Seit zehn Jahren ist der Litauer Audrius Micka Pfarrer in St. Moritz. "Ich bin glücklich", sagt er.
Porträt

Seelsorge für Reiche und Arme: Der Pfarrer aus Litauen liebt St. Moritz

Braucht’s einen Pfarrer in St. Moritz? Dort, wo die Leute fast alles haben? Flachländer Audrius Micka aus Litauen ist schon seit zehn Jahren Seelsorger in der Pfarrei St. Mauritius. Über mangelnde Arbeit kann er nicht klagen. Weil ihm die Menschen vertrauen.

Wolfgang Holz

Eigentlich sieht er wie ein Skilehrer aus. Sein Lächeln ist so ansteckend und sein Gesicht so braun, dass man glauben könnte, er sei gerade im frischen Pulverschnee von der Diavolezza runtergewedelt. Doch zum einen ist die Skisaison längst beendet. Zum anderen räumt der Vierzigjährige ein, dass er sich bislang eher auf Kinderpisten aufhält – weil er des alpinen Skilaufs noch nicht vollends mächtig sei. Sagt’s und grinst.

Sakko modisch geschnitten

Die Rede ist von Pfarrer Audrius Micka. Der aus Kaunas stammende Litauer sticht einem sofort ins Auge. Schon allein von der Körpergrösse fällt er auf. Und nicht nur das. Das graue Sakko über seinem weissen Kollarhemd ist modisch geschnitten. Der 40-Jährige hat eine sehr charmante Art und grosse kommunikative Fähigkeiten. Er ist ständig in Bewegung. Er spricht mit allen. Er bringt Menschen zusammen.

Pfarrer Audrius Micka und Kirchgemeindepräsidentin Susi Wiprächtiger applaudieren Köchin Nadeschda aus der Ukraine
Pfarrer Audrius Micka und Kirchgemeindepräsidentin Susi Wiprächtiger applaudieren Köchin Nadeschda aus der Ukraine

«Ich bin hier sehr glücklich», bekennt er strahlend in dem bordeauxroten Ledersesselchen in seiner Wohnung im Katholischen Pfarramt Sankt Mauritius. Man nimmt ihm diese positive Lebenseinstellung sofort ab. Schon zehn Jahre ist er Seelsorger in St. Moritz – dem weltbekannten Nobelkurort im Engadin. Und er hat es offenbar noch keine Minute bereut.

Ein Balte in den Bergen?

Aber, mal ehrlich, wie verschlägt es einen Litauer aus dem topfebenen Baltikum ausgerechnet ins hochalpine St. Moritz? Audrius Micka muss grinsen. «In der Tat ist die höchste Erhebung in Litauen gerade mal 293 Meter hoch – der Aukštojas-Berg», erklärt er.

Blick auf St. Moritz.
Blick auf St. Moritz.

Er habe sich damals vor zehn Jahren auf eine Jobanzeige auf kath.ch gemeldet – es ging um eine Stelle in Pontresina. «Man suchte in dem Inserat einen Pfarreimitarbeiter und einen Religionslehrer im 80 Prozent-Pensum.» Er arbeitete zu diesem Zeitpunkt als Lehrer in einem litauischen Gymnasium in einem kleinen Ort in Deutschland, in der Nähe von Mannheim. Er spricht fliessend deutsch.  Zuvor hatte er seinen Bachelor in Theologie an der Gregoriana in Rom absolviert.

In der katholischen Pfarrei St. Mauritius ist Audrius Micka Pfarrer.
In der katholischen Pfarrei St. Mauritius ist Audrius Micka Pfarrer.

«Der Pfarrer in Pontresina hat mich zurückgerufen und gefragt, ob ich es mir vorstellen könnte, zu einem Bewerbungsgespräch zu kommen», erzählt der Seelsorger weiter. Kurze Zeit später sass er schon im Zug Richtung Engadin. «Ich habe meine Mitreisenden dreimal gefragt, wann wir denn endlich ankommen», so der Balte. So lange habe sich die Fahrt durch die Berge hinzogen. So fasziniert sei er von den Bergen gewesen.

2014 zum Priester geweiht

Elf Monate später sei für ihn dann dank Jürg Stuker, dem damaligen Pfarrer von St. Moritz und der heutige Generalvikar für Graubünden, eine 100-Prozentstelle in St. Moritz geschaffen worden.

