Talitha Cooreman-Guittin
Schweiz

Talitha Cooreman-Guittin: «Ich frage mich, warum Adam und Eva nicht als Menschen mit Trisonomie dargestellt werden»

Talitha Cooreman-Guittin ist neue Professorin für Pastoraltheologie an der Universität Freiburg – in der Nachfolge von François-Xavier Amherdt. Die belgische Theologin hat als erste Frau aus dem Laienstand diese Position inne. Sie ist der Strömung der «Behindertentheologien» zuzuordnen und möchte dazu beitragen, dass «die Stimme der Marginalisierten» gehört wird.

Raphaël Zbinden, cath.ch /Adaption Regula Pfeifer

Was hat Sie davon überzeugt, den Lehrstuhl in Freiburg anzunehmen?

Talitha Cooreman-Guittin: Zunächst einmal ist die Theologische Fakultät in Freiburg im französischsprachigen Raum ziemlich einzigartig. Vor allem, weil sie eine Abteilung für Praktische Theologie hat, die so unterschiedliche Disziplinen wie Liturgie, vergleichende Pastoralwissenschaft, Religionspädagogik oder Kirchenrecht vereint. All dies wird zweisprachig angeboten.

«Ich habe den Eindruck, in die Fussstapfen grosser Namen der praktischen Theologie zu treten.»

Ein zweiter Punkt sind die Personen. In Freiburg gibt es einen Reichtum, den man nicht unbedingt in den katholischen Fakultäten Frankreichs findet. All dies bietet ein grosses Potenzial für Austausch und gegenseitige Bereicherung. Ich habe auch den sehr anregenden Eindruck, in die Fussstapfen grosser Namen der praktischen Theologie zu treten, die diesen Lehrstuhl durchlaufen haben, etwa von Leo Karrer, Marc Donzé oder François-Xavier Amherdt.

Der Pastoraltheologe François-Xavier Amherdt
Der Pastoraltheologe François-Xavier Amherdt

Praktische Theologie an Uni Freiburg

Das Departement für Praktische Theologie der Universität Freiburg umfasst: das Institut für Liturgiewissenschaft, den Lehrstuhl für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik, den Lehrstuhl für Kirchenrecht und das Zentrum für Vergleichende Pastoralstudien.

Ihr Vorgänger hatte den Lehrstuhl für Pastoraltheologie rund zwanzig Jahre lang inne und tief geprägt. Inwiefern wird sich Ihre Ausrichtung von seiner unterscheiden?

Cooreman-Guittin: François-Xavier Amherdt war ein Tausendfüssler, ein Tausendsassa, der in vielen verschiedenen Bereichen begabt war. In Freiburg hat er eine enorme Arbeit geleistet und ich fühle mich sehr geehrt, seine Nachfolge antreten zu dürfen.

«Ich habe drei Kinder, was mir sicherlich eine andere Sicht auf das Leben gibt.»

Was die Situation ein wenig verändert, ist, dass ich die erste Frau aus dem Laienstand bin, die dieses Amt bekleidet. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder, was mir sicherlich eine andere Sicht auf das Leben gibt als jene, die ein Priester haben kann. Der Fokus auf Verletzlichkeit, den ich als Forscherin habe, verleiht meinem Unterricht zudem sicherlich eine besondere Färbung.

Wie äussert sich das in Ihrem Unterricht?

Cooreman-Guittin: Es geht darum, zu berücksichtigen, was diese Menschen zum gesamten theologischen Gebäude beitragen, was uns alle angeht, denn Behinderung ist kein sogenanntes Nischenthema.

«Ein Teil meiner Forschung besteht darin, die Menschen zu sensibilisieren.»

Es ist sehr wichtig, diesen marginalisierten Stimmen zuzuhören, dazu fordert uns Papst Franziskus durch seine Lehre der Zerbrechlichkeit auf. Die besonderen Erfahrungen dieser Menschen sagen etwas über Gott aus, das im Mehrheitsdiskurs nicht sehr präsent ist. Und ein Teil meiner Forschung besteht darin, die Menschen für diese Tatsache zu sensibilisieren.

Adam und Eva, Relief in Orvieto, Italien
Adam und Eva, Relief in Orvieto, Italien

Und was sagen uns marginalisierte Stimmen?

