Zar Amir Ebrahimi und Noora Niasari während des Gesprächs in Locarno.
Religion anders

Zar Amir Ebrahimi: «Die Frauen im Iran haben keine Angst mehr»

Im Film «Shayda», der derzeit in den Kinos läuft, flüchtet eine iranische Mutter mit ihrer Tochter vor dem gewalttätigen Ehemann in ein Frauenhaus. Ein Gespräch mit der Regisseurin Noora Niasari und der Hauptdarstellerin Zar Amir Ebrahimi über die Prägung der Mentalität und die aktuelle Situation der Frauen im Iran.

Sarah Stutte

Noora Niasari, Ihr Film basiert auf Ihren eigenen Kindheitserfahrungen. Erinnern Sie sich an diese Zeit, als Sie mit Ihrer Mutter im Frauenhaus lebten?

Noora Niasari*: Nur bruchstückhaft. Ich war erst fünf Jahre alt. Deshalb habe ich meine Mutter vor fünf Jahren gebeten, alles von damals aufzuschreiben. Sie hat sechs Monate daran gearbeitet. Später übersetzte ich diese gut 150 Seiten ins Englische und habe daraus den ersten Drehbuch-Entwurf geschrieben.

Shayda mit ihrer Tochter Mona. Filmstill "Shayda"
Shayda mit ihrer Tochter Mona. Filmstill "Shayda"

Wie schwer war es für Sie auf der psychologischen Ebene diesen Film zu machen? Ihr persönliches Kindheitstrauma durchlebten Sie so quasi nochmals.

Niasari: Das hat mich auf allen erdenklichen Ebenen bewegt. Ich hatte nicht erwartet, wie schwer es sein würde. Doch die Geschichte war schon immer in mir und musste erzählt werden. Ich bin sehr froh, dass ich sie nun mit dem Publikum teilen und vielleicht dadurch anderen Frauen in ähnlichen Situationen helfen kann.

«Die Mentalität folgt einem überall hin.»

Noora Niasari

Der Ehemann im Film Hussein – lässt sich im Ausland ausbilden, ist westlich geprägt, aber trotzdem noch der strikten islamischen Moral unterworfen. Warum ist dieser kulturelle Druck so stark, auch fern der Heimat?

Niasari: Das kann man strenggläubige Katholiken genauso fragen und findet sich in vielen Kulturen und Religionen wieder. Es gibt extreme Seiten in jeder Religion. Ich sage nicht, dass Hussein in jedem Fall extrem ist. Aber er hat seinen moralischen Kompass, der natürlich ein Produkt seiner Erziehung im Iran ist und auf den Überzeugungen seiner Familie fusst.

Abgeschnittene Haare als Protest der iranischen Frauen.
Abgeschnittene Haare als Protest der iranischen Frauen.

Ich selbst bin nicht im Iran aufgewachsen, aber meine Eltern. In einem System, in der die staatlichen Restriktionen und Beschränkungen die Menschen irgendwie formen. Selbst wenn Iranerinnen und Iraner das Land verlassen, bedeutet das nicht, dass man die Kultur und die Mentalität hinter sich lässt. Sie folgt einem überall hin.

Im Film schneidet sich die Hauptfigur einmal ihre Haare. War das ein direkter Verweis auf das Symbol des iranischen Widerstands der Frauen?

Niasari: Ja, das wollte ich irgendwie aufnehmen. Für mich ist diese Szene Ausdruck einer Wiedergeburt, eines Loslassens und neuen Selbstverständnisses der weiblichen Hauptfigur.

«Meine Mutter war mir ein Vorbild für die Tapferkeit iranischer Frauen.»

Noora Niasari

Wie schätzen Sie beide die momentane Situation der Frauen im Iran ein?

Niasari: Während wir den Film fertigstellten, fand im Iran die Frauenrevolution statt. Wir waren alle schockiert und untröstlich wegen all dem Blutvergiessen und all der Opfer. Junge Frauen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Ich weiss nicht, ob ich hoffnungsvoll oder resigniert sein soll. Ich denke, dass die Tapferkeit der iranischen Frauen für die ganze Welt sichtbar wurde.

