Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein im Jahr 2009.
Schweiz

Ratzingers Welt durch Gänsweins Augen: Warum Benedikt und Franziskus theologisch nicht zueinander fanden

Georg Gänswein hörte als Jugendlicher Rockmusik und hatte lange, lockige Haare. Gänsweins literarisch eher mässig gelungenen Memoiren enthalten Tratsch und Theologie. Er zeigt die wachsende Entfremdung zwischen gelebter Kirche und legalistischer Kirchendoktrin. Und warum Benedikt und Franziskus nicht zueinander fanden.

Annalena Müller*

In seinen frisch erschienenen Memorien «Nient’altro che la verita» (Nichts als die Wahrheit) schildert Georg Gänswein zentrale Episoden aus seinem Leben als Privatsekretär des früheren Präfekten der Glaubenskongregation und späteren Papstes, Benedikt XVI.

Ein Buch in drei Teilen

Gänsweins Buch lässt sich grob in drei Teile untergliedern. Der erste bietet eine durchaus eindrucksvolle Synthese des theologischen Denkens Joseph Ratzingers. Der zweite Teil diskutiert die Biografie Ratzingers bis zum Ende seines Pontifikats und in begrenztem Ausmass auch die Gänsweins, der sich, etwas selbstgefällig, als rockmusikhörenden Jungkatholiken mit langen lockigen Haaren beschreibt.

Georg Gänswein (l.) trauert im Petersdom um Benedikt XVI.
Georg Gänswein (l.) trauert im Petersdom um Benedikt XVI.

Während theologische Fragen auch in diesem Teil diskutiert werden, spielen sie doch eher eine Nebenrolle. Dafür werden dem Alltag des Pontifex, inklusive Machtspiele im Vatikan und Gänsweins Animositäten gegen gewisse Haushälterinnen, recht viel Aufmerksamkeit zuteil. Der dritte Teil schliesslich widmet sich der Periode ab dem Rücktritt Benedikts. Besonders die letzten beiden Kapitel beinhalten teilweise abstrus anmutende Verteidigungsversuche und auch Verharmlosungen von Benedikts frühem Verhalten bei Missbrauchsfällen und seinen späten Äusserungen zu Reformfragen.

Die Memoiren eines Dezisionisten, der als Recht ansieht, was das Gesetz zum Recht erklärt

«Nichts als die Wahrheit» sind die Memoiren eines Dezisionisten, der, wie Benedikt XVI. als Recht ansieht, was das Gesetz der Kirche zum Recht erklärt. Es sind die Gedanken eines Mannes, der dem synodalen Prozess nichts abgewinnen, und dem das Lehramt des Papstes und die Klerikerkirche heilig sind.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Ohne Zweifel ist es das Zeugnis eines Präfekten, der seinem Papst mit Liebe und Überzeugung gedient hat, der dessen Verunglimpfung als «Panzerkardinal» oder «Gottes Rottweiler» als persönlich beleidigend und zutiefst falsch empfindet und der Benedikts Theologie vollumfänglich teilt.

Der Theologe Ratzinger

Im ersten Teil des Buches treffen die Leserinnen und Leser auf den zutiefst intellektuellen Theologen Joseph Ratzinger, für den Glaube und Erlösung unauflöslich an Dogmen und Kirche gebunden sind. Die römische Kirche ist die Braut Christi und ausserhalb ihrer warten Verirrungen und Verwirrungen, Sünde und Abwege; «extra ecclesiam nulla salus» – man kennt es. 

Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts). Ivo Fürer war beim Konzil als Berater dabei.
Ein seltenes Bild aus der Konzilszeit: Joseph Ratzinger (ganz links) und Hans Küng (rechts). Ivo Fürer war beim Konzil als Berater dabei.

Besonders die 1990er-Jahre bestärkten Ratzinger in seiner Wahrnehmung. Er beklagte den wachsenden Ausschluss Gottes aus dem öffentlichen Bewusstsein, «sei es, dass er ganz geleugnet wird, sei es, dass seine Existenz als unbeweisbar, ungewiss und damit dem Bereich der subjektiven Entscheidungen zugehörig beurteilt wird, und somit in jedem Fall irrelevant ist». 

