Weihrauchduft zieht durche die Stadtkirche
Schweiz

Michaela Berger-Bühler: «Die schweren Gedanken haben sich verzogen»

Michaela Berger-Bühler ist Generalsekretärin der Landeskirche Thurgau. Mit ihrer Familie hat sie an Heiligabend die Mitternachtsmesse der Pfarrei St. Anna besucht. Aufgewühlt und verunsichert betritt sie die Kirche. Und findet in der Christmette zur inneren Ruhe. Ein Erfahrungsbericht.

Michaela Berger-Bühler*

Seit jeher bildet der Besuch der Mitternachtsmesse den Abschluss des Heiligenabends in unserer Familie. Nach einem schönen und gemütlichen Abend brechen wir auch dieses Jahr zur Stadtkirche St. Nikolaus in Frauenfeld auf.

In der festlich geschmückten Kirche

Weil unsere Jugendlichen (18 und 16 Jahre alt) rechtszeitig in der Sakristei sein müssen, um sich für den Ministrantendienst vorzubereiten, trete ich früher als die meisten Gottesdienstbesucher und -besucherinnen in die weihnachtlich geschmückte Stadtkirche ein und setzte mich in die Kirchenbank. Ich geniesse es, Zeit zu haben, und betrachte die wunderschön gestellte Krippe sowie den prächtigen Weihnachtsbaum. Der Anblick dieser grossen Tanne entlockt mir ein Schmunzeln. Er erinnert mich an die Zeit, als unsere Tochter noch in die Primarschule ging und fragte, wie wohl der riesige Tannenbaum in die Kirche transportiert werde.

Prächtiger Weihnachtsbaum in der Stadtkirche St. Nikolaus, Frauenfeld
Prächtiger Weihnachtsbaum in der Stadtkirche St. Nikolaus, Frauenfeld

Meine Augen wandern zur Anzeigetafel der Lieder, die in der heutigen Christmette gesungen werden sollen. Ich liebe es, wenn im Gottesdienst viele Lieder gesungen werden, bei denen ich mitsingen kann. Heute bin ich aber etwas enttäuscht. Denn auf einen Blick sehe ich, dass auf der Tafel das Lied mit der Nummer 341 fehlt. Wird heute Nacht das Lied «Stille Nacht, heilige Nacht» nicht gesungen, frage ich mich.

Kriege in der Welt

Lange bleibe ich nicht bei dieser Frage hängen, denn ich entdecke beim Ambo die grosse Laterne mit der Flamme des Friedenslichts. Das kleine Licht, entzündet in der Geburtsgrotte Jesu in Betlehem, leuchtet auch dieses Jahr, was angesichts des Krieges in Israel nicht selbstverständlich ist. Auch ich habe das Licht vor einer Woche zu uns nach Hause geholt.

«Besonders nahe gehen mir die Konflikte in der Ukraine und im Heiligen Land.»

Dieses Jahr ist die Bedeutung dieser kleinen Flamme besonders gross. Schon während der diesjährigen Adventszeit bewegte mich die Frage, wie ich diese Weihnachten mit der Botschaft «Frieden für alle Menschen auf Erden» umgehen soll. Vielerorts wüten Kriege. Besonders nahe gehen mir die Konflikte in der Ukraine und im Heiligen Land.

Innerlich unruhig und aufgewühlt

Die Bevölkerung in den Kriegsgebieten leidet unter den anhaltenden Kämpfen. Die Bilder aus den Medien lassen uns nur erahnen, wie sehr es der Bevölkerung an allem fehlt: Nahrung, Kleidung, Obdach, Schutz und Trost. Wie sollen die Christen und Christinnen in den Kriegsgebieten angesichts dieser Hoffnungslosigkeit Weihnachten feiern? Die Zahl der Weihnachtsgrüsse zu diesem Thema zeigt, dass diese Not eine Vielzahl von Menschen beschäftigt.

Friedenslicht
Friedenslicht

Das Glöcklein, das den Beginn des Gottesdienstes ankündigt, reisst mich jäh aus meinen Gedanken. Innerlich unruhig und aufgewühlt stehe ich auf. Zu festlicher Musik mit Orgel und Streicherensemble ziehen acht Ministranten und Ministrantinnen, ein Jugendseelsorger und der Pfarrer in die Kirche – ein eindrucksvolles Bild. Der vorerst zarte Duft des Weihrauchs zeiht an mir vorbei.

Zur inneren Ruhe findend

Ich atme tief ein und spüre, wie ich ruhiger werde. Nochmals nehme ich einen tiefen Atemzug der von Weihrauch durchtränkten Luft. Überrascht stelle ich fest, dass sich die schweren Gedanken und das belastende Gefühl verzogen haben. Noch nie zuvor hatte ich erlebt, dass der Duft von Weihrauch auf mich eine tröstende Wirkung hat. Ruhig und mit den Gedanken völlig bei mir, stimme ich in das erste Lied ein, «Herbei, o ihr Gläubigen…» und folge anschliessend dem Gottesdienst.

Krippenlandschaft
Krippenlandschaft

Am Beispiel eines Jungen, der in einem Krippenspiel aus der Rolle fiel, indem er anstelle des mürrischen Gasthausbesitzers, der Maria und Josef hätte wegweisen sollen, sie mit leuchtenden Augen in sein Haus einlud – was bei allen Beteiligten Verwirrung auslöste – geht Pfarrer Roland Häfliger der Frage nach, was Weihnachten ist.

Tiefe Dankbarkeit

Eine Predigt, die indirekt meine Gedanken zur Hoffnungslosigkeit der Menschen in den Kriegsgebieten aufnimmt. Sie lädt aber auch jeden persönlich dazu ein, selbst ab und an aus der Rolle zu fallen und dadurch die nötigen Veränderungen in der Welt und in der Kirche anzustossen und zuzulassen. Roland Häfliger schliesst seine Predigt mit dem Wunsch, «dass der Duft des Weihrauches dieser Nacht nicht nur unsere Nasen erreicht, sondern auch tief in uns eindringen mag, unsere Herzen berührt und sie hoch hinauf trägt». Wow! denke ich, er fasst exakt meine Gefühle in Worte. Es fühlte sich an, als hätte er sie alleine für mich gesprochen.

Lied "Stille Nacht"
Lied "Stille Nacht"

Tief berührt folge ich dem weiteren Verlauf des Gottesdienstes. Vor dem Schlusssegen kündigt sich dann doch noch das von mir vermisste Lied an. Das Kirchenschiff verdunkelt sich, nur noch die Kerzen leuchten, das Streichensemble stimmt zusammen mit der Orgel das Vermisste an und ich singe mit: «Stille Nacht, heilige Nacht…». Nach dem Schlusssegen sitze ich in der Kirchenbank, lausche den noch immer festlichen Klängen der Musik zum Auszug und empfinde grosse Dankbarkeit. Für alle Menschen, die in der Pfarrei St. Anna arbeiten – ob bezahlt oder ehrenamtlich, ob sichtbar oder im Hintergrund – sie alle haben mir heute Nacht die Erfahrung dieses wundervollen Weihnachtsgefühls ermöglicht. Frohe und gesegnete Weihnachten!

*Michaela Berger-Bühler (51) ist Generalsekretärin der römisch-katholischen Landeskirche Thurgau.

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Weihrauchduft zieht durche die Stadtkirche | © Michaela Berger
26. Dezember 2023 | 09:08
Lesezeit: ca. 3 Min.
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