Bischof Charles Morerod
Story der Woche

Zeugin sagt: Bischof Charles Morerod habe Akten zu Missbrauch verbrannt

Die Bistümer der Schweiz haben sich am 12. September öffentlich verpflichtet, in Zukunft keine Missbrauchs-Akten mehr zu vernichten. Jetzt sagt eine Frau, dass im Bistum Lausanne Genf Freiburg (LGF) bis 2015 mutmasslich wichtige Akten aktiv zerstört worden seien: «In der Diskussion gibt Bischof Morerod mir gegenüber zu, dass er eine Kartonschachtel verbrannt hat, die voll war mit Denunziationen», sagt Anne-Laure Vieli.

Charles Martig

Das Gespräch mit Anne-Laure Vieli soll im November 2015 am Bischofssitz in Freiburg stattgefunden haben. Charles Morerod habe sie eingeladen, um mit ihr über sexuelle Übergriffe im Bistum zu sprechen. «Am 18. November 2015 wurde ich im Ordinariat empfangen von Bischof Morerod, um ihm eine Therapie für die Priester vorzuschlagen, die von ihren Trieben überwältigt waren», schreibt Vieli in einem Brief, der kath.ch vorliegt.

Brief an Joseph Bonnemain enthält brisante Aussagen

Der Brief ist an Joseph Bonnemain gerichtet. Anne-Laure Vieli wendet sich an den Churer Bischof, weil sie weiss, dass Bonnemain als Sonderermittler eingesetzt ist. Er soll unter anderem gegen Charles Morerod wegen Vertuschung von Missbrauchsfällen ermitteln. Das kircheninterne Verfahren läuft. Zeugen und Zeuginnen sollen sich melden. Für Morerod gilt in diesem Verfahren die Unschuldsvermutung.

Bischof Bonnemain versprach an der Vorstellung der Pilotstudie, sich persönlich für die Öffnung der Nuntiatur-Archive einzusetzen.
Bischof Bonnemain versprach an der Vorstellung der Pilotstudie, sich persönlich für die Öffnung der Nuntiatur-Archive einzusetzen.

Kartonschachtel mit Denunziationen verbrannt?

In ihrem Brief erhebt Vieli schwere Vorwürfe gegen Charles Morerod. Er soll mutmasslich Missbrauchsakten verbrannt haben, die er von seinem Vorgänger, Bernard Genoud (1942-2010), übernommen hat. Sie erinnert sich an das Gespräch vom 18. November 2015: «In der Diskussion gibt Bischof Morerod mir gegenüber zu, dass er eine Kartonschachtel verbrannt hat, die voll war mit Denunziationen, unter dem Vorwand, dass diese an Bischof Genoud adressiert waren und dass ihn diese Sache gar nicht betraf.»

Feuer und Kreuz
Feuer und Kreuz

Gemäss dieser Aussage muss die mutmassliche Vernichtung von Missbrauchsakten oder Denunziationsbriefen, die sexuelle Ausbeutung betrafen, in der Zeit zwischen dem Amtsantritt von Charles Morerod auf dem Bischofssitz und dem Gespräch mit Anne-Laure Vieli liegen. Also in der Zeit zwischen seiner Bischofsweihe vom 11. Dezember 2011 und dem Gespräch am Bischofssitz im November 2015.

Morerod verneint Aktenvernichtung öffentlich

Die Aussage der Zeugin steht in direktem Widerspruch zur Aussage von Bischof Charles Morerod in einem Interview mit «La Liberté» am 14. September 2023. Dort sagte Morerod, dass es in den letzten 20 Jahren keine Aktenvernichtung im Bistum LGF gegeben habe.

Diese Aussage von Charles Morerod hat Anne-Laure Vieli darin bestärkt, nicht nur den Sonderermittler Bonnemain zu informieren, sondern mit ihrer Aussage auch an die Öffentlichkeit zu gehen. «In ‹La Liberté› von diesem Donnerstag, 14. September 2023, lese ich, dass in der Diözese seit 20 Jahren keine Archivbestände mehr zerstört wurden. Lüge», schreibt sie in ihrem Brief an Bonnemain.