Mit diesem Gefühl bin ich aufgewachsen in Bezug auf meine Mutter. Und das ist auch der Grund, warum ich diesen Film gemacht habe. Ich wollte, dass die ganze Welt ihren Mut, ihre Tapferkeit und ihren Stolz sehen kann. Mein Herz ist bei den iranischen Frauen.

Die iranische Delegation des Gewinnerfilms 2023 in Locarno hielt bei der Preisverleihung ein Banner mit der Aufschrift "Woman Life Freedom" hoch.
Die iranische Delegation des Gewinnerfilms 2023 in Locarno hielt bei der Preisverleihung ein Banner mit der Aufschrift "Woman Life Freedom" hoch.

Zar Amir Ebrahimi**: Es gibt keinen Weg mehr zurück. Vor drei Jahren konnte ich mir so etwas noch nicht vorstellen. Für mich ist es keine Revolution, sondern eine «Evolution» – eine Entwicklung. Für mich ist es sehr wichtig, dass diese Frauen die Ängste hinter sich gelassen haben, die wir all diese Jahre verspürten. Selbst Männer sind unter den Demonstranten und unterstützen die Frauen.

Es gibt ein Verständnis für den Protest und selbst, wenn man nicht alle Menschen auf der Strasse sieht, wächst dieser Widerstand. Doch ein Wandel braucht Zeit. Die Frauen riskieren ihr Leben, aber sie gehen dieses Risiko ein, weil für sie diese Angst vor der Unterdrückung nicht mehr existiert. Das ist bewundernswert und ein grosser Fortschritt.

«Meine Heimat ist überall.»

Zar Amir Ebrahimi

Zar Amir Ebrahimi, im Gegensatz zu Noora Niasari sind Sie im Iran aufgewachsen. Haben Sie jetzt einen anderen Blick auf den Iran? Fühlt es sich immer noch wie eine Heimat an?

Zar Amir Ebrahimi: Selbst als ich noch keine Probleme mit dem Regime hatte, konnte ich mich in Teheran nicht wirklich zu Hause fühlen. Das gleiche Gefühl habe ich aber auch in meiner Wahlheimat Frankreich. Ich reise deshalb viel. Ich bin nicht wirklich abhängig von einer Kultur oder einer Sprache. Meine Heimat ist überall. Doch der Iran ist immer in mir. Ich liebe das Land und ich würde gerne eines Tages zurückkehren und herumreisen und meine Freunde besuchen. Aber ich glaube, ich würde nicht dort bleiben wollen. Dazu bin ich zu sehr Weltbürgerin.

Teilnehmerinnen an einer Demonstration in der Schweiz für Mahsa Amini.
Teilnehmerinnen an einer Demonstration in der Schweiz für Mahsa Amini.

Noora Niasari: Als ich zum ersten Mal zurück in den Iran ging, war ich 19 Jahre alt und dachte: Jetzt kehre ich nach Hause zurück. Aber es war nicht so. Es gibt Momente, in denen man das Gefühl hat, dass man Zuhause ist, weil die Menschen dieselbe Sprache sprechen wie du. Aber dann sagen sie dir: «Du hast einen Akzent. Du bist nicht von hier».

Und dann wird man sich der eigenen Fremdheit schmerzlich bewusst. Dann kommst du zurück nach Australien und die Menschen dort fragen: «Woher bist du ursprünglich?» Es ist ein ständiger Kreislauf, weshalb ich gelernt habe, in mir selbst ein Zuhause zu finden. Das klingt sehr nach Hippie. Aber meine Heimat sind die Menschen, mit denen ich mich umgebe.

Regisseurin Noora Niasari bei der Piazza Grande-Premiere in Locarno 2023.
Regisseurin Noora Niasari bei der Piazza Grande-Premiere in Locarno 2023.

