Seit Ende Mai leben Olena und ihr 14-jähriger Sohn Arseny als Flüchtlinge in St. Moritz.
Schweiz

«Wir leben hier in unserer Welt»: Ukrainerinnen-Benefizessen im Nobelort

St. Moritz und Kriegsflüchtlinge haben auf den ersten Blick nichts gemein. Und doch sind auch hier, zwischen Rolls-Royces und Luxus-Boutiquen, Menschen gestrandet, die aus der Ukraine fliehen mussten. Die katholische Kirche Sankt Mauritius lud neulich zu einem Benefizessen ein, das Ukrainerinnen gekocht hatten.

Wolfgang Holz

Wie in einer Feldbatterie stehen die Porzellanschalen zur Suppenausgabe aufeinandergestapelt. Lira und Tatjana stellen die bereits mit Pilzsuppe gefüllten Gefässe zum Servieren auf die vordere Tischhälfte. Natascha, die vor kurzem an der Hüfte operiert wurde, schöpft derweil mit der Kelle aus dem riesigen Kessel nach. Die «Gribny Sup» duftet herrlich. «Eigentlich hätte es Borschtsch geben sollen, aber das hatten wir schon beim letzten Mal», sagt Lira.

Idyllisch liegt der weltberühmte Kurort St. Moritz im Engadin.
Idyllisch liegt der weltberühmte Kurort St. Moritz im Engadin.

Inzwischen sind die ersten hungrigen Gäste eingetrudelt. Sie kommen direkt aus der Sonntagsmesse zusammen mit Pfarrer Audrius Micka. Der erste Gang kann aufgetragen werden. Mit gutem Appetit löffeln die Besucher im Pfarrsaal ihre Suppe. Auch einige ukrainische Flüchtlinge – überwiegend Frauen mit Kindern, die vorher auch im Gottesdienst waren – sind beim Essen anwesend.

Kyrillische Buchstaben an der Wand

An der Wand hängen kyrillische Buchstaben, die den Spruch «Ruhm der Ukraine» formen. Am Eingang, auf einer ukrainischen Flagge drapiert, steht die Spendenkasse. «Beim ersten Benefizessen dieser Art sind 1500 Franken zusammengekommen», sagt Pfarrer Micka.

Sie haben gekocht: die Ukrainerinnen Tatjana, Lira und Nadeschda (von links).
Sie haben gekocht: die Ukrainerinnen Tatjana, Lira und Nadeschda (von links).

«Wir haben durch verschiedene Aktionen schon rund 30’000 Franken gesammelt.» Er ist bester Laune und hilft den ukrainischen Frauen beim Auftischen der Mahlzeit. Auch dieses Mal sind die rund 50 geladenen Gäste grosszügig. 1450 Franken werden am Ende gespendet.

Olena und Sohn Arseny sind ebenfalls zum Essen gekommen. Die 40-Jährige aus Kiew, die seit Mai in St. Moritz weilt, hat eine wahre Odyssee hinter sich. «Wir flüchteten zuerst nach Winnyzja ins Landesinnere der Ukraine, dann reisten wir in die Republik Moldau aus.»

«Derweil kämpfen mein Mann und mein Bruder weiter an der Front.»

Olena, Flüchtling aus der Ukraine

Da aber das benachbarte Transnistrien quasi ein russischer Marionettenstaat ist, nahm sie mit ihrem 14-jährigen Sohn schliesslich Reissaus in die Schweiz, wo ihnen Freunde Unterschlupf angeboten hatten. Sie können nun in einem Appartement in Sils wohnen. In Sicherheit.

«Wie im Film»

«Derweil kämpfen mein Mann und mein Bruder weiter an der Front», sagt Olena, und ihr Gesicht verfinstert sich sofort. Sie engagiere sich hier in St. Moritz in humanitären Freiwilligenprojekten für ukrainische Flüchtlinge und suche einen Job. «Es ist mir bewusst, in welch schöner Landschaft wir hier leben dürfen», sagt sie. «Aber ich kann die Natur nur wie einen Film anschauen, weil mein Herz durch andere Dinge belastet ist.» Und was denkt sie: Wie kann man den schrecklichen Krieg beenden? «Nur durch mehr Waffen für die ukrainische Armee. Man darf ja keine Kompromisse eingehen.»

Auch beim zweiten Benefizessen der Ukrainerinnen in der katholischen Kirche erschienen zahlreiche Gemeindemitglieder.
Auch beim zweiten Benefizessen der Ukrainerinnen in der katholischen Kirche erschienen zahlreiche Gemeindemitglieder.

Auch Galina hat Appetit. Inzwischen ist der Hauptgang mit Kartoffeln, Rübli und Fleisch serviert worden. Der Donbasserin, die ihr Alter nicht verraten will – «Man fragt Frauen doch nie nach ihrem Alter», wendet sie kokett-lächelnd ein – geht es hier in St. Moritz eigentlich ganz gut.

