Der Priester Wolfgang Rothe nimmt an einem Protest gegen den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch teil, 19. Januar 2022 in München.
Schweiz

Wolfgang F. Rothe: «Die konservative Kirche meiner Kindheit war eine heile Welt für mich»

Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe wurde vom konservativen Kleriker zum Kirchenrebellen. Dazu haben seine eigenen Erfahrungen von Missbrauch und Moralismus im traditionalistischen Milieu beigetragen. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Josef Henfling. Missbrauch sei dort, «wo der lehramtlichen Sexualmoral eine zentrale Rolle zugesprochen wird, vorprogrammiert.»

Annalena Müller

Herr Rothe, Sie sind vom konservativen Kleriker zum Kirchenrebellen geworden – wie kam das?

Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling.
Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling.
Wolfgang F. Rothe*: Das war ein langer und schmerzlicher Lernprozess, der von meinen Missbrauchserfahrungen zwar nicht verursacht, aber doch angetrieben und beschleunigt wurde. Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass die rechtgläubige und heiligmässige Aura, mit der sich manche kirchlichen Amtsträger umgeben, manchmal nur ein Deckmantel und mitunter auch eine Tarnung ist.

«Man traut dem mutmasslichen Täter nicht zu, dass er Missbrauch begeht.»

Was meinen Sie damit?

Rothe: Vielen Missbrauchsbetroffenen wurde und wird nicht geglaubt. Einfach, weil man dem mutmasslichen Täter nicht zutraut, dass er Missbrauch begeht. Nach dem Motto: Das kann nicht sein. Das würde der doch niemals tun, weil er so rechtgläubig, so fromm ist. Und das wissen natürlich auch mögliche Täter und nutzen das unter Umständen aus.

Ein Priester und sein langer Schatten.
Ein Priester und sein langer Schatten.

Was hat Sie ursprünglich an dem konservativ-traditionalistischen Milieu angezogen?

Rothe: Die Vertrautheit. Ich bin selbst in einem gesellschaftlich und religiös recht konservativen Umfeld aufgewachsen. Aber dieses Umfeld war nicht moralistisch geprägt. Die eher konservative Kirche meiner Kindheit war eine Art heile Welt für mich. Ich habe nie negative Erfahrungen gemacht. Die mir von klein auf vertrauten religiösen Werte und Frömmigkeitsformen haben mich geprägt.

«Den Moralismus habe ich wohl oder übel in Kauf genommen.»

All dies habe ich später auch anderswo gesucht. Dadurch kam ich schliesslich in die Nähe von Organisationen wie der Katholischen Pfadfinderschaft Europas und dem Opus Dei. Den dort vielfach vorherrschenden Moralismus, mit dessen Hilfe Menschen auch kontrolliert und manipuliert werden, habe ich wohl oder übel in Kauf genommen.

«Sodom» von Frédéric Martel
«Sodom» von Frédéric Martel

«Die Sexualmoral ist ein zentrales Moment der religiösen Unterweisung in diesem Milieu.»

Was meinen Sie mit Moralismus – was muss ich mir darunter vorstellen?

Rothe: Dass die Sexualmoral zum Massstab des Katholischen schlechthin erklärt wird. Das ist ein ganz zentrales Moment der religiösen Unterweisung und Verkündigung in diesem Milieu.

Wie unterscheidet sich das vom konservativen Katholizismus Ihrer Kindheit?

Rothe: In meiner Kindheit habe ich nie eine Predigt gehört, in der es um Sexualität oder Sexualmoral gegangen ist. Da ging es um Gott und Glauben, Christus, Liturgie und Feiertage, aber niemals um die Moral. Das war mir völlig neu.

Joseph Henfling erhebt schwere Vorwürfe - auch gegen einen Churer Priester.
Joseph Henfling erhebt schwere Vorwürfe - auch gegen einen Churer Priester.

Sie vertreten Josef Henfling kirchenrechtlich. Seine Geschichte wirkt geradezu unglaublich: Missbrauch durch zwei Priester in der österreichischen Diözese St. Pölten, versuchte Vergewaltigung durch einen Schweizer Priester und sexuelle Belästigung durch einen deutschen Bischof. Weshalb sind Sie sicher, dass seine Geschichte glaubwürdig ist?