Zar Amir Ebrahimi: Ich hatte bisher nie Heimweh nach dem Iran. Aber wenn ich höre, wie jemand Farsi spricht oder iranisches Essen rieche, dann erinnere ich mich plötzlich an das Haus meiner Grossmutter. Solche Momente gibt es, aber die sind nicht beständig.

«Es geht mir nicht nur um Politik, sondern um Menschlichkeit.»

Zar Amir Ebrahimi

Zar Amir Ebrahimi, Sie wurden sehr früh, vor allem mit Ihren letzten Filmen, zu einer starken Stimme für den Kampf iranischer Frauen. Sie haben Ihre Stimme auch der 2013 hingerichteten Reyhaneh Jabbari in der Dokumentation «Sieben Winter in Teheran» geliehen. Warum ist es Ihnen so wichtig, mit Ihrer Arbeit auch ein politisches Statement abzugeben?

Zar Amir Ebrahimi: Das habe ich mir nicht bewusst ausgesucht, es war eher so, dass diese Projekte auf verschiedenen Pfaden zu mir kamen. Sie alle sind wichtig für mich und ich denke, dass wir diese unerzählten Geschichten über das Leiden von Frauen, aber auch über ihre Selbstermächtigung erzählen müssen. Die Geschichte von Reyhaneh war dabei besonders, weil es dort nur um meine Stimme ging.

Reyhaneh Jabbari verteidigt sich vor Gericht. Filmstill aus "Sieben Winter in Teheran"
Reyhaneh Jabbari verteidigt sich vor Gericht. Filmstill aus "Sieben Winter in Teheran"

Als die deutsche Regisseurin Steffi Niederzoll mich dafür anfragte, war ich anfangs besorgt. Ich wollte mich erst mit der Mutter von Reyhaneh treffen, um zu wissen, ob sie mit meiner Stimme für ihre Tochter einverstanden ist. So wurde ich ein Mitglied ihrer Familie. Sie hat mich einfach umarmt und das war ein sehr starkes Gefühl. Es geht mir also nicht nur um Politik, sondern vor allem um Menschlichkeit.

Zar Amir Ebrahimi, Hauptdarstellerin in "Shayda"
Zar Amir Ebrahimi, Hauptdarstellerin in "Shayda"

Es geht um all diese Gefühle, die wir als Menschen teilen. Um die Reise, die wir gemeinsam machen und die Entscheidungen, die wir dabei treffen. Mich berührt die Geschichte von Reyhaneh immer noch. Ich habe das Gefühl, ich leide dabei, aber ich lerne auch viel. Es geht nicht nur darum, dass ich etwas gebe. Es ist ein Austausch. Ich möchte politisch sein, aber ich habe auch viel aus all diesen Filmen und Begegnungen gelernt. Ich habe mich dabei selbst entdeckt.

Das Gespräch fand im Rahmen des Filmfestivals Locarno 2023 statt. Dort lief «Shayda» als europäische Premiere zum Abschluss des Festivals auf der Piazza Grande. (sas)

*Noora Niasari ist eine iranische Regisseurin und Drehbuchautorin. Sie wurde in Teheran geboren, wuchs aber in Australien auf. Mit ihrer Mutter floh sie als Fünfjährige in ein Frauenhaus und suchte dort Schutz vor dem gewalttätigen Vater. «Shayda» ist ihr Spielfilmdebüt.

**Zar Amir Ebrahimi ist eine iranische Schauspielerin und Produzentin. Für Ihre Rolle in «Holy Spider» erhielt sie 2022 in Cannes den Preis für die Beste Darstellerin. 2008 musste sie aus dem Iran fliehen, da wegen eines publik gemachten privaten Sex-Videos gegen Ebrahimi ermittelt wurde. In ihrer Abwesenheit wurde sie zu zehn Jahren Berufsverbot im Iran verurteilt. Aufgrund des Falles wurde ein Gesetz erlassen, welches die Produktion sexuell freizügiger Medien unter Todesstrafe stellte.

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Zar Amir Ebrahimi und Noora Niasari während des Gesprächs in Locarno. | © Locarno Film Festival
13. Januar 2024 | 07:00
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