Cooreman-Guittin: Sie fordern uns dazu auf, den Fokus von einem Gott, der nur allmächtig ist, auf einen Gott zu verlagern, der sich in Schwäche und Verletzlichkeit offenbart. Etwas, das unserer menschlichen Natur innewohnt, ist in unserer Verletzlichkeit präsent, die keineswegs eine Folge der Erbsünde ist, sondern von Anfang an da war.

«Anaïs fragte mich: Warum hat Gott mich so gemacht?».

Ich postuliere, dass Verletzlichkeit gut ist, dass Gott durch sie genauso viel erschafft wie durch Stärke. Ich verwende bei Schülern oft das Bild von Adam und Eva, die mehrheitlich als zwei Menschen dargestellt werden, die den Schönheitsnormen entsprechen. Und ich frage mich, warum sie nie als zwei Menschen mit Trisomie dargestellt werden.

Wie haben Sie diese besondere Sensibilität für Menschen mit Behinderungen entwickelt?

Cooreman-Guittin: Nach meinem Theologiestudium in Strassburg habe ich begonnen, für die Kirche zu arbeiten. Eine meiner ersten Aufgaben war es, in einer Einrichtung für Kinder mit Behinderungen Religionsunterricht zu erteilen. Ich wusste nichts über diese Welt und fragte mich, warum man mich an einen solchen Ort schickte, obwohl ich einem Master in Kirchenrecht in der Tasche hatte. Als ich ankam, wurde ich von einer jungen Frau namens Anaïs begrüsst. Als ich ihr sagte, dass ich über Religion sprechen wollte, fragte sie mich: «Warum hat Gott mich so gemacht?»

«Es ist der Blick auf verletzliche Menschen, der sich ändern muss».

Was haben Sie ihr geantwortet?

Cooreman-Guittin: Gar nichts. Ich war sprachlos und wusste nicht, was ich ihr antworten sollte, denn ich hatte noch nie darüber nachgedacht. Ich ging zu einem Priester, um eine Antwort zu bekommen, und der sagte: «Sie müssen ihr sagen, dass Gott sie nicht so gemacht hat.» Ich war jedoch der Meinung, dass dies keine angemessene Antwort sein konnte. Wenn es nicht Gott war, der sie so gemacht hat, wer war es dann? Von da an begann eine lange Suche, die mich schliesslich dazu brachte, eine Doktorarbeit über dieses Thema zu schreiben.

Was würden Sie Anaïs jetzt sagen?

Cooreman-Guittin: Ich würde ihr sagen: «In Gottes Augen bist du nicht schlechter als die anderen. Es ist das Bild, das du von dir selbst hast und das die Leute um dich herum von dir haben, das dich das denken lässt.» Es ist der Blick auf sie, der sich ändern muss. Und wenn er sich ändert, wird sich auch ihr Blick auf sich selbst ändern. So wird sie in ihrer Würde als Kind Gottes bestätigt. Aber das ist eine ziemliche Arbeit, und ich bin mir nicht sicher, ob die Gesellschaft das hören will.

Care-Arbeit: Pflege bedürftiger Menschen
Care-Arbeit: Pflege bedürftiger Menschen

Sie interessieren sich auch für Alzheimer-Patienten…

Cooreman-Guittin: Ja, das ist eine logische Folge meiner Forschung. Anaïs hatte mir die Frage gestellt: «Warum will uns niemand als Freunde haben?». Tatsächlich sind geistige Behinderungen oft mit Schwierigkeiten verbunden, Freundschaften zu schliessen und zu pflegen. Bei meinen Recherchen stellte ich fest, dass das Gleiche auch für Alzheimer-Patienten gilt.

«Alzheimer-Patienten sehnen sich nach Bindung. Dieser Wunsch wird jedoch oft missachtet.»

Sobald die Krankheit ausbricht, lösen sich die sozialen Bindungen auf, zum Teil weil die Angehörigen plötzlich nicht mehr den gleichen Kontakt zur betroffenen Person haben und sich zurückziehen. Dies führt zu grosser Einsamkeit und akutem Leid für die Betroffenen. Alzheimer-Patienten sehnen sich nach Bindung. Dieser Wunsch wird jedoch oft missachtet. Als Kirche, aber auch als Gesellschaft, haben wir in diesem Bereich eine grosse Aufgabe zu erfüllen.

Was kann die Kirche noch tun?

