Papst Benedikt XVI. und Jorge Mario Bergoglio 2007 in Aparecida.
Schweiz

Joseph Ratzinger unterdrückte die Befreiungstheologie in Lateinamerika

Papst Franziskus entschuldigt sich in Kanada für die Verbrechen der katholischen Kirche im Kolonialismus. Papst Benedikt XVI. behauptet hingegen in Brasilien, die indigenen Völker Amerikas hätten «sich im Stillen nach Christus gesehnt». Odilo Noti spricht im kath.ch-Interview über das schwierige Verhältnis von Joseph Ratzinger zur Befreiungstheologie.

Thomas Vaszary

Als Papst Johannes-Paul II. 1985 in Peru indigene Vertreter der Indianerbewegung traf, wurde er hart mit der Realität konfrontiert. «Wir Indianer der Anden und Amerikas haben beschlossen, dass wir Ihnen anlässlich Ihres Besuchs Ihre Bibel zurückgeben. Denn im Laufe von fünf Jahrhunderten hat sie uns weder Liebe noch Frieden, noch Gerechtigkeit gebracht. Nehmen Sie also bitte die Bibel wieder und geben Sie diese unseren Unterdrückern zurück. Jene brauchen die darin enthaltenen Moralvorschriften mehr als wir. Denn seit Christoph Kolumbus hier gelandet ist, hat man uns eine Kultur, eine Sprache, eine Religion und eine Rangordnung von Werten aufgezwungen, die allesamt europäisch sind.»

Alles ist mit allem verwandt

In den christlich geprägten europäischen Kulturen wird die Religion durch die Aufklärung regelmässig in Frage gestellt. Bei den Ureinwohnern Amerikas ist Gott immer in allem gegenwärtig; in der Natur und in allen Lebewesen. Religion sei kein Sonderbereich des Lebens, wie der Befreiungstheologe Leonardo Boff schreibt in seiner 1992 erschienenen Schrift «500 Jahre Amerika – eine Bussfeier für Europa», aus der auch das eingangs erwähnte Briefzitat stammt. «Die Religion ist ein Band, das die ganze Wirklichkeit umfasst und eint.» Die nordamerikanischen Lakota haben hierfür zwei Wörter, die dies sehr klar auf den Punkt bringen: Mitakuye Oyasin, «we are all related», alles ist mit allem verwandt. Dies umfasst auch die Beziehung zu allen Lebewesen und zum Land, die Ehrfurcht vor Mutter Erde, die nicht als Produktionsmittel betrachtet wird, sondern als Verlängerung des eigenen Leibes und damit einer ökologisch wiederkehrenden Schlaufe der Erneuerung.

Manuel Menrath (Mitte) in einem Reservat in Ontario, zusammen mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic.
Manuel Menrath (Mitte) in einem Reservat in Ontario, zusammen mit Chief Bart Meekis (l.) und Deputy-Chief Robert Kakegamic.

Von christlichen Kirchen unterstützte Eroberungskriege und Besatzungen, gezielte Ansteckungen mit europäischen Krankheiten, rücksichtlose Ausbeutung und Trennung von Eltern und Kindern mit Missbrauch und Gewalt in kirchlich geführten Schulen haben einen Ethnozid verursacht mit vielen Millionen toten Ureinwohnerinnen und afrikanischen Sklaven. Diesen Ethnozid legt Professor Aram Mattioli in seinem 2017 erschienenen Buch «Verlorene Welten» wissenschaftlich genau dar und zeichnet die Geschichte dieser nahezu totalen Ausgrenzung und Zerstörung spannend nach. Sein damaliger Assistent an der Universität Luzern, Manuel Menrath, publizierte 2016 mit «Mission Sitting Bull» die Geschichte der katholischen Lakota und die kritische Rolle der katholischen Innerschweizer Missionare um Martin Marty.