Arme Seelen im Fegefeuer bekommen von Engeln Rosenkränze gereicht.
Arme Seelen im Fegefeuer bekommen von Engeln Rosenkränze gereicht.

Konfrontiert mit dem Widerspruch zwischen der Aussage in «La Libérté» und der Vernichtung von Kartonschachteln aus dem Bestand seines Vorgängers hält Morerod fest: «Ich sage in dem Artikel, dass wir das kanonische Recht, das die Vernichtung von Sittlichkeitsakten verlangt, nicht angewandt haben. Tatsächlich wurden seit meiner Ankunft Ende 2011 meines Wissens nach keine vernichtet.»

Heuchelei in der Kirche beenden

Im Gespräch mit kath.ch gibt sich Anne-Laure Vieli sehr aufgeräumt. Sie möchte der Heuchelei («hypocrisie») in der Kirche entgegentreten. Deshalb habe sie den Brief an Joseph Bonnemain geschrieben. Sie ist schockiert von den Widersprüchen zwischen der öffentlichen Aussage von Morerod – zwei Tage nach der Präsentation der Pilotstudie in Zürich – und den Aussagen, die der Bischof im Gespräch mit ihr im November 2015 gemacht haben soll.

Vertrauliche Post von Bischof Genoud

Charles Morerod bestätigt das Gespräch mit Anne-Laure Vieli. Er hat aber eine andere Interpretation der Fakten. «Wir sprechen hier nicht von Akten und schon gar nicht von Akten, die mit Missbrauch zu tun haben, sondern von privater Korrespondenz.» Er führt in seiner Stellungnahme zum Vorwurf der verbrannten Akten aus: «Zwei Kartonschachteln enthielten vertrauliche Post, die an Bischof Genoud während seines gesamten Episkopats gerichtet war und weder zu seinen Lebzeiten noch nach seinem Tod geöffnet worden war, auch nicht von den damaligen Mitarbeitern. Ich verfolgte dieselbe Politik: In dem Moment, in dem ich diese Schachteln entdeckte (mehr oder weniger zum Zeitpunkt meiner Ernennung), sagte ich, dass niemand das Recht habe, diese Briefe zu lesen, und bat einen Mitarbeiter, sie zu vernichten.»

Auf Geheiss von Bischof Morerod: zwei Schachteln mit Briefen vernichtet

Die besagten Unterlagen wurden also weder von Charles Morerod noch von seinen Mitarbeitenden in der Kanzlei gesichtet. Warum diese beiden Kartonschachteln im Gespräch zu sexuellen Übergriffen überhaupt Thema wurden, beantwortet der Westschweizer Bischof nicht. Er begründet jedoch seine strikte Haltung: «Juristisch gesehen hätte ich dazu kein Recht gehabt, was mir auch von einem Anwalt bestätigt wurde. Die einzige Person, die das Recht hat, einen verschlossenen Brief zu öffnen, ist die Person, an die der Brief adressiert ist.»

Charles Morerod mit nachdenklicher Geste.
Charles Morerod mit nachdenklicher Geste.

Fakt ist: Bernard Genoud hat seinem Nachfolger zwei Schachteln mit verschlossenen Briefen überlassen, die er nicht als Privatbesitz ansah, sondern als Besitz des Bischofstuhls, also der Diözese. Warum sich Morerod strikt weigerte, diese Unterlagen anzuschauen, ist aufgrund seiner Erklärung nicht nachvollziehbar. Ausser man begibt sich auf eine rein formaljuristische Ebene. Hier gilt für Morerod offenbar das absolute Briefgeheimnis.