Cooreman-Guittin: Ich denke, man kann immer mehr tun. Auch wenn man zugeben muss, dass die Kirche bereits viel für Menschen in fragilen Situationen tut. Das ist oft eine Frage der Aktualität und der Mittel. In der heutigen Pastoral neigt man dazu, sich auf die Jugendlichen zu konzentrieren. Es geht insbesondere darum, Berufungen zu wecken. Das ist natürlich notwendig und ich bin nicht dagegen. Aber das darf nicht auf Kosten unserer aktiven Präsenz bei den Älteren gehen.

«In der Gesellschaft ist eine Sensibilisierung für das Thema Behinderung festzustellen.»

Als Kirche können wir vor allem zeigen, dass diese Menschen unabhängig von ihrem kognitiven Zustand ihr Interesse behalten. Wir können zeigen, dass wir in der Lage sind, sie zu begleiten und für sie da zu sein. Das wäre ein starkes Signal an die Gesellschaft, und vielleicht werden sich unsere Enkel fragen: «Was für eine Kirche ist das, die dazu in der Lage ist?»

Menschen mit Behinderung und Freiwillige am "Fest des Lebens" im August 2020, organisiert von der Behindertenseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich
Menschen mit Behinderung und Freiwillige am "Fest des Lebens" im August 2020, organisiert von der Behindertenseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich

Welchen Platz räumt die Gesellschaft der Verletzlichkeit ein?

Cooreman-Guittin: Es gibt paradoxe Bewegungen in der Gesellschaft. Es gibt eine Sensibilisierung für das Thema Behinderung und ein Bewusstsein dafür, dass diese Menschen nicht weiter ausgegrenzt werden können. Dieser Gedanke wird insbesondere in der Kultur immer stärker artikuliert. Menschen mit Behinderungen sind stärker vertreten, vor allem im Filmbereich. Ich freue mich, dass auch ihr Wort öfter willkommen ist, denn es sind nicht immer die Nichtbehinderten, die über diese Dinge sprechen müssen.

«Gleichzeitig gibt es die Überzeugung, dass man, wenn man nicht mehr produktiv ist, keine Daseinsberechtigung mehr hat.»

Gleichzeitig gibt es aber auch die Überzeugung, dass man, wenn man nicht mehr produktiv ist, nicht mehr gebraucht wird und keine Daseinsberechtigung mehr hat. Dies ist eine der Komponenten der Debatte über das Lebensende. Und am Anfang des Lebens muss man auch daran erinnern, dass sich in der Schweiz zwischen 80 und 98 Prozent der Frauen für eine Abtreibung entscheiden, wenn eine Trisomie festgestellt wird (siehe Schweizerische Ärztezeitung, 2015).

Als Gesellschaft haben wir es nicht geschafft, zu vermitteln, dass selbst jemand, der finanziell gesehen nichts kostet und nichts einbringt, niemals unfähig ist zu geben, auch wenn seine Gabe auf einer ganz anderen Ebene liegt.

«Das Nachdenken über den Wert verletzlichen Lebens sollte nicht erst am Ende des Lebens beginnen».

Ein Gedanke, der unbedingt vermittelt werden muss…

Cooreman-Guittin: Auf jeden Fall. Und das Nachdenken über den Wert eines verletzlichen Lebens sollte nicht erst am Ende des eigenen Lebens beginnen. Es ist eine Bewusstseinsbildung, die bereits im Kindergarten beginnen muss. Unsere gemeinsame Verletzlichkeit sollte uns klarmachen, dass das Leben immer in gegenseitiger Abhängigkeit gelebt wird und dass niemand es allein schaffen kann. Und deshalb bin ich auch froh, dass ich einen Lehrstuhl für Religionspädagogik innehabe.

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Belgierin an Schweizer Uni

Talitha Cooreman-Guittin wurde 1971 in Antwerpen, Belgien, geboren. Sie studierte Theologie an den Universitäten Strassburg (Frankreich) und Louvain-la-neuve (Belgien). Seit 2023 ist sie Professorin für Praktische Theologie und Inhaberin des Lehrstuhls für Pastoraltheologie, Religionspädagogik und Homiletik an der Universität Freiburg. Sie ist Autorin der Bücher «Catéchèse et théologies du handicap – Ouvrir des chemins d’amitié au-delà des barrières de la déficience (2020, PULouvain) und «Alzheimer et amitié – cheminer ensemble dans l’Espérance. Regards chrétiens» (2023, Academic Press) (pd)


Talitha Cooreman-Guittin | © Raphaël Zbinden
24. Mai 2024 | 12:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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