Unversöhnlich und ethnozentrisch

Bis heute verfolgen viele christliche Kirchen immer noch die indigenen Naturreligionen. Ihre Kulturen werden missachtet, die Förderung der Sprache verboten oder erschwert und die Spuren der brutalen Bording-Schulen sind bis heute allgegenwärtig. Befreiungstheologe Leonardo Boff: «Es ist ein Kennzeichen der christlich geprägten europäischen Kulturen, dass sie sich immer mitfühlend zeigen gegenüber den Armen, aber unversöhnlich und ethnozentrisch gegenüber den kulturell Andersartigen. Die Ureinwohner Amerikas und die versklavten Schwarzen wurden als Heiden, als Ungläubige und schliesslich als Feinde betrachtet.»

Odilo Noti, die Befreiungstheologie hat sich mit den Indigenen solidarisiert und die Kolonialisierung kritisiert. Wie wurde das in den politischen und kirchlichen Machtzentralen aufgenommen?

Odilo Noti: Die Befreiungstheologie wurde seit Beginn ihrer Entstehung Anfang der Siebzigerjahre verfolgt. Sie hatte unterschiedliche Gegner, die gegen sie vorgingen. Es waren Politiker und Militärs – in Lateinamerika selbst, aber auch in Washington. Die kirchlichen Opponenten der Befreiungstheologen sassen in der vatikanischen Kurie, auf Bischofsstühlen in den jeweiligen Ländern. Und sie kamen sogar aus Deutschland.

«Auf der politischen Ebene entscheidend war die Haltung der USA, insbesondere unter den Präsidenten Reagan und Bush Senior.»

Die USA haben heute noch Angst vor neuen Indianerkriegen, obwohl viele Indianerreservate zu den ärmsten Regionen des Landes zählen. Hatten die USA in den Siebzigerjahren Angst, dass die Befreiungstheologie von Süd- und Mittelamerika in die USA überschwappen könnte?

Noti: Auf der politischen Ebene entscheidend war die Haltung der USA, insbesondere unter den Präsidenten Reagan und Bush Senior. Unmittelbar im Zusammenhang mit ihrem Amtsantritt entstand 1979 das sogenannte Santa-Fé-Dokument. Dieses erklärte offen: Teile der lateinamerikanischen Kirche sind marxistisch-leninistisch unterwandert, unter anderem mit der Absicht, das Privateigentum an den Produktionsmitteln abzuschaffen. Dafür verantwortlich ist die Theologie der Befreiung. Es gilt deshalb, sie mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen.

Odilo Noti bei einem Auftritt im Katholischen Medienzentrum.
Odilo Noti bei einem Auftritt im Katholischen Medienzentrum.

Die USA unterstützen in dieser Zeit Diktaturen in Süd- und Mittelamerika…

Noti: Aus einer sozialen Perspektive galten die Siebziger- Achtziger- und Neunzigerjahre als verlorene Jahrzehnte Lateinamerikas. Militärdiktaturen beherrschten zahlreiche Länder des Subkontinents, die Verschuldungskrise nahm katastrophale Ausmasse an und die wirtschaftliche Entwicklung verschärfte die gesellschaftlichen Gegensätze. Militärs und paramilitärische rechtsextreme Gruppen übten verdeckte und offene Gewalt aus, der Tausende engagierter Christinnen und Christen zum Opfer fielen. Ich möchte hier stellvertretend an die Ermordung von Erzbischof Oscar Romero (1980) und der sechs Jesuiten an der Zentralamerikanischen Universität in San Salvador (1989) erinnern.

Erzbischof Oscar Romero.
Erzbischof Oscar Romero.

Wo stand damals die Kirche?

Noti: Die für die Theologie der Befreiung politisch gefährliche, ja tödliche Situation hätte es geboten, dass sie kirchliche Unterstützung und Verteidigung erfahren hätte. Das ist auch geschehen durch Bischöfe wie Dom Helder Camara, Evaristo Arns, Aloisio Lorscheider und viele andere. Es gab aber ebenfalls kirchliche Heckenschützen wie etwa den kolumbianischen Kardinal Lopéz Trujillo oder Kardinal Joseph Höffner, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, und nicht wenige Nuntien wie etwa Angelo Sodano im damaligen Chile des Generals Pinochet.

