Erzbischof Georg Gänswein und Diego Giovanni Ravelli legen das Evangeliar auf den Sarg des verstorbenen Benedikt XVI.
Vatikan

Gänsweins Memoiren: «Bergoglios Wahl zum Papst kam für Benedikt XVI. unerwartet»

Kurz nach seiner Wahl hat Papst Franziskus um ein Telefonat mit Benedikt XVI. gebeten. Beim Gespräch dann habe der zurückgetretene dem frisch gewählten Papst Gehorsam versprochen. Diese und weitere Anekdoten liefert der neue Memoirenband von Erzbischof Georg Gänswein. Eine Auswahl Themen – von den Freimaurern, über Abtreibung bis Missbrauch.

Burkhard Jürgens

In seinem neuen Memoirenband «Nient’altro che la verita» (Nichts als die Wahrheit) schildert der Privatsekretär von Benedikt XVI., Erzbischof Georg Gänswein, wichtige Episoden und teils unbekannte Details aus seinem Leben mit dem früheren Präfekten der Glaubenskongregation, und späteren Papst. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) stellt Zitate aus dem am Donnerstag erschienenen Buch in eigener Übersetzung vor.

Freimaurer

Als Benedikt XVI. zum Papst gewählt wurde, «war die (gelinde gesagt) Enttäuschung der Freimaurer offensichtlich», so Gänswein. Anders nach der Wahl von Franziskus im Jahr 2013. Damals sandte der Grossmeister der grössten Loge Italiens, Gustavo Raffi, einen Gruss, den Gänswein mit den Worten zitiert, die Freimaurer hofften, dass «das Pontifikat von Franziskus die Rückkehr der ‘Kirche des Wortes’ gegenüber der Kirche als Institution markiert, [in der Hoffnung, dass] eine Kirche des Volkes die Fähigkeit zum Dialog mit allen Menschen guten Willens und mit der Freimaurerei wiederentdecken möge». Gänsweins Kommentar:

«Da war ich mir sicher: Das war mehr als ein ‘Willkommen’ für Papst Bergoglio, es war vor allem ein Laufpass für Papst Ratzinger.» Allerdings habe der Chef der Freimaurer offenbar nicht wirklich gewusst, was ihn mit Bergoglio erwartete.

Abtreibung

In den 90er Jahren herrschte auch im Vatikan ein Dissens, ob kirchliche Einrichtungen in Deutschland einen Beratungsschein vor Schwangerschaftsabbrüchen ausstellen dürfen. Während Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano (1991-2006) für eine pragmatische Lösung eintrat, war Ratzinger für eine harte Linie.

Gänswein schildert die unterschiedlichen Ansichten zwischen den Kardinälen Sodano und Ratzinger zu der Thematik so: Sodano «schaute mehr auf die politischen Implikationen der Angelegenheit und die guten Beziehungen zum Vorsitz dieser Bischofskonferenz, während Letzterem vor allem an der gesamten ethisch-moralischen Frage sowie den daraus sich ergebenden lehrmässigen und pastoralen Konsequenzen gelegen war.»

Lange Zeit sei die Debatte «hinter den Kulissen» weitergegangen, bis schliesslich Papst Johannes Paul II. am 11. Januar 1998 «den deutschen Bischöfen ein Schreiben sandte, in dem er festlegte, ‘dass ein Schein solcher Art in den kirchlichen oder der Kirche zugeordneten Beratungsstellen nicht mehr ausgestellt wird’.»

Papstwahl

Unmittelbar nach der Wahl von Franziskus vermittelte Gänswein das erste Telefonat mit dem Vorgänger. Als am Abend des 13. März 2013 der weisse Rauch aufstieg, habe er sich eingereiht, um ihm seinen Gehorsam zu bekunden. Als er an die Reihe kam, «liess Franziskus mich nicht einmal den Mund aufmachen, um ihn zu beglückwünschen, sondern kam mir mit der Bitte zuvor: ‘Ich möchte mit Benedikt sprechen. Können Sie mir helfen?’»