Rothe: Im Umgang mit Missbrauchsbetroffenen ist es wichtig, zunächst einfach zuzuhören. Manche Betroffene brauchen viel Zeit, um das Unsagbare überhaupt zur Sprache zu bringen, aus anderen sprudelt es geradezu heraus. Zu Letzteren gehört auch Josef Henfling. Ich habe jeweils mehrere Stunden mit ihm gesprochen.

«Bei näherem Hinsehen ergibt sich eine plausible Geschichte.»

Beim ersten Mal habe ich ihn einfach erzählen lassen. Beim zweiten Mal habe ich seine Schilderungen schriftlich, und zwar in chronologischer Reihenfolge, festgehalten. Beim dritten Mal habe ich ihn gebeten, mir alles vorzulegen, was er an Dokumenten hat, um seine Schilderungen zu untermauern. Spätestens dann wurde klar, dass sich aus all dem, was anfangs in einem gewissen Durcheinander aus ihm herausgesprudelte, bei näherem Hinsehen eine durchwegs nachvollziehbare, plausible und insofern glaubwürdige Geschichte ergibt.

Bevor Josef Henfling sich an Sie gewandt hat, hatte er ja schon andernorts Hilfe gesucht. Wieso hat es so lange gedauert, bis sich da jetzt überhaupt etwas tut?

Rothe: Bevor er zu mir kam, hat Josef Henfling seine Geschichte vier verschiedenen Priestern erzählt, darunter war auch der frühere Bischof von St. Pölten, Klaus Küng. Keine diese vier Personen scheint etwas zu seinen Gunsten unternommen zu haben. Es wurden keine Untersuchungen eingeleitet.

Unterschrift
Unterschrift

Herr Henfling konnte seine Erfahrungen nicht zu Protokoll geben. Damit ist ein schwerer Rechtsverstoss begangen worden. Denn seit 2019 sind alle Kleriker und Ordensleute verpflichtet, einen möglichen Missbrauchsfall sofort dem zuständigen Bischof zu melden. Dieser Verpflichtung sind die betreffenden Personen offenbar nicht nachgekommen.

«Was tabuisiert und verteufelt wird, das bricht sich früher oder später unkontrolliert Bahn.»

Henfling ist nach eigener Aussage in einem konservativ-traditionalistischen Milieu aufgewachsen. Auch Sie kommen aus diesem Milieu. Sie beide sagen, diese Umgebung ermögliche Missbrauch. Inwiefern?

Rothe: In diesem Milieu gilt die lehramtliche Sexualmoral als der Massstab des Katholischen schlechthin. Katholisch ist, wer die lehramtliche Sexualmoral bejaht, verteidigt und – zumindest nach aussen hin – lebt. Insofern ist die lehramtliche Sexualmoral in diesem Milieu omnipräsent. Dieser Sexualmoral zufolge aber ist jegliche Form gelebter Sexualität ausserhalb der nach kirchlichem Verständnis gültigen Ehe verboten. Jede andere Form gelebter Sexualität wird tabuisiert und regelrecht verteufelt. Was aber tabuisiert und verteufelt wird, das bricht sich früher oder später unkontrolliert Bahn. Insofern ist Missbrauch überall dort, wo der lehramtlichen Sexualmoral eine solch zentrale Rolle zugesprochen wird, geradezu vorprogrammiert.

Junges Paar
Junges Paar

Das ist eine steile These. Worauf gründen Sie diese?

Rothe: Wir wissen aus vielen Studien und Gutachten, dass nur ein geringer Prozentsatz der klerikalen Missbrauchstäter ein krankhaftes sexuelles Interesse an Kindern oder Heranwachsenden hat. Die meisten Täter haben ursprünglich eine völlig normale sexuelle Orientierung. Sie sind also entweder hetero- oder homosexuell mit einer sexuellen Präferenz für Gleichaltrige.

«Es besteht die Gefahr, dass sie sich an den Schwächsten vergreifen.»

