Thomas Jäger ist in der Schweiz mit Berufsverbot belegt. Er darf nicht mit Kindern arbeiten.
Story der Woche

Traditionalistische Pfadi: Missbrauchsvorwürfe gegen zwei Priester

Pfarrer Thomas Jäger steht vor Gericht. Er soll ein Mädchen unsittlich berührt und andere gefilmt haben. Gegen den Churer Priester Andreas wird wegen versuchter Vergewaltigung ermittelt. Beide Kleriker waren geistliche Leiter beim Pfadibund «Feuerkreis Niklaus von Flüe». Die Struktur und Abschottung mache den Bund zu einer «Hochrisikozone», so Experten.

Annalena Müller

«Neinsagen war keine Option. Schon gar nicht gegenüber einem Priester», sagt Josef Henfling (39). Alles in seiner Jugend sei auf Gehorsam und Gottesfurcht ausgerichtet gewesen. Insgesamt habe Henfling Übergriffe durch vier Kleriker erlebt. Einer der mutmasslichen Täter war der Churer Priester Andreas*.

Gemeinsame Recherchen von kath.ch und der «SonntagsZeitung» zeigen: Priester Andreas ist der zweite Kleriker aus dem Umkreis einer erzkatholischen Pfadigruppe, dem Missbrauch vorgeworfen wird. Ein weiterer steht aktuell wegen Kindesmissbrauch in Liechtenstein vor Gericht.

Rechtskatholisches Milieu

Henfling ist 28, als Andreas versucht haben soll, ihn zu vergewaltigen. Er sei ein ideales Opfer für klerikalen Missbrauch gewesen. So sagt er es heute selbst. Um diese Aussage zu verstehen, hilft ein Blick in Henflings Jugend.

Im frühren Seminar Zwettl ist heute die Polytechnische Schule untergebracht.
Im frühren Seminar Zwettl ist heute die Polytechnische Schule untergebracht.

Die Schulzeit verbringt er in Zwettl (Ö). Dort besucht er das Gymnasium und wohnt im rechtskatholischen Seminar des Ordens Diener Jesus und Mariens. Dort lernen die Knaben Gehorsam und klerikale Ehrfurcht. In den späten 1990er Jahren erregt das Heim das Misstrauen der Behörden. 2001 wird es geschlossen.

Gott, Gehorsam und Unterordnung

Der Tag der Seminaristen ist durchgetaktet. Um 6:15 hören die Knaben die Messe im lateinischen Ritus. Danach folgt der Schultag am örtlichen Gymnasium. Das Angelus Domini-Gebet läutet den Nachmittag ein. Nach dem Mittagessen folgen Schulaufgaben und etwas Freizeit. Rosenkranzgebet, Nachtessen und Abendgebet schliessen den Tag.

«Ich musste mich dem Leben dort unterwerfen, sonst hätte ich gehen müssen. Und ich konnte nirgendwo hin. Das wussten auch die Täter und haben es ausgenutzt».

Josef Henfling

Jeden Mittwoch ist Beichte. Für die Seminaristen ist sie verpflichtend. Genau wie die Teilnahme am Herz-Jesu-Sühne-Gottesdienst, der am ersten Freitag im Monat gefeiert wird. Er dauert von 20:00 bis Mitternacht. Alles im Leben der Heranwachsenden dreht sich um Gott, Gemeinschaft und Unterordnung. Auch an den Wochenenden, welche die Knaben in der katholischen Pfadi verbringen.

Heute sagt Henfling, er sei im Seminar Zwettl zum Opfer klerikalen Missbrauchs erzogen worden. «Ich musste mich dem Leben dort unterwerfen, sonst hätte ich gehen müssen. Und ich konnte nirgendwo hin. Das wussten auch die Täter und haben es ausgenutzt».

Der «Fall Andreas»

Bei einem Skilager trifft der Schüler Henfling 1999 erstmals auf den Schweizer Priester Andreas. Zu der Zeit gibt es private Verbindungen zwischen führenden Mitgliedern der Katholischen Pfadfinderschaft Europas in Zwettl und dem Priester «Andreas», der im strengkatholischen Pfadibund  «Feuerkreis Niklaus von Flüe» aktiv ist. Über Seminar- und Pfadi-Netzwerke bleiben sie in losem Kontakt.