Mastermind umstrittenerer Lehrenzykliken der 1990er-Jahre

Gegen den (Ir)Relativismus arbeitet der Theologe Ratzinger in den 1990er- und Nullerjahren an. Als Präfekt der Glaubenskongregation genauso wie später als Papst. Die Glaubenskongregation sollte nach der Neudefinition ihrer Aufgaben im Jahr 1988 das Verständnis des Glaubens vertiefen und neue Probleme im Lichte des Glaubens zu beantworten.

Plakate von Papst Benedikt XVI. und Johannes Paul II. in Rom.
Plakate von Papst Benedikt XVI. und Johannes Paul II. in Rom.

Vor diesem Hintergrund sind auch die drei Enzykliken und eine Erklärung von Johannes-Paul II. zu verstehen, die Gänswein als «ein meisterhaftes Leuchtfeuer des Duos Ratzinger-Wojtyła» bezeichnet. Sie verdichten nicht nur die Essenz von Ratzingers Theologie, sondern können als Wegmarken der wachsenden Entfremdung zwischen gelebter Kirche und legalistischer Kirchendoktrin gelesen werden. 

Keine Heilsbringungsmöglichkeit für andere Religionen

Während «Veritatis splendo» (1993) sich der Moraltheologie widmet, postuliert «Evangelium Vitae» (1995) die absolute Würde des menschlichen Lebens. Die Logik der «Evangelium Vitae» schliesst jegliche moralische Rechtfertigung für Empfängnisverhütung oder Abtreibung a priori aus. Der unter den deutschen Bischöfen hochumstrittene Austritt der Kirche aus der sogenannten Schwangerschaftskonfliktberatung nach 1998 war eine der praktischen Konsequenzen der Enzyklika. 

Die Scheich-Zayid-Moschee in Abu Dhabi
Die Scheich-Zayid-Moschee in Abu Dhabi

«Fides et Ratio» (1998) bezeichnet Gänswein als «Summa» zum Thema Wahrheit des polnischen Papstes und des bayerischen Präfekten. «Fides et Ratio» definiert die «Verkündung der christlichen Botschaft als anerkannte Wahrheit» und die Enzyklika wurde damals wie heute als Angriff auf Toleranz und Pluralismus verstanden. Die Erklärung «Dominus Iesus» (2000) sorgte für Diskussionen besonders im ökumenischen und interreligiösen Diskurs. «Dominus Iesus» erklärt Christus und die römisch-katholische Kirche als den einzigen Weg zu Gott und damit zur Erlösung. Ein Affront gegenüber den Kirchen der Reformation und anderen Religionen.

Moraltheologie, Kirchenrecht und Ablehnung der Befreiungstheologie 

In der Christustrilogie, welche Ratzinger als Papst verfasste, wird diese Notion fortgesetzt und ausgearbeitet. Denn die Trilogie ist schliesslich, in den Worten Gänsweins, «eine Synthese seiner eigenen theologischen Vision, die auf der Überzeugung beruht, dass die Heilsbotschaft Jesu nicht einfach eine Lehre ist, sondern die konkrete Begegnung mit seiner Person, mit dem Gott, der wirklich Mensch geworden ist und der in jedem Zeitalter gegenwärtig bleibt».

Papst Benedikt XVI. und Jorge Mario Bergoglio 2007 in Aparecida.
Papst Benedikt XVI. und Jorge Mario Bergoglio 2007 in Aparecida.

