Martha und Maria Magdalena - zeitgenössische Kopie nach einem verlorenen Original Caravaggios um 1595/96.
Theologie konkret

Wieso Jesus die Jüngerinnen nicht als «Menschenfischerinnen» lockte

Christinnen und Christen haben unterschiedliche Berufungen. Das zeigte sich bereits bei jenen, die Jesus folgten. Denn nicht nur die zwölf Jünger begleiteten den Wanderprediger auf seinen Reisen, sondern auch Frauen. «Sie unterstützten Jesus und die Jünger mit ihrem Vermögen», heisst es bei Lukas.

Judith Rosen*

Seit Jahren leidet die katholische Kirche in Europa an einem Schwund geistlicher Berufungen. Einher geht diese Entwicklung mit einer besorgniserregenden Abnahme der Kirchenmitglieder. Wo kirchliches Leben verdorrt, tun sich Berufungen schwer. Über die Gründe und die Massnahmen für eine Trendumkehr wird heftig gestritten. Was bleibt, ist das Gebet. So hat Papst Franziskus in seiner diesjährigen Botschaft zum «Welttag des Gebets für geistliche Berufungen» auf die «Vielstimmigkeit der christlichen Berufungen» hingewiesen, «zu denen nicht nur das Priesteramt gehört».

Kaum bekannter Wanderprediger

Je düster die Zeiten scheinen, desto mehr Hoffnung und Mut sind gefragt. Ein Blick auf die ersten Berufungen in der Kirchengeschichte kann helfen, Kraft zu schöpfen. Der mögliche Einwand, die ersten Christen und Christinnen hätten sich leichter getan, weil sie Jesus leibhaftig begegnet seien, trägt nicht weit. Denn er verkennt, was es damals bedeutet hat, für einen kaum bekannten Wanderprediger, den die eigene Familie für verrückt hielt, Haus und Hof zu verlassen. Das gilt in besonderem Mass für die Frauen in der Jesusbewegung, deren Bestimmung die patriarchalische Tradition auf die Familie beschränkte.

Jesus predigt und lehrt unter den Menschen.
Jesus predigt und lehrt unter den Menschen.

Wer über Berufungen im Neuen Testament nachdenkt, hat meist vor Augen, wie Jesus am See Gennesaret die Brüderpaare Petrus und Andreas sowie Jakobus und Johannes zu seinen ersten Jüngern erwählt. Und die Jüngerinnen? Über sie fehlen so beeindruckende Berufungsgeschichten wie die am galiläischen Meer (Mk 1,16-20; Mt 4,18-20; Lk 5,1-11). Mit der aufregenden Aussicht, Menschenfischer zu werden, hat Jesus den vier Berufsfischern mit eigenem Boot und Tagelöhnern eine Art Vertrag angeboten und so auch ihrer unternehmerischen Mentalität entsprochen.

Frauen von Beginn an dabei

Die Ausrichtung der Evangelien auf männliche Berufungsgeschichten könnte den Eindruck erwecken, Jüngerinnen seien erst im Lauf von Jesu öffentlichem Wirken zu ihm gestossen. Lukas stellt jedoch klar, dass sie von Beginn an Zeuginnen waren: «Er wanderte von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf und verkündete das Evangelium vom Reich Gottes. Die Zwölf begleiteten ihn und auch einige Frauen, die von bösen Geistern und von Krankheiten geheilt worden waren.» Namentlich heraus hebt der Evangelist «Maria, genannt Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, Johanna, die Frau des Chuzas, eines Beamten des Herodes, Susanna und viele andere» (8,1-3).

Gemeindeleiterin Dorothee Becker leitet die Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus in Riehen BS, Juli 2021
Gemeindeleiterin Dorothee Becker leitet die Kommunionfeier in der Kirche St. Franziskus in Riehen BS, Juli 2021

Offensichtlich begleiteten den Rabbi aus Nazareth so viele Frauen, dass Lukas sie nicht verschweigen konnte. Er stellte die drei genannten Frauen den «Zwölf» an die Seite und ordnete sie ihnen gleich. Ihm war wichtig zu erklären, was die Frauen im Gefolge Jesu taten: «Sie unterstützten Jesus und die Jünger mit ihrem Vermögen.»

Unterstützung mit Geld und Taten

Man kann fast noch das Grummeln konservativer jüdischer Kreise hören. Waren doch «umherstreunende» Frauen, die ihre Familien und Kinder, aus welchen Gründen auch immer, verlassen hatten, per se verdächtig.  Eine finanzielle Unterstützung mochte hingegen noch angehen. In diesem Sinn hat die 2016 bei Herder erschienene Einheitsübersetzung der Bibel die griechische Vorlage interpretiert, wonach sie «ihnen dienten, mit dem, was sie hatten». Die offenere Formulierung schliesst auch praktische Hilfe ein.