Mobiltelefone funktionierten nicht in der Sixtina; erst über einen Festnetzapparat aus einem Nachbarraum und unter Schwierigkeiten gelang es Gänswein, Benedikt XVI. in Castel Gandolfo zu erreichen.

Bad in der Menge: Papst Franziskus auf dem Papamobil auf dem Petersplatz.
Bad in der Menge: Papst Franziskus auf dem Papamobil auf dem Petersplatz.

Unterdessen zeigte sich Franziskus erstmals den Menschen auf dem Petersplatz. Als er zurückkehrte, rief Papst Franziskus seinen Vorgänger an. «Ich hörte nicht, was Papst Bergoglio sagte, aber Pater Alfred hörte die Antwort von Benedikt: ‘Danke, Heiliger Vater, dass Sie an mich gedacht haben. Ich verspreche meinen Gehorsam von jetzt an.» Aus den «spärlichen Äusserungen», die der emeritierte Papst in den folgenden Tagen fallen liess, konnte Gänswein verstehen, «dass der Name Jorge Mario Bergoglio für ihn unerwartet kam».

Vertrauen

Seit Januar 2020 hatte sich Gänswein ausschliesslich um die Unterstützung des emeritierten Benedikt XVI. in seinem Alterssitz in den Vatikanischen Gärten zu kümmern; Franziskus beurlaubte ihn von seinen Aufgaben als Präfekt des Päpstlichen Hauses: «Ich fand mich in der Tat als ‘geteilter Präfekt’ wieder…» Hintergrund war offenbar die Affäre um ein Buch von Kardinal Robert Sarah über Priestertum und Zölibat, zu dem Benedikt XVI. einen Aufsatz beigesteuert hatte und das allgemein als Affront gegen Franziskus aufgefasst wurde.

Gänswein beschreibt die Personalentscheidung, die ihn «schockiert und sprachlos» liess, als Schlusspunkt langgehegter Vorbehalte des Papstes gegen seine Doppelrolle als Privatsekretär und Präfekt: «Die Hoffnung Benedikts, dass ich das Bindeglied zwischen ihm und seinem Nachfolger sein würde, war etwas zu naiv.» Schon bald habe er den Eindruck gehabt, dass «zwischen mir und dem neuen Papst sich nicht das notwendige Klima des Vertrauens herstellen liess, um ein solches Engagement in der richtigen Weise weiterzuführen.»

Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein (2016).
Papst Benedikt XVI. und sein Privatsekretär Georg Gänswein (2016).

Demütigungen

Vorausgegangen waren Situationen, in denen Franziskus seinen Hauspräfekten ausdrücklich von der Teilnahme an öffentlichen Terminen entpflichtete. Dies führte zu Nachfragen und verunsicherte Gänswein, der nach eigener Darstellung beim Papst um Klärung nachsuchte: «Ich legte ihm dar, dass all dies (…) meine Autorität schmälerte, und dass ich mich überdies persönlich gedemütigt fühlte – weil er mir den Grund seiner Entscheidung nicht klargemacht hatte, aber auch, weil er in Anwesenheit anderer gesprochen hatte, so dass sich der Klatsch sofort im Vatikan verbreitete (…)» Die Antwort des Papstes war dann ebenfalls überraschend, denn der sagte, er sei sich der Sache nicht bewusst gewesen, «fügte dann aber hinzu, dass Demütigungen sehr gut tun …»