Natürlich war Ratzingers Theologie komplexer als diese drei Enzykliken. Aber berücksichtigt man noch sein legalistisches Rechtsverständnis sowie seine tiefe Aversion der lateinamerikanischen Befreiungstheologie seit den 1970er-Jahren, welche ebenfalls von Gänswein theologisch gerechtfertigt wird, dann bekommt man gute Einblicke in das Denken Ratzingers. Auch muss man nicht Theologie studiert haben, um zu verstehen, warum Benedikt und Franziskus sich in essentiellen theologischen Fragen nie würden einigen können. Von Vertreterinnen und Vertretern des synodalen Prozesses oder gar des Synodalen Weges in Deutschland ganz zu schweigen.

Klatsch und Tratsch und viele Seitenhiebe

Besonders im zweiten und dritten Teil des Buches kommen Lesende mit Interesse an Klatsch und Tratsch auf ihre Kosten. So erfährt man Triviales bezüglich Benedikts Diät und Verdauung und über Gänsweins Geringschätzung von Ratzingers früherer Haushälterin, Ingrid Stampa, die «das Problem» hatte, «ihre eigenen Vorstellungen» zu haben. 

Links der Bruder von Benedikt XVI., Georg Ratzinger, und Ingrid Stampa. Auf Stampa ist Gänswein nicht gut zu sprechen.
Links der Bruder von Benedikt XVI., Georg Ratzinger, und Ingrid Stampa. Auf Stampa ist Gänswein nicht gut zu sprechen.

Während «Nient’altro che la verita» sicherlich keine Abrechnung mit Franziskus ist, so gibt es doch zahlreiche Seitenhiebe. Gänswein verübelt dem Papst sichtlich (trotz anderslautender Beteuerung), dass dieser ihn, der auch Präfekt des päpstlichen Haushalts war, karrieretechnisch kaltgestellt hat

Verharmlosung des Missbrauchs

Geradezu naiv wirkt Gänsweins Unverständnis, wie er zu dem Ruf eines Falken und Hardliners kam und die Grenzen der Absurdität werden überschritten, wenn Gänswein 2019, zusammen mit dem greisen Benedikt, die 1968er-Revolution für die sexuellen Missbräuche in der Kirche verantwortlich macht: Da in diesen Kreisen Pädophilie gerechtfertigt wurde, «während gleichzeitig ein Zusammenbruch der katholischen Moraltheologie stattfand, welche die Kirche angesichts dieser gesellschaftlichen Prozesse wehrlos machte». 

Erzbischof Georg Gänswein (l.), Präfekt des Päpstlichen Hauses, küsst die Hand des aufgebahrten Leichnams von Benedikt XVI.
Erzbischof Georg Gänswein (l.), Präfekt des Päpstlichen Hauses, küsst die Hand des aufgebahrten Leichnams von Benedikt XVI.

Der grösste Verdienst dieser literarisch mässig gelungenen Memoiren ist eher ein zufälliger. Beim aufmerksamen Lesen der theologischen Darlegungen bekommt man ein klares Gefühl für die eigentliche Unvereinbarkeit des Richtungsstreites, welcher die römische Kirche seit mindestens der Jahrtausendwende prägt.

Gänswein vs. synodaler Prozess

Auf der einen Seite stehen dabei konservative, legalistische Theologen, zu denen auch der australische Kardinal Pell gehörte, dessen heftige Kritik am synodalen Prozess vom gleichen theologischen Verständnis geprägt ist wie das Benedikts, Gänsweins und anderer konservativer Kirchendenker. Auf der anderen Seite stehen die moderaten Reformerinnen und Reformer um Franziskus sowie die weitaus mutigeren Denkerinnen und Denker des Synodalen Wegs. Und wie man in «Nichts als die Wahrheit» nachlesen kann, scheint beiden Lagern das Brückenbauen schwer zu fallen. Daran dürfte Gänsweins Buch nichts ändern. Im Gegenteil.

* Die Historikerin Annalena Müller forscht an der Uni Freiburg zur wirtschaftlichen und politischen Macht von Äbtissinnen und Frauenklöstern im mittelalterlichen Europa.

14.01.2023, 8.30 Uhr: Wir haben Aussagen des Artikels präzisiert.


Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein im Jahr 2009. | © KNA
14. Januar 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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