Maria Magdalena, Johanna und Susanna belegen, dass die weibliche und männliche Jüngerschaft heterogen zusammengesetzt war. Als Ehefrau eines Hofbeamten gehörte Johanna der Oberschicht an. Dass sie Jesus und seine Anhänger mit Geld unter die Arme griff, liegt ebenso nahe wie das Einverständnis ihres Ehemanns. Er musste nicht nur die Spendenfreude seiner Frau tolerieren, sondern auch, dass sie mit einem Wanderprediger zumindest zeitweise durch Galiläa zog. Da Maria Magdalena und Susanna entgegen dem damaligen Brauch nicht durch einen Ehemann, Bruder oder Sohn definiert werden, lebten sie wohl zölibatär. Einen Witwenstand hätte Lukas erwähnt.

Anschluss nach Heilung

So interessant die lukanische Perikope auch ist, eine weibliche Berufungsgeschichte erzählt sie nicht. Mit der Erläuterung zu Maria Magdalena, «aus der sieben Dämonen ausgefahren waren», deutet der Evangelist lediglich an, dass ein Heilwunder die Frau aus Magdala ermutigt hat, sich ihrem «medicus» anzuschliessen. Jesus heilte, ohne Unterschiede zu machen, Männer und Frauen, Alte und Junge, Arme und Reiche. Nicht jeder folgte ihm aus Dankbarkeit nach. Daher war es sicher nicht die Heilung allein, die aus Maria Magdalena eine Jüngerin gemacht hat.

Taufe Jesu am Jordan – Gemälde in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn
Taufe Jesu am Jordan – Gemälde in der St. Ursen-Kathedrale Solothurn

Jesus musste seine Jünger öfter daran erinnern, dass es im Reich Gottes nicht um Macht und die eigene Grösse ging, sondern um Dienst (Mt 18,1-5). Von Rangstreitigkeiten unter den Jüngerinnen überliefern die Evangelien kein Wort. Eifersüchteleien, die sicher vorgekommen sind, haben die Frauen wohl unter sich geregelt. Ohne grosse Worte und Gesten scheinen sie von Anfang an Jesus und seine Sendung tiefer verstanden zu haben als die Jünger. Daher bedurften sie auch keiner besonderen Einladung oder Belohnung. Sie waren schlicht da und lebten ihre Berufung aus einem natürlichen Einklang mit Jesus.

Leise Mahnung an Jüngerinnen

An einem weiteren Beispiel kristallisieren sich Unterschiede zwischen dem Typus Jünger und dem Typus Jüngerin. Jesus hat seine Jüngerinnen nicht kritisiert. Allenfalls seine gute Freundin Marta musste eine geschickt verpackte Mahnung hinnehmen, als sie sich bei Jesus über ihre «faule» Schwester Maria beschwerte, die lieber seinen Worten lauschte, statt bei der Bewirtung der Gäste zu helfen: «Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühe. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, er wird ihr nicht genommen werden» (Lk 10,41f.).

Selbst die ehrgeizige Mutter der Zebedäussöhne, die ihren Söhnen im Himmelreich den Platz links und rechts von Jesus sichern wollte, tadelte er nicht direkt. Ihren unangemessenen Wunsch nahm er zum Anlass, sich grundsätzlich über das Dienen und Herrschen zu äussern (Mt 20,20-28). Mit den Jüngern ging Jesus weniger sanft um: Als sie sich auf einer ihrer Unternehmungen darüber aufregten, dass sie das Brot vergessen hatten (Mt 16, 5-12), reagierte der Meister harsch: «Ihr Kleingläubigen, was macht ihr euch darüber Gedanken, dass ihr kein Brot habt? Begreift ihr noch nicht?» (16,8f.)

Statt sich Kritik einzuhandeln, haben Frauen Jesus inspiriert: Der hartnäckigen Mutter, die ihn um die Heilung ihrer Tochter bat, gestand er zu: «Frau, dein Glaube ist gross. Es soll dir geschehen wie du willst» (Mt15,28). Selbst wenn die Begebenheit eine literarische Frucht des Evangelisten Matthäus sein sollte, ist es doch erstaunlich, dass ausgerechnet eine Frau Jesus bewog, sich für die Sendung über die Grenzen des «Hauses Israel» zu öffnen. Dabei zählte sie nicht einmal zu seinen Jüngerinnen, sondern gehörte zu dem mit Israel verfeindeten Stamm der Kanaäer. Bei Markus war es eine göttergläubige Syrophönizierin, die Jesus über die Grenzen Israels hinaus heilen liess (7,24-30).

Treue unter dem Kreuz

Wie unverbrüchlich die Bindung zwischen den Jüngerinnen und ihrem Rabbi war, offenbart ihre Treue unter dem Kreuz. Bis auf Johannes hatten sich die Jünger aus dem Staub gemacht, während die Frauen unter Lebensgefahr ausharrten, bis ihr Meister starb. Die Liebe war stärker als die Angst.