Diakonweihe in Winterthur: Von links Audrius Micka, Matthias Renggli, Bischof Vitus Huonder, Weihbischof Marian Eleganti, Felix Hunger.
Diakonweihe in Winterthur: Von links Audrius Micka, Matthias Renggli, Bischof Vitus Huonder, Weihbischof Marian Eleganti, Felix Hunger.

2014 wurde Audrius Micka zum Priester geweiht – zusammen mit dem ebenfalls fotogenen Felix Hunger und Matthias Renggli. Seit acht Jahren ist Audrius Micka katholischer Hirte in dem weltbekannten Nobelkurort.

Im Pfarrhaus in St. Moritz gerne zuhause: Pfarrer Audrius Micka.
Im Pfarrhaus in St. Moritz gerne zuhause: Pfarrer Audrius Micka.

«Vor allem ist der Himmel im Engadin so herrlich blau.»

Litauischer Pfarrer

An die spektakuläre, «sehr präsente» Natur im Engadin hat er sich längst gewöhnt. «Wenn die Sonne hier scheint, strahlt sie gleich stark. Wenn es regnet, dann strömt das Wasser von oben. Vor allem ist der Himmel im Engadin so herrlich blau», schwärmt der Litauer. Dank des trockenen Klimas könne er im März ohne weiteres auf den Balkon sitzen. «Im feuchten Litauen wäre das nicht möglich», beschreibt der Seelsorger seine Wetterlage.

Nicht viel Zeit zum Wandern und Skifahren

Doch eigentlich hat er gar nicht so viel Zeit zum Wandern und zum Skifahren. «Ich habe nur montags frei.» Ausserdem gebe es in St. Moritz gleich drei katholische Kirchen: St. Mauritius im Dorf, St. Karl Borromäus im Bad sowie die Kapelle Regina Pacis in Suvretta. Ausserdem gehören die Gemeinden Silvaplana, Sils und Maloja zu seiner Pfarrei. Dank der Einwanderung der italienischen und portugiesischen Gastarbeiter im 20. Jahrhundert sei längst die Mehrheit der St. Moritzer katholisch. Zuvor war der auf 1822 Metern gelegene Ort eine Bastion der Reformation.

Die Natur begeistert den litauischen Priester besonders.
Die Natur begeistert den litauischen Priester besonders.

«Wir haben 50 Ministranten, 50 Mitglieder im Kirchenchor und 200 Personen im Frauenverein», zählt der litauische Seelsorger auf. Und das ist noch nicht alles. Denn während der Touristensaison, wenn sich rund 15’000 Personen in St. Moritz tummeln, seien gerade Gottesdienste sehr gefragt. «An den zwei Weihnachtstagen allein feiern wir zwölf Messen.»

Auch Reiche haben ganz normale Sorgen

Aber sind denn die St. Moritzer wirklich so gläubig? In der internationalen Metropole der Reichen, wo die Gäste des Badrutt’s Palace Hotel zum Teil mit dem Rolls Royce vom Bahnhof abgeholt werden, wo ein lokales Unternehmen Kaviar verkauft, und wo an allen Ecken und Enden exklusive Modeboutiquen Luxusfummel im Schaufenster ausstellen, gibt es doch eigentlich alles, was das Herz begehrt.

Auch Reiche haben ganz normale Sorgen: Ein Rolls Royce vor dem Badrutt's Palace Hotel - der Kathedrale der anderen Art in St. Moritz.
Auch Reiche haben ganz normale Sorgen: Ein Rolls Royce vor dem Badrutt's Palace Hotel - der Kathedrale der anderen Art in St. Moritz.

Offenbar doch nicht alles: «Gerade heute nach dem Gottesdienst ist ein Mann in einem grossen Auto vor der Kirche vorgefahren und hat zu mir gesagt: Herr Pfarrer, ich muss bei Ihnen beichten», berichtet der katholische Pfarrer. Auch Reiche seien nunmal Menschen mit ganz normalen Sorgen. Mit Familiensorgen. Mit Sorgen wegen einer Krankheit.

«Unsere Eucharistiefeiern sind gut besucht.»

Audrius Micka

«Nicht zuletzt brauchen auch wohlhabende Menschen Personen, denen sie vertrauen können – und deshalb kommen sie auf mich zu», sagt Audrius Micka. Für ihn sei jede Stube eine Hausstube, in der Menschen wohnen. Ausserdem gebe es auch in St. Moritz viele Einwohner, «die es knapp haben». Viele Jugendliche, die heutzutage unter einem grossen Leistungsdruck stünden, die Enttäuschungen erleben würden, kämen zu ihm regelmässig zum Beichten.