«Die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. waren nicht nur für die Befreiungstheologie eine bleierne Zeit.»

Wie verhielt sich der Vatikan?

Noti: Zu den Gegnern zählen leider auch Johannes Paul II. und Benedikt XVI. Die beiden Pontifikate, die zusammen 35 Jahre (1978–2013) andauerten, muss man, was den Umgang mit der Befreiungstheologie angeht, als Einheit betrachten. Denn nur drei Jahre nach der Wahl Karol Wojtylas wurde Joseph Ratzinger von diesem zum Chef der Glaubenskongregation ernannt – ein Amt, das er nahezu 23 Jahre bis zur Wahl zum Papst ausübte. Die beiden Pontifikate waren nicht nur für die Befreiungstheologie eine bleierne Zeit. Leonardo Boff schrieb 2005: «Während seiner mehr als zwanzigjährigen Zeit als Leiter der Glaubenskongregation hat Ratzinger mehr als 100 Theologen verurteilt. Die Befreiungstheologie hat er nie verstanden.»

Ratzingers Reformgeist veränderte sich im Zuge der Studentenunruhen Ende der Sechzigerjahre schlagartig. War dies ausschlaggebend für seine feindliche Haltung gegenüber der Befreiungstheologie?

Noti: Ratzingers Standardvorwurf, wie er etwa in der 1984 veröffentlichten Instruktion «Libertatis nuntius. Über einige Aspekte der Theologie der Befreiung» zum Ausdruck kommt, lautete: Die Theologie der Befreiung bedient sich der marxistischen Methode zur Gesellschaftsanalyse in unkritischer Weise, und sie hängt einem verkürzten, eindimensionalen, nämlich rein politischen Verständnis von Befreiung an.

Leonardo Boff im Jahr 2016.
Leonardo Boff im Jahr 2016.

Zu seiner Zeit als Chef der Glaubenskongregation knöpfte sich Ratzinger beispielsweise Leonardo Boff, Gustavo Gutiérrez oder die brasilianische Klosterfrau und Theologin Ivone Gebara vor. Boff und Gebara erhielten ein- beziehungsweise zweijährige Buss-Schweigen. Sie durften nicht lehren, nicht publizieren, nicht öffentlich auftreten. Gegen Jon Sobrino aus El Salvador wurde unter dem Pontifikat Benedikts eine sogenannte Notifikation verhängt – nach dreissig langen Jahren übler Ermahnungen und Bezichtigungen, wie Sobrino in einem Brief an seinen Generaloberen bitter vermerkt: «Man hat meine Theologie verunglimpft, vielfach ohne es überhaupt für notwendig gehalten zu haben, meine Schriften zu lesen.»

«Mit dem Amtsantritt von Franziskus hat der Wind im Vatikan gedreht.»

Papst Franziskus ist Südamerikaner. Hatte seine Wahl Auswirkungen auf die Befreiungstheologie?

Noti: Mit dem Amtsantritt von Franziskus am 13. März 2013 hat der Wind im Vatikan gedreht. So hat der Papst Gustavo Gutiérrez in Privataudienz empfangen, er hob die Suspendierung des nicaraguanischen Priesters und früheren Aussenministers Miguel d’Escoto auf und rehabilitierte Jon Sobrino anlässlich eines Gesprächs im Vatikan mit den Worten: «Schreib weiter!» Eine klare Ansage zugunsten seines Mitbruders. Immerhin hatte zuvor die Glaubenskongregation beziehungsweise der Vorgänger von Franziskus dem Jesuiten Sobrino vorgeworfen, er weiche an einigen Stellen erheblich vom Glauben der Kirche ab.

Wie stark griff die Glaubenskongregation unter Joseph Ratzinger durch?

Noti: Die Bekämpfung der Theologie der Befreiung durch die vatikanische Kurie richtete sich nicht nur gegen akademisch tätige Theologinnen und Theologen. Sie nahm auch einfache Priester und Ordensleute ins Visier. So zwang Johannes Paul II. 1991 der Konferenz der lateinamerikanischen Ordensleute (CLAR) gegen deren Statuten einen Generalsekretär auf, um das befreiungstheologische CLAR-Projekt «Wort und Leben» zu stoppen.

