Religionswissenschaftlerin und Medienethikerin Marie-Therese Mäder
Schweiz

Marie-Therese Mäder: «Im besten Fall können wir an Filmen wachsen»

Dieses Jahr feiert die Ökumenische Jury in Locarno ihr 50-jähriges Bestehen. «Eine enorme Leistung, angesichts der grossen Veränderungen», findet die Religionswissenschaftlerin Marie-Therese Mäder. Sie vertritt vom 2. bis 10. August die Schweiz in der kirchlichen Jury des Locarno Filmfestivals.

Sarah Stutte

Was machen Sie als Film-und Kulturwissenschaftlerin lieber: Filme schauen oder darüber diskutieren?

Marie-Therese Mäder*: Zuerst einmal muss ich die Filme schauen und mich ihnen auch stellen. Mich ihnen hingeben, damit ich überhaupt verstehe, um was es geht. Das ist sowohl eine kognitive Tätigkeit, als auch eine emotionale. Danach versuche ich, das gerade Erlebte in Worte zu fassen – in Form von Filmanalysen.

Der Austausch über ein gemeinsames Filmerlebnis ist dabei sehr bereichernd und eröffnet mir neue Welten im Verständnis eines Films. Deshalb hängt das eine für mich mit dem anderen sehr stark zusammen. Einen Film zu sehen, ohne danach darüber geredet zu haben, ist eine verpasste Chance.

Warum ist das Medium Film Ihrer Meinung nach ein wichtiges Mittel, um sich mit der Welt um sich herum auseinanderzusetzen?

Mäder: In audiovisuellen Produktionen wird ein Mikrokosmos aus einer individuellen oder einer kollektiven Perspektive auf die Welt kreiert. Gleichzeitig formen diese Filme aber auch unsere Welt.  Sie können beispielsweise Utopien entwickeln oder uns für gewisse Themen sensibilisieren. Uns auch Perspektiven aufzeigen für Situationen und Ereignisse, die uns so noch nicht bewusst waren. Sie eröffnen uns einen Horizont. Im besten Fall können wir daran wachsen.

Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno.
Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno.

Ein Film kann aber auch manipulativ wirken, wenn darin gewisse Lebensformen bevorzugt und andere ausgegrenzt werden. Zum Beispiel ist es spannend zu ergründen, wie und warum unterschiedliche Klassen oder Schichten dargestellt werden oder ob verschiedene ethnische Zugehörigkeiten oder sexuelle Orientierungen ihren Platz finden.

Persönlich bin ich ein grosser Fan von Reality-Shows. Ich finde, sie sagen über unsere Gesellschaft sehr viel aus. Auch der Dokumentarfilm kann viel zur Aufklärung beitragen, beispielsweise aktuell beim Thema Klimakrise. Uns also vor Augen führen, was für direkte Einflüsse die Klimaerwärmung auf Völker und Gruppierungen in der Welt hat und wie sehr dadurch deren Existenz bedroht ist.

Was bedeutet es Ihnen, Teil der diesjährigen Ökumenischen Jury in Locarno zu sein, die dieses Jahr ihr 50. Bestehen feiert?

Mäder: Ich war schon in einigen Ökumenischen Jurys, aber noch nie in Locarno. Über die Anfrage habe ich mich also sehr gefreut. Dass es die Ökumenische Jury in Locarno schon seit 50 Jahren gibt, ist eine enorme Leistung, bedenkt man, was es in dieser Zeit alles für grosse innerkirchliche und gesellschaftspolitische Veränderungen gab.

Ökumenischer Filmpreis der Zürcher Kirchen 2021 an Regisseur Fred Baillif und "La Mif" mit Jurymitglied Marie-Therese Mäder.
Ökumenischer Filmpreis der Zürcher Kirchen 2021 an Regisseur Fred Baillif und "La Mif" mit Jurymitglied Marie-Therese Mäder.

Die Ökumenische Jury in Locarno wurde kurz nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ins Leben gerufen. Gerade in der Filmarbeit der Kirchen wehte aber schon davor stets ein progressiver Wind. Deshalb finde ich die kirchliche Filmkritik auch so sinnvoll. Vor allem die katholische Kirche hat in Deutschland und in der Schweiz in den Anfängen der Filmkritik eine grosse Rolle gespielt.