Joseph Henfling erhebt schwere Vorwürfe - auch gegen einen Churer Priester.
Joseph Henfling erhebt schwere Vorwürfe - auch gegen einen Churer Priester.

2012 folgt Henfling der Einladung des Priesters Andreas und siedelt in die Schweiz über. Andreas vermittelt ihm einen Job beim katholischen Sender «K-TV». In der Folge soll es zu gewaltsamen Übergriffen gekommen sein. Zu dieser Zeit war Andreas bereits eine wichtige Figur beim «Feuerkreis».

Recherchen der «SonntagsZeitung» und kath.ch zeigen: Priester Andreas ist einer von zwei Klerikern aus dem Umkreis der Pfadigruppe, dem Missbrauch vorgeworfen wird. Der andere ist Thomas Jäger, der aktuell wegen Kindesmissbrauchs in Liechtenstein angeklagt ist.

Der «Fall Jäger»

Bereits im März dieses Jahres stand Jäger wegen des mutmasslichen Konsums von Kinderpornographie vor Gericht. Mit Jägers Handy waren entsprechende Seiten im Internet besucht worden. Das erste Verfahren wurde eingestellt, da der Staatsanwalt nicht restlos beweisen konnte, dass es tatsächlich Jäger selbst war, der die Seiten auf seinem Handy aufrief.

Die Staatsanwaltschaft in Vaduz
Die Staatsanwaltschaft in Vaduz

Nachgewiesen ist: Jäger filmte Mädchen, «mit Fokus auf den Ausschnitt der T-Shirts der Minderjährigen beziehungsweise auf die kindliche Mädchenbrust.» Die Polizei fand bei ihm drei solcher Videoaufnahmen. So steht es in einem rechtskräftigen Urteil des Staatsgerichtshofes von Liechtenstein. In mindestens einem Fall machte der Kleriker die Filmaufnahmen während eines Pfadianlasses des «Feuerkreis» in der Schweiz.

Wegen der «selber erstellten, auf die kindliche Mädchenbrust ausgerichteten Videoaufnahmen» ist Jäger in der Schweiz seit März 2020 mit einem Berufsverbot belegt. Die Regierung und zwei Gerichte kamen auch nach Einsprüchen Jägers zum Schluss, er sei nicht geeignet für regelmässigen Kontakt mit Kindern und Jugendlichen. Seit 2020 ist Jäger auch im «Feuerkreis» nicht mehr aktiv.

Pfadi «Feuerkreis Niklaus von Flüe»

Thomas Jäger und Priester Andreas haben einige Gemeinsamkeiten. Beide Priester waren in ihren Gemeinden als streng-konservativ bekannt. Beide wurden von Wolfgang Haas zum Priester geweiht: Jäger 2006 in Vaduz, Andreas 1998 in Chur.

Ein Feuerkreis. Das ursprüngliche Foto haben wir aufgrund von Klagedrohung offline genommen.
Ein Feuerkreis. Das ursprüngliche Foto haben wir aufgrund von Klagedrohung offline genommen.

Eine weitere Gemeinsamkeit: Beide Kleriker waren über viele Jahre geistliche Leiter im Pfadibund «Feuerkreis Niklaus von Flüe». Davon zeugen Fotos auf der Webseite. Zum Beispiel ein Bild von Jäger, das ihn auf einer Wallfahrt nach Lourdes im Jahr 2016 beim Halten der Messe zeigt. Neun Scouts und zwei Leiter des «Feuerkreises» seien dabei gewesen, heisst es bei den Bildern. 

Dieses und andere Fotos von Jäger und Andreas sind inzwischen von der Webseite verschwunden. Seit kurzem ebenfalls verschwunden sind alle Namen von Leitungspersonen. Laut Stellungnahme des «Feuerkreises» diene dies dem Schutz der Mitglieder, da «Journalisten (…) mehrmals Inhalte vom «Feuerkreis Niklaus von Flüe» in ihrer Berichterstattung missbräuchlich verwendet» hätten.