Sie lebt mit 50 anderen Flüchtlingen, Frauen und Familien, im Hotel Viktoria. Einem Viersterne-Hotel. «Kost und Logis frei, da gibt’s nicht zu klagen», meint sie und stösst mit einem Schluck Rotwein auf das Sonntagsessen an. Auch der Eintritt ins Freibad sei gratis.

40-jähriger Sohn ist gehbehindert

Und doch belastet auch sie das Leben in der Ungewissheit. Zum einen muss sich die Witwe, ihr Mann ist schon vor Jahren gestorben, um ihren 40-jährigen Sohn kümmern, der gehbehindert ist. Zum anderen macht sie sich Sorgen, wie lange der Krieg in ihrer Heimat wohl noch dauern wird.

«Niemand kann vorhersagen, wann und wo jeweils plötzlich eine Rakete einschlägt und Menschen getötet werden.»

Galina, eine Ukrainerin in St.Moritz

«Beide Seiten können nicht miteinander reden, beide Seiten wollen nicht nachgeben, das kann noch ewig so weitergehen», befürchtet sie. Dabei sei dieser «Raketenkrieg» schrecklich. «Niemand kann vorhersagen, wann und wo jeweils plötzlich eine Rakete einschlägt und Menschen getötet werden».

In der katholischen Pfarrei St. Mauritius ist Audrius Micka Pfarrer.
In der katholischen Pfarrei St. Mauritius ist Audrius Micka Pfarrer.

Dass St. Moritz so ein teures Pflaster ist, macht ihr nichts aus. «Wir kümmern uns nicht darum, wir leben in unserer eigenen Welt.» Auch gegen die Russen, die hier leben, hat sie nichts. «Die können ja nichts für den Krieg.»

Glacé und Kaffee

Mittlerweile wird Glacé und Kaffee aufgetragen. Andere gönnen sich nochmals ein Pilzsüppchen. Kinder tollen mit einer aufgeblasenen Weltkugel durch den Pfarrsaal. Es herrscht betriebsame Heiterkeit. Sonntägliche Entspanntheit. Frieden zum Anfassen quasi.

Nadeschda (links) bedankt sich. Daneben Pfarrer Audrius Micka und Kirchgemeindepräsidentin Susi Wiprächtiger.
Nadeschda (links) bedankt sich. Daneben Pfarrer Audrius Micka und Kirchgemeindepräsidentin Susi Wiprächtiger.

Kirchenpflegepräsidentin Susanne Wiprächtiger und Pfarrer Micka bedanken sich bei den ukrainischen Köchinnen für die Neuauflage des Benefizessens. «Irgendwie ist Pfarrer Audrius wie Jesus – er isst gerne ausserhalb der Gottesdienste mit den Gläubigen seiner Gemeinde und schafft es so, dass man sich hier wie zuhause fühlt», so Wiprächtiger. «Die Gemeinschaft mit den Leuten ist ihm sehr wichtig.»

«Djakuju!»

Einheimische, die zum Benefizessen gekommen sind, fühlen sich ebenfalls sichtlich wohl. So wie Laura del Molino, die ihren 14-jährigen Sohn Leon mitgenommen hat. Sie wohnt schon 32 Jahre in St. Moritz und arbeitet als Pflegeassistentin im Spital und für die Spitex.

Laura del Molino freut sich über das erste ukrainische Wort, das sie gelernt hat: "Djakuju"- "Danke".
Laura del Molino freut sich über das erste ukrainische Wort, das sie gelernt hat: "Djakuju"- "Danke".

Die 52-Jährige lernt gerne neue Menschen kennen und freut sich, dass die ukrainischen Flüchtlinge sich so gut integrieren. «Jetzt weiss ich auch schon, was Danke auf Ukrainisch heisst», sagt sie und zückt ihr Smartphone, wo sie lächelnd auf das «Djakuju!» zeigt, das ihr eine der Ukrainerinnen eingetippt hat.

Es soll endlich Frieden herrschen

Was den Krieg anbelangt, hofft sie, dass dieser bald zu Ende ist. Sie ergreife für keinen der beiden Kriegsgegner Partei. «Ich versuche immer neutral zu sein. Es macht aus meiner Sicht aber keinen Sinn, dass immer mehr Menschen sterben. Vielleicht wäre es deshalb besser, wenn ein Teil der eroberten Gebiete abgegeben wird – damit das Töten ein Ende hat.»


Seit Ende Mai leben Olena und ihr 14-jähriger Sohn Arseny als Flüchtlinge in St. Moritz. | © Wolfgang Holz
9. August 2022 | 12:30
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