Einige mögen denken, eine Ökumenische Jury beurteilt vor allem Filme mit einem religiösen Schwerpunkt. Doch dem ist nicht so, oder?

Mäder: Der Religionsbegriff kann relativ weit gefasst werden. Wichtig ist die Ethik, wie gewisse Filme bestimmte Werte vermitteln und Normen kritisch hinterfragen. Ein Film muss etwas Wertvolles für unsere Gesellschaft mitzuteilen haben.

Blick von der Piazza auf die grosse Leinwand in Locarno.
Blick von der Piazza auf die grosse Leinwand in Locarno.

Wertvoll bedeutet für mich, etwas über eine gerechtere Gesellschaft zu erzählen. Religion heisst, ein humanistisches Weltbild zu vertreten, so dass Ressourcen gleichmässig verteilt werden und sich um die Benachteiligten gekümmert wird.

Wie gehen Sie selbst an die Filme im Wettbewerb heran? Sind Sie jemand, der sich gerne im dunklen Saal überraschen lässt oder informieren Sie sich vorher, so gut Sie können?

Mäder: Ich bin schrecklich systematisch. Ich habe ein Notizbuch dabei und jeder Film bekommt darin eine Doppelseite. Früher habe ich die Synopsis des Films noch aus dem Katalog oder einem Dokument herausgeschnitten und auf die Seiten geklebt. Ich muss mich darauf einstellen können, wie lange der Film geht und welche Sprache gesprochen wird, ob es ein Dokumentar- oder Spielfilm ist und wo das Ganze spielt. Ich lese aber keine Kritiken vorab.  

Was ist Ihnen bei der Bewertung von Filmen wichtig?

Mäder: Für mich ist wichtig, dass ich in drei Sätzen sagen kann, um was es im Film geht und welche stilistischen Mittel hierfür verwendet werden. Gibt es besondere Kostüme, spezielle Musik, wie arbeitet die Kamera? Was ist es für ein Genre? Ich schreibe mir die narrativen Eigenschaften und filmischen Parameter auf. Wird der Film linear erzählt oder gibt es Rückblenden?

Marie-Therese Mäder.
Marie-Therese Mäder.

Essenziell ist für mich auch, ob mich ein Film emotional packen konnte. Es gibt immer Filme, mit denen ich nicht «mitschwinge». Das heisst aber nicht, dass sie schlecht sind. Genauso gibt es solche, die mich total überwältigen und auf die ich im Saal direkt reagiere, sei es mit Weinen oder Lachen. All das schreibe ich mir direkt auf, wenn ich aus dem Kino komme. Am Schluss vergebe ich für jeden Film noch Sterne von eins bis fünf.

Sehen Sie Filme als Privatperson anders denn als Jurymitglied?

Mäder: Ja, als Jurymitglied habe ich immer ein Verantwortungsbewusstsein dafür, erklären zu müssen, warum wir diesem einen Film einen Preis geben und den anderen nicht.

Sie nehmen in Locarno zudem an einem Podium zusammen mit István Szabó teil. Was verbindet Sie mit dem ungarischen Regisseur und seinen Filmen?

Mäder: Ich habe einige seiner Filme gesehen und war Expertin im Promotionskolloquium von Ingrid Glatz, die ein Buch über ihn geschrieben hat. Dort habe ich mich auch nochmals mit seinem Werk auseinandergesetzt. An diesem Podium geht es stark um die Frage, inwiefern Religion und Theologie eine Rolle in seinen Filmen spielt.

Ingrid Glatz, Co-Präsidentin Interfilm Schweiz am ökumenischen Gottesdienst in der Chiesa nuova am Film Festival Locarno 2021
Ingrid Glatz, Co-Präsidentin Interfilm Schweiz am ökumenischen Gottesdienst in der Chiesa nuova am Film Festival Locarno 2021

Da ich zu Religion im Film selbst viel publiziert habe, finde ich es toll, diesen Regisseur treffen zu können, der seit über fünf Jahrzehnten Filme macht. Ich bin sehr gespannt, von ihm zu hören, wie er die Veränderungen in der Welt wahrgenommen hat.