Wie ging Ratzinger unter Papst Johannes-Paul II. vor?

Noti: Eines der effizientesten Mittel des Vatikans gegen die Befreiungstheologie bestand darin, viele fortschrittliche Bischöfe nach ihrem Rücktritt durch farblose oder – im schlimmsten Fall – rechtsgerichtete Nachfolger zu ersetzen. Zu den skandalösesten Vorgängen zählt wohl die Ernennung von José Cardoso Sobrinho zum Erzbischof von Olinda und Recife (Brasilien) im Jahr 1985. Der Nachfolger von Dom Helder Camara liess unverzüglich die fortschrittliche und auf dem ganzen Kontinent bekannte theologische Ausbildungsstelle ITER schliessen. Er scheute auch nicht davor zurück, gegen landlose Bauern und Bäuerinnen, die eine seiner Kirchen besetzt hatten, die Polizei zu mobilisieren. Nicht weniger schockierend war die Ernennung von Fernando Sáenz Lacalle zum Erzbischof von San Salvador. Der dem Opus Dei nahe stehende Militärbischof im Range eines Oberst gehörte immerhin jener Armee an, die seinen Vorvorgänger Oscar Romero auf dem Gewissen hat.

«Leonardo Boff bezeichnete Benedikt XVI. als Papst der alten Christenheit.»

Auf Leonardo Boffs Website ist eine Art Versöhnung mit Papst Benedikt zu lesen. Gab es da in den letzten Jahren einen Wandel im Geiste des emeritierten Papstes?

Noti: Was sich im Geiste des emeritierten Papstes abgespielt hat, kann ich, darf ich nicht beurteilen. Leonardo Boff ist eine freundliche, liebenswürdige Person, die ihre Positionen aber unzweideutig formuliert. Er hat in seinem Nachruf auf Benedikt XVI. nichts von seiner Kritik zurückgenommen. Er bezeichnet ihn als Papst der alten Christenheit, der keine neue Perspektive eröffnet habe. Vielmehr habe er Europa unter der Hegemonie der katholischen Kirche christianisieren wollen. Europa sei aber anders, die Welt erst recht. Und schliesslich hat Boff in Bezug auf die Befreiungstheologie bilanziert, Benedikt habe sich als «Feind der Freunde der Armen» benommen.

Welche Rolle spielte die Befreiungstheologie in der Schweiz?

Noti: Wenn heute die Massnahmen gegen die Befreiungstheologie oder die Befreiungspastoral in Vergessenheit geraten, muss daran erinnert werden, dass die Schritte des Vatikans weltweite Proteste hervorriefen. Protestiert und kritisiert wurde auch in der Schweiz. Dank der Fastenaktion waren viele der offenen Bischöfe hierzulande bekannt. Dom Helder Camara, Evaristo Arns, Erwin Kräutler oder Ivo Lorscheiter traten im Rahmen der Fastenkampagne auf – mit Vorträgen und Reden, die die Zuhörer von den Stühlen rissen.

«Die Schweizer Kirche und ihre Gläubigen standen den vatikanischen Erlassen ablehnend gegenüber.»

Auch die Theologen Gustavo Gutiérrez, Leonardo Boff, Jon Sobrino, Enrique Dussel oder Franz Hinkelammert waren in der Schweiz regelmässig zu sehen und zu hören. Boff gestaltete 1992 etwa die vom Schweizer Fernsehen übertragene Meditation «500 Jahre Amerika – eine Bussfeier für Europa» – eine musikalische Begegnung mit der H-Moll-Messe von Bach, zur besten Sendezeit übertragen aus einer vollen Jesuitenkirche in Luzern. Kurz: Die Schweizer Kirche und ihre Gläubigen nahmen Anteil an den Vorgängen, welche die lateinamerikanische Pastoral der Befreiung betrafen. Und sie standen den vatikanischen Erlassen ablehnend gegenüber. Sie hatten ja in diesen Jahren (1979) auch die Repressionsmassnahmen gegen «ihren» Hans Küng erlebt.