In einem moralistischen Milieu, in dem sie ihre völlig normalen und auch legitimen sexuellen Bedürfnisse nicht ausleben können, besteht zum einen die Gefahr, dass sie sich an den Schwächsten vergreifen, also an denen, an die man leicht herankommt und die sich leicht zum Schweigen bringen lassen. Und zum anderen besteht die Gefahr, dass sich ihre Sexualität nicht normal entfalten und entwickeln kann und dass sie im Grunde auf Dauer in der Pubertät gefangen sind.

Das ist die Seite der Täter. Von den Opfern ausgehend – welche Rolle spielt priesterliche Autorität im traditionalistischen Milieu?

Rothe: Eine sehr grosse. Priester gelten in diesem Milieu als absolute Autoritäten, denen man Ehrfurcht und Gehorsam schuldet. Wie der Fall von Josef Henfling eindrücklich zeigt, ist die Versuchung hoch, diese Autorität zu missbrauchen.

Ein Bub versteckt sich.
Ein Bub versteckt sich.

Josef Henfling hat gegen den Churer Priester Andreas (Pseudonym) Anzeige wegen versuchter Vergewaltigung erstattet. Der Priester hat enge Verbindungen zur erzkatholischen Gruppe «Feuerkreis Nikolas von Flüe». Was wissen Sie über den Schweizer Jugendbund?

Rothe: Meines Wissens ist der «Feuerkreis» eine eigenständige Organisation. Aber in der Vergangenheit gab es wohl enge personelle Verbindungen zur Katholischen Pfadfinderschaft Europas, in deren Umfeld es aktuell einige Missbrauchsvorwürfe gibt. Beide Organisationen gehören in jedem Fall demselben fundamentalistisch-katholischen und moralistischen Milieu an.

«Missbrauch gibt es in allen kirchlichen Milieus – und keineswegs nur in der Kirche.»

Ein weiterer Priester mit früher engen Kontakten zum «Feuerkreis» steht aktuell in Liechtenstein vor Gericht. Er soll sich an einem kleinen Mädchen vergangen haben. Ist klerikaler Missbrauch eine Milieu-Frage?

Rothe: Diese Frage kann ich mit einem klaren Nein beantworten: Missbrauch ist keine Milieu-Frage. Missbrauch gibt es in allen kirchlichen Milieus – so wie es Missbrauch ja auch keineswegs nur in der Kirche gibt. Ein Missbrauchstäter kann genauso in Soutane wie in Jeans und Rollkragenpullover daherkommen. Meiner Erfahrung nach spielen im traditionalistisch-moralistischen Milieu aber einige Risikofaktoren eine deutlich grössere Rolle als in anderen kirchlichen Milieus. Einfach weil priesterliche Autorität, Homophobie und Sexualmoral dort einen viel grösseren Stellenwert haben als anderswo.

«Ich wünsche mir darum, dass Autoritäten in Kirche und Staat solche Gruppen stärker kontrollieren.»

Die «Pfadibewegung Schweiz» distanziert sich explizit von abgeschotteten Jugendverbänden wie dem «Feuerkreis». Welchen Umgang wünschen Sie sich von den zuständigen Bischöfen mit solchen Gruppierungen?

Rothe: Wer sich mit der Aura besonderer Rechtgläubigkeit, Frömmigkeit und Ergebenheit gegenüber den kirchlichen Autoritäten umgibt, geniesst in der Kirche häufig einen nahezu unbeschränkten Vertrauensvorschuss. Einmal mehr zeigt sich: Macht braucht Kontrolle – gerade auch in der Kirche. Ich wünsche mir darum, dass die zuständigen Autoritäten in Kirche und Staat solche Gruppen stärker in den Blick nehmen und kontrollieren, und das nicht nur in der Schweiz und in Deutschland, sondern überall.

*Wolfgang F. Rothe (56) war früher Priester des Bistums St. Pölten in Österreich. Später wechselte der Kirchenrechtler nach München. Der offen schwul lebende Priester kritisiert regelmässig Sexualmoral, Vertuschung und Machtmechanismen in der katholischen Kirche.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene finden Sie hier.

Für eine unabhängige Beratung können Sie sich an die «Opferhilfe Schweiz» wenden.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Der Priester Wolfgang Rothe nimmt an einem Protest gegen den Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch teil, 19. Januar 2022 in München.
22. Dezember 2023 | 06:00
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