Wie bereiten Sie sich auf das Podium vor?

Mäder: Ich möchte nochmals einige von Szabós Filmen sehen und möchte ihm lieber nur zuhören, als selbst etwas zu erzählen. Mich interessiert, wie er gewisse aktuelle Debatten wahrnimmt, beispielsweise #MeToo.

István Szabó beim Österreichischen Filmpreis 2017
István Szabó beim Österreichischen Filmpreis 2017

Er hatte immer wieder wichtige Frauenfiguren in seinen Filmen. Wie geht er an diese Figuren heran und hat er – als Pendant zu seinem Alter Ego Klaus Maria Brandauer – auch ein weibliches Alter Ego? Das würde ich ihn fragen wollen.

Des Weiteren werden Sie am Ökumenischen Gottesdienst am ersten Festivalsonntag die Predigt halten. Wird Film dort auch ein Thema sein?

Mäder: Ich rede nur über Film (lacht). Von der protestantischen Seite wurde ich angefragt für die Predigt und von der katholischen, ob ich eine Meditation in der Kirche machen würde zu Religion und Film. Kurz bevor ich die Anfrage bekam, habe ich Steven Spielbergs «The Fabelmans» im Kino gesehen. Ein ganz toller Film, der zeigt, wie nah sich die beiden Systeme Religion und Film stehen.

Es geht um eine Coming-of-Age Geschichte eines Jungen, der die Wahrheit mit dem Blick durch die Kamera sucht. Über das Schneiden von Filmen und das Geschichtenerzählen lernt er, mit den Tiefen, dem Unglück und den Freuden des Lebens und seiner Mitmenschen umzugehen.

Filmstill aus "The Fabelmans"
Filmstill aus "The Fabelmans"

Der Junge stammt aus einer jüdischen Familie, erlebt Diskriminierung an seiner kalifornischen High School und hat eine christliche Freundin, die ihn bekehren will. Religion spielt also eine Rolle. Aber eigentlich setzt er sich beim Filmemachen mit Fragen auseinander, die auch innerhalb eines religiösen Kontexts gestellt werden.

Daraus ergibt sich die Frage, ob es relevant ist, sich mit den existenziellen Fragen filmisch oder religiös auseinanderzusetzen. Ob wir jetzt ins Kino gehen oder in die Kirche, spielt keine Rolle. Hauptsache, wir stellen uns diesen Sinnfragen. 

Stichwort ins Kino gehen. Die Schweiz erlebt gerade ein Kinosterben. Können Sie sich vorstellen, dass es einmal kein Kino mehr geben wird?

Mäder: Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Auch wenn es vielleicht ein paar Kino-Säle weniger gibt, wird das Kino nicht aussterben. Filme auf der grossen Leinwand zu sehen, bleibt ein Vergnügen, das nur in wenigen Haushalten in dieser Qualität erlebt werden kann.

*Marie-Therese Mäder (55) ist Religionswissenschaftlerin und Medienethikerin. Sie ist das Schweizer Mitglied in der diesjährigen Ökumenischen Jury am Locarno Film Festival und wird mit dieser Jury die insgesamt 17 Filme im Internationalen Wettbewerb beurteilen.

Der ungarische Regisseur István Szabó nimmt an einem öffentlichen Podium in Locarno teil. Er diskutiert am 10. August 2023 um 10.30 Uhr im Spazio Cinema in Locarno mit Marie-Therese Mäder und Joachim Valentin zum Thema: «István Szábo über Film, Kultur und Spiritualität – 50 Jahre Ökumenische Jury in Locarno». Die Moderation des Podiums übernimmt die Theologin Ingrid Glatz als Expertin des ungarischen Films.

Der Ökumenische Gottesdienst findet am Sonntag, den 6. August um 11.15 Uhr in der Chiesa S. Maria Assunta mitten in der Altstadt von Locarno statt. Der Gottesdienst wird von der Ökumenischen Arbeitsgruppe im Tessin organisiert. Im Anschluss an den Gottesdienst lädt die Pfarrei von Locarno zu einem Apéro im Kreuzgang ein.


Religionswissenschaftlerin und Medienethikerin Marie-Therese Mäder | © Zoë Hofmann
28. Juli 2023 | 17:00
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