Ist die Befreiungstheologie auch heute noch in der Schweiz gut verankert?

Noti: Aus heutiger Sicht darf man den damaligen Informationstand in der Kirche Schweiz, was die lateinamerikanische Pastoral anging, als gut beurteilen. Erinnert sei an die mittlerweile leider eingegangene Zeitschrift der Zürcher Jesuiten mit dem Namen «Orientierung». Unter der Leitung von Ludwig Kaufmann und Nikolaus Klein hat die Zeitschrift international vielbeachtete Hintergrundinformationen, Einordnungen und Kommentare rund um die Theologie der Befreiung geliefert. Und natürlich kamen Befreiungstheologen und -theologinnen mit Artikeln unmittelbar zu Wort. Eine ähnliche Vermittlungsfunktion nahm früher das von der Missionsgesellschaft Immensee (SMB) gegründete Romero-Haus wahr. Immer wieder traten dort Exponentinnen und Exponenten der Theologie der Befreiung auf.

Gibt es Fakultäten und Verlage in der Schweiz, die sich dem Thema widmen?

Noti: Vor 40 Jahren wurde von Assistenten der Theologischen Fakultäten Fribourg und Luzern die Edition Exodus, ein Genossenschaftsverlag, gegründet. Diese wollte einen Beitrag zur Überwindung des kirchlichen Eurozentrismus leisten und den verschiedenen theologischen Ansätzen aus Afrika, Asien und Lateinamerika eine Plattform geben. Es war ihr Ziel, systematisch Werke der lateinamerikanischen Theologie der Befreiung zu übersetzen und damit das ganze Panorama dieses breitabgestützten Reflexionsansatzes zugänglich zu machen.

Der Befreiungstheologe Jon Sobrino 2010 in München.
Der Befreiungstheologe Jon Sobrino 2010 in München.

Ein Highlight unter den mehr als 200 Büchern ist zweifellos die Publikation des von Jon Sobrino und Ignacio Ellacuría herausgegebenen zweibändigen Handbuches zur Theologie der Befreiung. In absichtsvoller Nähe und Distanzierung zum deutschsprachigen dogmatischen Klassiker «Mysterium Salutis» trägt es den Titel «Mysterium Liberationis», «Geheimnis der Befreiung». Viel zur Reflexion und Verbreitung von befreiungstheologischen Optionen und Geisteshaltungen beigetragen hat schliesslich die ebenfalls vor 40 Jahren in Luzern gegründete Theologische Bewegung für Befreiung und Solidarität. Dem Verein gehören katholische wie protestantische Mitglieder an.

«Ohne Druck bewegt sich in der katholischen Kirche rein gar nichts.»

Wie hat sich die Befreiungstheologie in Amerika gewandelt?

Noti: Heute ist in Lateinamerika eine dritte und vierte Generation von Befreiungstheologen und -theologinnen an der Arbeit. Ihre Fragestellungen haben sich erweitert und vertieft. Sprach die Theologie der Befreiung früher häufig und unterschiedslos von «den» Armen, so sieht sie das mittlerweile differenzierter. Daraus sind feministische, schwarze oder indigene Ansätze von Befreiungstheologie entstanden. Nein, die Befreiungstheologie ist nicht tot, wie manche unken, denen dies zu pass käme.

Hat die Unterdrückung der Befreiungstheologie in 35 Jahren Johannes-Paul II., Josef Ratzinger bzw. Benedikt XVI. letztlich die indigene Bevölkerung in Amerika vom Christentum befreit? Geben die Indigenen wie 1985 die Bibel zurück?