Alte Messe

Dass Franziskus im Umgang mit der alten lateinischen Liturgie im Schreiben «Traditionis custodes» vom 16. Juli 2021 einen ganz neuen Kurs festlegte, entdeckte Benedikt XVI. laut Gänswein beim Blättern in der Vatikanzeitung. Auf die Frage nach einer Einschätzung habe er gesagt, dass «der amtierende Papst die Verantwortung für Entscheidungen wie diese trägt und so handeln muss, wie er es für die Kirche für gut hält. Persönlich aber sah er einen klaren Kurswechsel, und den hielt er für einen Fehler.» Die von Benedikt angestrebte Befriedung im innerkirchlichen Streit mit den Anhängern der Alten Messe sei dadurch gefährdet. Gänswein zufolge hielt Benedikt XVI. es «insbesondere für falsch, die Feier der Messe im alten Ritus in den Pfarrkirchen zu verbieten, da es immer gefährlich ist, eine Gruppe von Gläubigen in eine Ecke zu stellen, so dass sie sich verfolgt fühlen…»

Missbrauch

Im April 2019 meldete sich Benedikt XVI. mit einem Aufsatz zum Missbrauchsskandal zu Wort. Dessen Ursache sah er vor allem im Kampf der späten 1960er für eine «völlige sexuelle Freiheit, die keine Normen mehr zuliess … Zu der Physiognomie der 68er Revolution gehörte, dass nun auch Pädophilie als erlaubt und als angemessen diagnostiziert wurde.» Die Äusserungen sorgten für Diskussionen.

Gänswein unterstreicht in seinem Buch, dass dieser Beitrag mit Billigung des amtierenden Kirchenoberhaupts erschienen sei. Demnach sandte Benedikt XVI. den Text über Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin an Papst Franziskus und bat um Zustimmung für eine Veröffentlichung. Parolin habe dann ihn, Gänswein, angerufen und ihn gebeten, Benedikt mitzuteilen, «dass Franziskus mit der Idee einverstanden war, dass er veröffentlicht werden sollte.»

Papstkritiker

Im Juni 2016 sorgte Gänswein mit Aussagen über ein «geteiltes Papstamt» für Diskussion; dies wurde auch Gegenstand einer Frage von Journalisten an Papst Franziskus bei dessen Armenien-Reise.

Franziskus erzählte als Beleg für die unverbrüchliche Loyalität seines Vorgängers eine Anekdote, wie sich einige bei Benedikt XVI. über «diesen neuen Papst» beklagt hätten. «Er hat sie weggejagt!», zitiert Gänswein Franziskus. «Auf beste bayerische Art: höflich, aber er hat sie weggejagt. Und wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden, denn dieser Mann ist so. Ein Mann seines Wortes, aufrichtig, aufrichtig, aufrichtig.» Und Gänswein ergänzt: «Ich kann persönlich bestätigen, dass es so war.»

Papst Franziskus besucht den emeritierten Papst Benedikt XVI. im Kloster Mater Ecclesiae.
Papst Franziskus besucht den emeritierten Papst Benedikt XVI. im Kloster Mater Ecclesiae.

Ratgeber

Im September 2013 sandte Franziskus dem emeritierten Papst vorab ein Interview, das er der Jesuitenzeitschrift «La Civilta Cattolica» gegeben hatte, und bat ihn um einen Kommentar. Benedikt XVI. antwortete mit einem Brief, in dem er vor allem auf Fragen von Abtreibung und Empfängnisverhütung sowie auf das Thema Homosexualität einging, und liess ihn durch Gänswein überbringen. Darin legte er dem amtierenden Papst eine eindeutige Haltung zu diesen Themen nahe. «Ich weiss nicht, ob und wie er sich diese Bemerkungen zu eigen machte», schreibt Gänswein.

In späteren Jahren schickte Franziskus dem Vorgänger seine Enzykliken und Apostolischen Schreiben nur noch im Nachhinein. Sie seien stets begleitet gewesen von einem herzlichen schriftlichen Gruss. Um Kommentare des Vorgängers zu seinen Texten habe Franziskus aber nie wieder gebeten. (kna)


Erzbischof Georg Gänswein und Diego Giovanni Ravelli legen das Evangeliar auf den Sarg des verstorbenen Benedikt XVI. | © Oliver Sittel
12. Januar 2023 | 13:52
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