Disney verfilmt den eigenen Zeichentrickklassiker neu, mit einer dunkelhäutigen Hauptdarstellerin.
Schweiz

Wirbel um Disneys Schwarze Arielle: Ist das rassistisch?

In der Neuverfilmung des Disney-Klassikers, der im nächsten Jahr ins Kino kommt, spielt eine Schwarze Schauspielerin die Rolle der kleinen Meerjungfrau. Das führte in den letzten Wochen zu Empörung im Netz. Für den Ethiker Thomas Wallimann-Sasaki ist die Machtstruktur dahinter das Problem.

Sarah Stutte

Im Internet kocht die Debatte hoch um Figuren in Film und Fernsehen, die in früheren Versionen weiss waren und nun Schwarz sind. Wie beurteilen Sie die Diskussion?

Thomas Wallimann-Sasaki: Ich habe das vor allem im Zuge der neuen «Lord of the Rings»-Serie auf Amazon Prime mitbekommen. Das sind keine Geschichten, die die Realität spiegeln, sondern von unserer Imagination beeinflusst wurden. Sie haben deshalb sehr viel mit unseren eigenen Gewohnheiten zu tun. Mit unserer Vorstellung, wie etwas oder jemand zu sein hat.

Das heisst, wir schaffen uns unsere eigene Wirklichkeit?

Wallimann-Sasaki: Genau. Jesus beispielsweise kommt auch vielgestaltig daher. In einem Passionsspiel, in dem ich als Jugendlicher mitwirkte, wurde er von einer Frau gespielt, ganz bewusst. Wir wollten damit zur Diskussion anregen. In Afrika wird er schwarz dargestellt und in Asien mit asiatischen Zügen.

Das wird deshalb nicht als kulturelle Aneignung gesehen, weil Jesus von Beginn an nicht konsequent als arabischstämmiger Mann dargestellt wurde. Dabei kam er in der Realität dieser Entsprechung vermutlich am nächsten. Die Erfahrungen, die wir machen, prägen unser Empfinden dahingehend, was wir als normal betrachten.

Realverfilmung von Arielle mit Hauptdarstellerin Halle Bailey
Realverfilmung von Arielle mit Hauptdarstellerin Halle Bailey

Was nicht unbedingt negativ ist?

Wallimann-Sasaki: Nein. Im Gegenteil. Dass Jesus in den verschiedensten Kulturen different dargestellt werden kann, vermittelt eine positive Botschaft. Wie auch immer du aussiehst, es ist völlig in Ordnung. Die jeweilige Jesus-Gestalt zeigt, das ist genau unsere Situation, die dort beschrieben wird.

So verhält es sich auch mit der Meerjungfrauen-Geschichte von Arielle, die ja in ihrem Ursprung auf ein Märchen von Hans Christian Andersen zurückgeht. Eine schwarze Arielle will zeigen, ich bin normal, auch wenn ich nicht dem westlichen Stereotyp entspreche.

Ist das nun kulturelle Aneignung oder nicht?

Wallimann-Sasaki: Das ist immer eine Machtfrage. In dieser ganzen Diskussion muss man differenzieren, wer jeweils in der Mehrheit und wer in der Minderheit ist. Viele Schweizer Städte organisieren mittlerweile ihr eigenes Oktoberfest. Dafür eignen wir uns auch die bayrische Kultur und Kleidung an. Das löst aber nicht so viel Kopfzerbrechen aus, weil wir hierbei nichts übernehmen, was ursprünglich einer rechtlosen Minderheit gehört.

Der alte Zeichentrickfilm von Disney zeigt eine weisse Arielle mit roten Haaren.
Der alte Zeichentrickfilm von Disney zeigt eine weisse Arielle mit roten Haaren.

Überall dort, wo dieses Machtgefälle jedoch vorhanden ist und wir etwas beanspruchen, ohne mit dieser Minderheit im Austausch darüber zu sein, wird es problematisch. Es geht nicht nur um Äusserlichkeiten, sondern darum, dass wir mit fremden Kulturen wie mit Konsumgütern umgehen. Dabei sind wir uns ihrer Geschichte und dem, was damit ausgelöst werden kann, zu wenig bewusst.

Wäre es denn nicht besser, neue Geschichten mit diversen Charakteren zu erfinden, als schon vorhandene Geschichten umzumodeln?

