagte SRF-Religionsexpertin Nicole Freudiger im «Echo der Zeit». Dort äusserte sie ihre Zweifel an der Wirkung der Massnahme.

Meldestellen ohne Befugnisse

Auch die zweite grosse Massnahme, die nationale Meldestelle, riskiert ein Papiertiger zu sein. Denn Meldungen bei einer Anlaufstelle oder einem Fachgremium führen nicht automatisch zu kirchenrechtlichen Untersuchungen. Das zeigt sowohl der Fall um Denise Nussbaumer im Bistum Basel als auch der Fall E. M. im Bistum St. Gallen.

Die Bischöfe Markus Büchel (links) und Felix Gmür stehen derzeit in Kritik.
Die Bischöfe Markus Büchel (links) und Felix Gmür stehen derzeit in Kritik.

In beiden Fällen wussten die zuständigen Fachgremien, dass ein Handeln durch die Bischöfe Gmür und Fürer, beziehungsweise Büchel, notwendig und eine Meldung in Rom zwingend ist. Aber in keinem der Fälle wurde der Aufforderung Folge geleistet. Erst kurz vor Aufdeckung durch den «Beobachter» meldete Gmür den Fall Nussbaumer nach Rom. Und St. Gallen leitete am 05.09., also dem Tag, an dem die Studie den Medien und der Bischofskonferenz zugänglich gemacht wurde, eine Voruntersuchung ein. 21 Jahren nach der ersten Meldung beim Fachgremium.

Die nationale Meldestelle wird vor dem gleichen Problem stehen wie die diözesanen Fachgremien. Sie kann lediglich Meldungen entgegennehmen. Aber sie kann nicht sicherstellen, dass daraus auch Taten auf Seiten der Kirche folgen. Dies bestätigt Joseph Bonnemain auf Anfrage von kath.ch. «Eine Meldestelle ist eine Meldestelle.» Weiter führt er aus: «Eine Meldestelle berät, aber entscheidet nicht über die weiteren Schritte. Sie verfügt auch nicht über Weisungsbefugnisse. Das gehört nicht zum Wesen einer Meldestelle.»

Druck von aussen

Mit dieser Definition hat Bischof Bonnemain recht. Just da liegt das Problem. Nicht nur das der Meldestelle, sondern aller Massnahmen. Sie justieren und polieren, aber sie tasten die Struktur nicht an. Das Justieren der bestehenden Struktur wird das Problem Missbrauch und Missbrauchsvertuschung nicht lösen. Das ist die unbequeme Wahrheit, welche die Vorstudie aufzeigt.

Ohne den Druck der Öffentlichkeit würde sich in der Kirche nichts ändern.
Ohne den Druck der Öffentlichkeit würde sich in der Kirche nichts ändern.

Die Vorstudie identifiziert den Druck von aussen – durch Betroffenenorganisationen und Medien – als Faktor, der die Kirchenoberen zum Handeln bewegt. Wie richtig diese Einschätzung ist, zeigen die mehrfach zitierten journalistischen Enthüllungen der vergangenen Wochen.

Öffentlicher Diskurs und kritische Auseinandersetzung führen zu Bewegung im System. Das gilt nicht nur für die Kirche, sondern allgemein. Aber just in diesem Bereich zeigt sich die Schweizer Kirche weiter uneinsichtig. Die Forderung von Vreni Peterer (62), Präsidentin der IG-MikU, nach Transparenz bei kirchenrechtlichen Untersuchungen blieb von Bischof Joseph Bonnemain unbeantwortet. Dabei würde Transparenz als fünfte Massnahme den anderen ein Mindestmass an Wirkung sichern. Ohne Transparenz riskieren alle Massnahmen, Politur zu bleiben.


In der aktuellen Kirchenstruktur sind Bischöfe überflüssig, findet Zeno Cavigelli. | © Laurent Crottet
15. September 2023 | 06:00
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