Noti: Ich muss hier an eine Begebenheit erinnern, die mehr als 20 Jahre später stattfand: 2007 hielt sich Benedikt der XVI. in der brasilianischen Stadt Aparecida auf. Anlass war die fünfte Versammlung der lateinamerikanischen Bischöfe. Er verstieg sich dort zur Aussage, die Verkündigung des Evangeliums habe zu keiner Zeit das Aufzwingen einer fremden Kultur bedeutet. Die indigenen Völker Amerikas hätten «sich im Stillen nach Christus gesehnt». Der aus der Zeit gefallene Papst hat das Offensichtliche nicht verstanden – sehr zum Entsetzen der Betroffenen. Daran vermochte auch der Besuch der kanadischen Indigenen-Vertretung im Vatikan zwei Jahre später nichts zu ändern. Benedikt bewegte sich nicht.

Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021.
Papst Franziskus begrüsst einen indigenen Vertreter in Kanada, im Jahr 2021.

Im Gegensatz dazu sprach Papst Franziskus letztes Jahr, während seines sechstägigen Aufenthalts in Kanada, öffentlich von kultureller Zerstörung und erzwungener Assimilierung. Und Franziskus bat «um Verzeihung für die Art und Weise, in der leider viele Christen die Kolonisierung der indigenen Völker unterstützt haben». Die Zeugnisse der Überlebenden hätten ihn mit «Schmerz, Empörung und Scham erfüllt».

Mit der kapitalismuskritischen Öko-Enzyklika «Laudato Si» hat Papst Franziskus die Richtung vorgegeben. Erhält nun nach dem Tod von Benedikt XVI. die enttäuschend verlaufene Amazonas-Synode neuen Schwung, das Zölibat im Amazonas-Gebiet aufzuweichen und Familienväter zu Priestern zu weihen?

Noti: Es geht in dieser Frage nicht nur um Amazonien. Und es geht um mehr. Partizipation oder Synodalität in der Kirche heisst, dass wir jene Mündigkeit, die politisch-gesellschaftlich eine Selbstverständlichkeit ist, auch in der Kirche mit Entschiedenheit einfordern. Gleiche Würde heisst gleiche Rechte. Wir sind Citoyens, Bürgerinnen und Bürger, keine Schafe. Ebenso klar ist: Veränderungen kommen in der katholischen Kirche nur auf Druck von unten zustande. Ohne Druck bewegt sich in der katholischen Kirche rein gar nichts. Der Druck muss von aussen, aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Und es braucht ihn auch von innen. Das sollten wir mit Stil und Anstand tun – aber mit Entschiedenheit, Nachdruck und Konsequenz. So wie es uns die Bibel rät: Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben. Das Heil kommt in diesen Fragen gewiss nicht von oben.

Odilo Noti

Der promovierte Theologe Odilo Noti (69) lebt Zürich. Er wuchs im Wallis auf, studierte in den 1970er- und 80er-Jahren Theologie in Freiburg, Tübingen und Münster. 1994 promoviert er mit einer Arbeit über Kants Aufklärungs- und Wissenschaftsverständnis. Er kommt in Kontakt mit den Theologen Hans Küng und Herbert Haag, deren Stiftungen er heute präsidiert: Weltethos und Herbert-Haag-Stiftung für Freiheit in der Kirche. In Tübingen und Münster lernt er die Befreiungstheologie kennen sowie später deren Aushängeschilder Gustavo Gutiérrez, Jon Sobrino und Franz Hinkelammert. Er gründet vor 40 Jahren den Verlag Edition Exodus, der sozialgeschichtliche Bibellektüre verlegt und Theologie aus allen Kontinenten wie Grundlagenwerke der Befreiungstheologie. 30 Jahre lange arbeitet er für die Caritas, davon 20 Jahre als Leiter Kommunikation und Mitglied der Geschäftsleitung. Von 2007 bis 2021 ist er im Vorstand des Katholischen Medienzentrums. Die letzten sieben Jahre wirkt er als Präsident und stützt gegen alle Widerstände den Umbau der Online-Plattform kath.ch zu einem modernen, aktuellen und relevanten Medium. (vazy/rp)


Papst Benedikt XVI. und Jorge Mario Bergoglio 2007 in Aparecida. | © KNA
9. Januar 2023 | 11:49
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