Starkes Gewicht der Priester

Laut Experten handelt es sich beim «Feuerkreis» um eine erzkatholische Gruppe. Jungen und Mädchen sind in getrennten Abteilungen. Die Kinder werden in einem hierarchischen System geführt, an dessen Spitze Kleriker stehen. Katechismus und Lehramt prägen das Weltbild und Moral. Neben Campingausflügen und Wallfahrten gehören auch Besuche bei einem Schwyzer Priester und Exorzisten zum Programm. Einer breiten Öffentlichkeit wurde der Priester in den letzten Monaten durch seine öffentliche Kritik am Churer Verhaltenskodex bekannt.

Konservative Priester haben ihn bekämpft und müssen ihn nun nicht unterschreiben: Churer Verhaltenskodex
Konservative Priester haben ihn bekämpft und müssen ihn nun nicht unterschreiben: Churer Verhaltenskodex

Ein ehemaliges Mitglied sagt über den «Feuerkreis»: «Am meisten Gewicht hat das, was der Geistliche sagt, quasi von oben nach unten.» Im «Feuerkreis» habe es aber nicht nur autoritäre Pfarrherren der alten Schule gegeben, sondern auch Priester, die sich mit viel Feingefühl der Seelsorge verpflichtet fühlten, so der Insider.

Kritik von Fachleuten

Fachleute sehen die starke Position der Kleriker im «Feuerkreis» kritisch. Sie entspreche heute nicht mehr den Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen, die an kirchlichen Freizeitangeboten teilnehmen, sagt Stefan Loppacher, Präventionsbeauftragter des Bistums Chur. «Bei Jungwacht Blauring, zum Beispiel, gibt es bewährte Schutzkonzepte gegen Übergriffe», sagt der Präventionsexperte. 

Stefan Loppacher bezeichnet Gruppen wie «Feuerkreis» als «Hochrisikozonen».
Stefan Loppacher bezeichnet Gruppen wie «Feuerkreis» als «Hochrisikozonen».

Das sei beim «Feuerkreis Niklaus von Flüe» anders. «Der Priester ist in solchen Kreisen oft nicht nur Seelsorger, sondern auch Lagerleiter, er nimmt alle möglichen Rollen ein und ist den Kindern sehr nahe.» Die Gruppe sei nicht greifbar, nicht nur, weil auf der Internetseite keine Namen von Verantwortlichen mehr sichtbar seien. Die Präventionsstelle des Bistums hätte keinen Kontakt zu ihnen. «Es ist ein geschlossenes, intransparentes System. Und das erachte ich, gerade wenn es um Kinder und Jugendliche geht, als äusserst heikel.» Im Interview mit der «SonntagsZeitung» bezeichnet Loppacher Gruppen wie «Feuerkreis» als «Hochrisikozonen».

Pfadigruppen gehen auf Distanz

Der Verband «Pfadibewegung Schweiz» distanziert sich auf Anfrage explizit «von abgeschotteten Gruppen aus dem katholischen oder evangelischen Umfeld». Dazu zähle auch der «Jugendbund Feuerkreis Niklaus von Flüe», sagt Annina Reusser vom Verband. «Sie leben und erziehen ihre jungen Mitglieder nach sehr konservativen Grundsätzen, die nicht mit den Werten der Pfadibewegung Schweiz und den Pfadi-Weltverbänden WAGGGS und WOSM übereinstimmen.» Sie seien in keinem dieser Verbände Mitglied. «Entsprechend haben unsere Präventionskonzepte für sie keine direkte Relevanz und sie sind nicht Teil unseres Krisenmanagements.» 

Alle Namen der Leitungspersonen sind seit kurzem von der Webseite verschwunden.
https://www.feuerkreis.ch/wir-ueber-uns/vorstand
Alle Namen der Leitungspersonen sind seit kurzem von der Webseite verschwunden. https://www.feuerkreis.ch/wir-ueber-uns/vorstand

Auf Anfrage erklärt Jeremias Jund, Informationsbeauftragter des «Feuerkreises»: «Der «FNF» hat ein Schutzkonzept und wendet dieses ohne Ausnahme an. Dieses wird durch die Bundesleitung regelmässig überprüft und aktualisiert. Leitungspersonen werden bezüglich Missbrauchsprävention geschult. Dabei halten wir uns an aktuelle Veröffentlichungen von professionellen Beratungsstellen. Das Konzept wird für Medienschaffende nicht zur Verfügung gestellt.»

Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling.
Der Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe vertritt den Missbrauchsbetroffenen Joseph Henfling.