Schwierige Archivlage in Freiburg

Bereits in der Missbrauchsstudie der Universität Zürich ist deutlich sichtbar, dass das Diözesanarchiv des Bistums LGF nicht den Anforderungen eines modernen Archivs entspricht. «Die Archivbestände der Diözese … wurden je nach Periode sehr unterschiedlich erschlossen. Für das Mittelalter und die Neuzeit gibt es grösstenteils vollständige Inventare. Die zeitgenössischen Archive hingegen sind weder inventarisiert noch klassifiziert und verfügen über keine Signaturen», hält die Zürcher Studie zum Archiv von LGF fest. «Das Geheimarchiv des Bistums befindet sich auf Anordnung des Bischofs in Auflösung … Aktuell liegen im Schrank, der das Geheimarchiv darstellt und sich in einem Nebenraum  der Privatwohnung des Bischofs befindet, nur noch einige wenige Dokumente.» (S. 29)

Projektleiterinnen der Pilotstudie: Marietta Meier (l.) und Monika Dommann.
Projektleiterinnen der Pilotstudie: Marietta Meier (l.) und Monika Dommann.

Wie das allgemeine Archiv seien auch die Dossiers zu sexuellen Übergriffen auf verschiedene Räume oder Computer verteilt. Die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich sprechen von einer «schwierigen Archivlage». Bei einer solchen Ausgangslage sei es schwer festzustellen, ob Unterlagen fehlten.

Der Churer Bischof Joseph Bonnemain spricht an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.
Der Churer Bischof Joseph Bonnemain spricht an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.

Bis heute war bekannt, dass die Bistümer Lugano und Sitten systematisch Unterlagen zu Missbrauchstätern vernichtet haben. Neu ist nun, dass auch das Bistum LGF unter diesem Verdacht steht. Nach Ansicht von Morerod gab es aber seit seinem Amtsantritt als Bischof keine Aktenvernichtung, die Fälle von Sittlichkeitsvergehen betrafen.

Haben Missbrauchsfälle Bischof Genoud «umgebracht»?

Das Zeugnis von Anne-Laure Vieli ist ein erster Hinweis darauf, dass in Freiburg zwischen 2011 und 2015 Akten von Missbrauchstätern vorsätzlich zerstört wurden. Wie tief das Unbehagen bei Charles Morerod in Sachen Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen zu diesem Zeitpunkt war, belegt folgende Aussage: «Ein Priester hat ihm (Charles Morerod, Anm. der Redaktion) gesagt, er hätte die Briefe öffnen sollen, um nachzuschauen, ob es darin Geld gab. Bischof Morerod ergänzte, dass die Missbrauchsfälle in seiner Diözese Bischof Genoud umgebracht hätten.» Auch das steht im Brief von Anne-Laure Vieli vom 18. September dieses Jahres.

Charles Morerod relativiert und bestätigt zugleich  

Morerod relativiert den Zusammenhang zwischen den Missbrauchsfällen und der Krankheit von Bernard Genoud: «Ich sagte dies nicht als meine persönliche Meinung, sondern ich sagte, dass mehrere Personen dieser Meinung waren und auf einen krebsbegünstigenden Faktor hinwiesen; es war klar, dass das Rauchen der wahrscheinlich ausschlaggebendste Faktor für diesen Krebs war.»

Das tragische Schicksal von Bischof Genoud habe nur indirekt mit den Missbrauchsfällen zu tun. Morerod streitet den Zusammenhang jedoch nicht ab: «Die philippinischen Schwestern, die mit Bischof Genoud im Bistum waren und drei Jahre mit mir dort blieben, sagten mir auch, dass Bischof Genoud seine Ausgänge aus dem Bistumsitz allmählich, aber sehr stark eingeschränkt habe, und schrieben dies nicht in erster Linie seinem Krebs zu (der natürlich allmählich zu dieser Situation geführt hat).» Sprich: Es gab offensichtlich andere Gründe, warum sich Genoud nicht mehr aus dem Bischofssitz begab. Damit bestätigt Morerod im Umkehrschluss auch die Aussage, dass die Missbrauchsfälle Bischof Genoud umgebracht hätten.


Bischof Charles Morerod | © Silvan Maximilian Hohl
10. November 2023 | 06:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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