Begehbare Rekonstruktion der Grabeshöhle - im Bistum Salamanca.
Begehbare Rekonstruktion der Grabeshöhle - im Bistum Salamanca.

Einig sind sich die Synoptiker darüber, dass die Jüngerinnen – die Namen variieren – Jesu Begräbnis im Grab des Joseph von Arimathäa verfolgten, Grabwache hielten, am Tag nach dem Sabbat die Grabstätte erneut aufsuchten, um den Leichnam einzubalsamieren, ein leeres Grab vorfanden, und Engel ihnen Jesu Auferstehung verkündeten. 

Weltberühmter Dialog

Johannes dagegen konzentriert die Überlieferung auf Maria Magdalena. Sie allein entdeckt das leere Grab, verkündet ihre Entdeckung den Jüngern und kehrt zum Grab zurück. Verzweifelt beugt sie sich in die Grabkammer und sieht zwei Engel, die sie nach dem Schicksal des Leichnams befragt. In dem Augenblick erscheint ihr der Auferstandene, und es entspinnt sich einer der berühmtesten Dialoge der Weltgeschichte. Auf Jesu Bitte «Halte mich nicht fest» folgt sein Verkündigungsauftrag: «Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zum meinem Gott und eurem Gott» (Jh 20,17).

Trauernde Maria von Magdala – Figur in der Kirche Sankt Castor in Treis-Karden (D)
Trauernde Maria von Magdala – Figur in der Kirche Sankt Castor in Treis-Karden (D)

Von Zeit zu Zeit flammt die alte Diskussion auf, ob Jesus ein Revolutionär gewesen ist. Nach landläufigen Kategorien, die Revolutionen mit dem Untergang von Herrschern und Reichen verbinden, war er das nicht. Doch hatte und hat seine Botschaft die Kraft, die Welt unter den Vorzeichen der Gottes- und Nächstenliebe radikal zu verändern. Auf diesem Weg setzte Jesus Zeichen mit revolutionärem Potential.

Erstzeuginnen der Auferstehung

Eines davon ist, dass er Frauen, denen die Antike das Zeugnisrecht abgesprochen hat, zu den Erstzeuginnen seiner Auferstehung erhoben hat, eine Tatsache, die nicht hoch genug gewertet werden kann: Das vielgeschmähte «leichtsinnige» Geschlecht bezeugte ein unfassbares Geschehen. Diesen «Schwachpunkt» haben Gegner des Christentums nur allzu gern aufgegriffen, um die neue Religion herabzuwürdigen.

Einer der schärfsten Kritiker war im 2. Jahrhundert der platonische Philosoph Celsus, dessen Streitschrift gegen das Christentum der Kirchenschriftsteller Origenes fragmentarisch in seiner Replik «Contra Celsum» überliefert. Dort legt der Platoniker einem jüdischen Christengegner das Argument in den Mund, die Augenzeugin Maria Magdalena sei eine hysterische Frau, und andere Fantasten, von denen berichtet wird, seien ähnlich verhext (2,59).

Am See Genezareth
Am See Genezareth

An dieser Stelle sei eine Spekulation erlaubt: Da Jesus nicht nur die Herzen der Menschen, sondern auch die gesellschaftlichen und kulturellen Prägungen seiner Zeit kannte, scheint er bei den Jünger-Berufungen auf die männliche Mentalität eingegangen zu sein: Er stellte ihnen eine interessante Perspektive vor Augen, ein Ziel, das sie aus dem Gros der Masse heraushob und ihnen wohl erleichterte, ihr bisheriges Leben aufzugeben. Jesu Versprechen galt selbstverständlich auch für die Jüngerinnen, die wie ihre männlichen Mitstreiter als «Menschenfischerinnen» seine Lehre weitertragen sollten. Doch musste er sie der Überlieferung zufolge nicht ausdrücklich mit dem Aufstieg zur «Menschenfischerin» locken.

Maria Magdalena behält Freiheit

Vielleicht waren es gerade diese geschlechterspezifischen Zuschreibungen, die ihn mit veranlasst haben, Petrus, seinen Felsen, an zukünftige Strukturen zu binden (Mt 16,18f.), nicht aber dessen weibliches Pendant Maria Magdalena. Ihr hat er die Freiheit gelassen, ihre Berufung selbst zu gestalten. Die Beharrungskräfte des Patriarchats hat der Rabbi aus Nazareth jedenfalls nicht unterschätzt. Sie reichen bis in die Gegenwart.

*Judith Rosen ist Historikerin und war Dozentin für Alte Geschichte an der Universität Bonn.

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Martha und Maria Magdalena – zeitgenössische Kopie nach einem verlorenen Original Caravaggios um 1595/96. | © Keystone/akg-images
12. Mai 2024 | 07:00
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