Kirchenrechtler Wolfgang F. Rothe, der Josef Henfling vertritt, zweifelt an der Effektivität eines Schutzkonzeptes bei streng lehramtlich ausgerichteten Pfadibünden. Das Problem sei die enorme Autorität, welche in diesen Kreisen Priestern zugeschrieben werden. «Ihnen schuldet man Ehrfurcht und Gehorsam. Wie der Fall von Josef Henfling eindrücklich zeigt, ist die Versuchung hoch, diese Autorität zu missbrauchen.»

Für alle Personen gilt die Unschuldsvermutung.

*Andreas ist ein Pseudonym. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.

** Seidebar aktualisert: am 23.12.2023 um 08.00.

Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene

Eine Liste mit kirchlichen und weiteren Anlaufstellen für Missbrauchsbetroffene finden Sie hier.

Für eine unabhängige Beratung können Sie sich an die «Opferhilfe Schweiz» wenden.

Wer die eigene Geschichte öffentlich machen möchte, kann sich an die Redaktion von kath.ch wenden. Diese betreibt einen kritischen und unabhängigen Journalismus. Die Redaktions-Mailadresse lautet redaktion@kath.ch.


Thomas Jäger ist in der Schweiz mit Berufsverbot belegt. Er darf nicht mit Kindern arbeiten. | © Liechtensteiner Vaterland / Tatjana Schnalzger
17. Dezember 2023 | 08:39
Lesezeit: ca. 6 Min.
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Die Stellungnahme des «Feuerkreis Niklaus von Flüe» im Wortlaut:

«Über die Vorwürfe gegen einen Priester, welcher bei uns im Verein aktiv war, sind wir bestürzt. Der
Feuerkreis toleriert keine Art von Missbrauch.

Die Anschuldigungen beziehen sich weder auf eine Feuerkreis-Aktivität, noch war der damals 28.-
jährige Josef Henfling jemals ein Feuerkreismitglied.

Sobald die Bundesleitung von den Vorwürfen durch die öffentliche Berichterstattung erfahren hat,
haben wir unsere Mitglieder informiert und umgehend dazu aufgerufen, jede Art von Missbrauch bei
uns und bei den staatlichen Behörden zu melden. Bislang haben wir intern keine Hinweise erhalten.
Der Beschuldigte wird bis zur vollständigen Klärung der Vorwürfe, in gegenseitigem Einvernehmen,
allen Feuerkreisaktivitäten fernbleiben (Beschluss Bundesleitung vom Do. 30. Nov. 2023). Wir sind an
einer fairen und wahrheitsgetreuen Aufklärung interessiert.

Der FNF hat ein Schutzkonzept und wendet dieses ohne Ausnahme an. Dieses wird durch die
Bundesleitung regelmässig überprüft und aktualisiert.

Leitungspersonen werden bezüglich Missbrauchsprävention geschult. Dabei halten wir uns an
aktuelle Veröffentlichungen von professionellen Beratungsstellen.

Der gesamte Onlineauftritt vom Feuerkreis Niklaus von Flüe wird laufend aktualisiert und angepasst.
Jedoch haben verschiedene Journalisten, entgegen den gesetzlichen Vorgaben zu Urheberrecht und
Persönlichkeitsschutz, mehrmals Inhalte vom Feuerkreis Niklaus von Flüe in Ihrer Berichterstattung
missbräuchlich verwendet. Zum Schutz unserer Mitglieder sahen wir uns darum gezwungen einige
Inhalte provisorisch zu entfernen.»

Stellungnahme des Feuerkreis Niklaus von Flüe, 22.12.2023:

1.Der Pfadibund «Feuerkreis Niklaus von Flüe» hält fest, dass Priester nicht an der Spitze standen oder stehen, sie sind religiöse Begleiter der Gruppen.
2.Die Gruppen im Feuerkreis werden geleitet von Laien, jungen Frauen und Männern. Alle Mitglieder sind ehrenamtlich tätig.
3.Der Feuerkreis bezeichnet sich als scoutistischen und katholischen Pfadfinderbund und orientiert sich somit an Lehramt und an den Schriften von BadenPowell, dem Gründer der Pfadfinder.
4.In keinem Fall und zu keiner Zeit haben Mitglieder des Jugendbundes je einen Exorzisten im Dienst aufgesucht.