Wallimann-Sasaki: Es muss beides möglich sein. Arielle ist eine Empowerment-Geschichte. Jemand, der benachteiligt ist, aufgrund seiner Herkunft, seines Aussehens usw., beginnt, über sich hinaus zu wachsen. Warum soll eine solche Story in diesem Kontext nicht transformierbar sein? Zudem werden fantastische Stoffe immer und überall adaptiert.

An dieser Figur orientieren sich die Fans der alten Version, was zu Unmut im Netz führte.
An dieser Figur orientieren sich die Fans der alten Version, was zu Unmut im Netz führte.

Die Hürde liegt viel eher bei uns – wir haben gerne auf der einen Seite den Wald und auf der anderen das Feld. Spannend ist aber gerade der Übergangsbereich – dort findet sich am meisten Leben. Zudem ist es weder für unsere Gesellschaft noch für die Kunst gut, wenn wir stehenbleiben. Ständig nur die alte Geschichte zu rezipieren, wäre langweilig.

Ist jemand rassistisch, nur weil die Person die Arielle von früher toll findet und mit der neuen Figur nicht so viel anfangen kann? Das ist doch eher reine Sentimentalität…

Wallimann-Sasaki: Ich denke auch, dass solche Vorwürfe übertrieben sind. Vor allem ist das ein Totschlägerargument. Auf dieser Grundlage kann niemand mehr diskutieren. Wichtig ist, sich stattdessen zu fragen, wo der Rassismus anfängt und was das heisst. Ich finde es gefährlich, wenn das Wort Rassismus bei jeder Gelegenheit fällt. Dadurch nutzt es sich auch ab.

Auch über die Diversität in der neuen "Lord of the Rings"-Serie wird diskutiert.
Auch über die Diversität in der neuen "Lord of the Rings"-Serie wird diskutiert.

[In das Gespräch schaltet sich Christina Sasaki Wallimann ein, gebürtige Amerikanerin mit euroasiatischen Wurzeln. Ihre Meinung zum Thema Rassismus beruht auf Erfahrungswerten. In ihrer Masterarbeit befasste sie sich mit multirassischer Identität als Grundlage für theologische Sinnbildung.]

Christina Sasaki: Rassismus ist nicht nur auf einer individuellen Ebene, sondern auch auf einer systemischen zu verstehen. Ein Film hat sehr viel mit diesem System zu tun, weil er Kultur ist und Kultur wiedergibt. Und diese Kultur ist ein Ausdruck von Identität, die Werte ins alltägliche Leben transportiert. Für alle kulturellen Gruppen, die nicht der Mehrheit entsprechen, sind diese Geschichten sehr wichtig.

Wenn jemand also sagt, Arielle darf nicht Schwarz sein, ist das für mich stark rassistisch. Dann definiert die Rasse den Inhalt der Geschichte. Das entspricht nicht unserem christlichen Gedankengut, dass alle Menschen wertvoll sind. Es sollte deshalb – im Film wie im Leben – überhaupt nicht darauf ankommen, welche Hautfarbe jemand hat.

Thomas Wallimann-Sasaki und Christina Sasaki
Thomas Wallimann-Sasaki und Christina Sasaki

Gab es im Kino oder im Fernsehen multirassische Identifikationsfiguren in Ihrer Kindheit?

Sasaki: Wenig. Wenn ich im Fernsehen asiatische Charaktere gesehen habe, wurden sie vor allem als Stereotype gezeigt. Das ist auch heute noch problematisch, weil es eine negative Botschaft vermittelt. Die Vielfalt in der Welt muss auch in der Kunst gezeigt werden. Wenn ich heute einen Film mit einer schwarzen oder asiatischen Hauptfigur sehe, bewegt das etwas tief in mir.

Wallimann-Sasaki: Für Menschen, die Minderheiten angehören, sind diese Identifikationsfiguren wichtig. Wenn man sie ihnen wegnimmt, bricht man sie weiter und das ist im weitesten Sinne Rassismus, weil ich sie aufgrund ihres blossen Erscheinungsbilds ausschliesse.

*Thomas Wallimann-Sasaki ist Theologe und Sozialethiker. Er leitet das sozialethische Institut «ethik22» in Zürich. Christina Sasaki ist Theologin und Mitarbeiterin bei «ethik22». Die Ausgabe «Fremdeln» des «ethik22»-Magazins widmet sich dem Thema Rassismus. Sie kann unter dialog@ethik22.ch für 22.– CHF bestellt werden. (sas)


Disney verfilmt den eigenen Zeichentrickklassiker neu, mit einer dunkelhäutigen Hauptdarstellerin. | © YouTube
7. November 2022 | 10:14
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