Stairway to heaven: Die längste Rolltreppe der Schweiz in St. Moritz vom See hinauf ins Dorf.
Stairway to heaven: Die längste Rolltreppe der Schweiz in St. Moritz vom See hinauf ins Dorf.

Was ist mit dem Missbrauch in der Kirche?

«Unsere Eucharistiefeiern sind zudem gut besucht – heute waren es im 11 Uhr-Gottesdienst etwa 100 Gläubige.» Als Ausländer sei er sich als Pfarrer in St. Moritz noch nie vorgekommen. «Man braucht einfach das Herzgefühl.»

Pfarrer Audrius Micka beim Benefizkonzert für die Ukraine in St. Moritz.
Pfarrer Audrius Micka beim Benefizkonzert für die Ukraine in St. Moritz.

Doch nicht überall funktioniert der Glaube in der Kirche offenbar so gut wie im Engadin. Missbrauchsfälle schrecken die Öffentlichkeit auf. Frauen und LGBTQ-Community werden diskriminiert. Der Pflichtzölibat schränkt die sexuelle Freiheit der Priester ein – um nur einige Baustellen in der katholischen Kirche aufzuzählen.

«Missbrauch ist sicher eine Wunde der gesamten Gesellschaft.»

«Missbrauch ist sicher eine Wunde der gesamten Gesellschaft», ist Audrius Micka überzeugt. Es sei deshalb gerade in der Kirche wichtig, über solche Fälle nicht zu schweigen. Missbrauch aufzuklären und absolute Null-Toleranz walten zu lassen. Den Verhaltenskodex des Bistums begrüsse er. Was den Pflichtzölibat betrifft, empfinde er es «als ein Geschenk, so leben zu dürfen». Zum Frauenpriestertum will er sich nicht äussern.

«Glaube, Liebe, Hoffnung»

Er ist sich aber sicher, dass diese Fragen nicht die zentralen Punkte sind, welche zu einer stärkeren religiösen Verwurzelung der Gesellschaft führe. «Was die Menschen aus meiner Sicht wirklich brauchen, ist eine tragfähige Gemeinschaft. Sie brauchen Glauben, Liebe und Hoffnung sowie ein tiefes Vertrauen in ihrer Begegnung mit Gott.» Klingt überzeugend. Charismatisch. Beruhigend.

Audrius Micka im katholischen Pfarramt im Flur vor einer Reproduktion des Segantini-Klassikers "Frühmesse".
Audrius Micka im katholischen Pfarramt im Flur vor einer Reproduktion des Segantini-Klassikers "Frühmesse".

Der letzte Tropfen des Espresso in der Tasse ist während des intensiven Gesprächs längst eingetrocknet. Es steht noch eine wichtige Frage aus. Wie hält es Audrius Micka als Litauer mit dem Frieden in der Ukraine – schliesslich werden in der katholischen Gemeinde die rund 50 ukrainischen Kriegsflüchtlinge in St. Moritz umhegt und umsorgt. Erst neulich wurde ein zweites Benefizessen im Pfarrsaal veranstaltet, bei dem Ukrainerinnen kochten.

Wann gibt es Frieden in der Ukraine?

«Man kann mit einem Aggressor schwierig verhandeln, die Ukraine muss sich verteidigen können», ist der Pfarrer überzeugt. Der Krieg könne erst aufhören, wenn keine Seite mehr gewinnen könne. «Aber eigentlich bin ich Seelsorger und kein Politiker.»   Dann begleitet Audrius Micka seinen Gast zur Tür. Vorbei an dem riesigen Gemälde von Segantini, der «Frühmesse». Weil es ihm gefällt, liess er es produzieren – es ist grösser als das Original.

Auf dem legendären Bild, das sich der litauische Priester im Flur seiner Wohnung aufgehängt hat, schreitet bekanntlich ein Pfarrer einsam morgens in aller Herrgottsfrüh die ausgetretenen Stufen zur Kirche hinauf. Der Mond steht noch am Himmel. Ein Gefühl, das der katholische Seelsorger von Sankt-Mauritius vermutlich kaum kennt. Ist er doch der Leuchtturm seiner Gemeinde. Ein wahrer Hirte.


Seit zehn Jahren ist der Litauer Audrius Micka Pfarrer in St. Moritz. «Ich bin glücklich», sagt er. | © Wolfgang Holz
16. August 2022 | 05:00
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