Lorenz Wolf, bei einem Gottesdienst 2019 in München.
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Lorenz Wolf: «Habe mich nicht nachhaltig genug an die Seite der Opfer gestellt»

Der abgetretene oberste Kirchenrichter von München und Freising, Lorenz Wolf, nimmt Stellung zu den Vorwürfen im Münchner Missbrauchsgutachten. Er kritisiert, es seien ihm Unterlassungen zur Last gelegt worden, die nicht in seinem Verantwortungsbereich lagen. Anbei Auszüge aus dem 19-seitigen Schreiben.

«Nach der Veröffentlichung des Gutachtens der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl waren aufgrund der gutachterlichen Verdächtigungen und Bewertungen meiner Person in allen meinen Tätigkeitsbereichen Irritationen entstanden, die Begegnungen überlagerten und eine konstruktive Arbeit beeinträchtigten. Daher habe ich mit Schreiben vom 26.01.2022 Herrn Erzbischof Reinhard Kardinal Marx gebeten, das Ruhen meiner Ämter und Aufgaben zu genehmigen, um die notwendige Befassung mit dem Gutachten zu ermöglichen.

Martin Pusch (r.), Marion Westpfahl (m.) und Ulrich Wastl (l.) stellen ihr Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising vor, Januar 2022
Martin Pusch (r.), Marion Westpfahl (m.) und Ulrich Wastl (l.) stellen ihr Gutachten zum Missbrauch im Erzbistum München und Freising vor, Januar 2022

Dahinter stand nicht die Absicht, das im Gutachten vorgebrachte Ausmass des Missbrauchs in irgendeiner Weise zu relativieren oder gar in Frage zu stellen. Noch einmal wiederhole ich, was ich bereits öffentlich gesagt habe, und wende mich an erster Stelle an die Opfer von sexuellem Missbrauch in der Kirche.

«Es ist eine Schande, dass sexueller Missbrauch in der Kirche überhaupt geschehen ist.»

Lorenz Wolf

Meine persönliche Haltung hat sich durch den Untersuchungsbericht nicht verändert und ich möchte diese noch einmal klar zum Ausdruck bringen: Es ist eine Schande, dass sexueller Missbrauch in der Kirche überhaupt geschehen ist und dass zu wenig getan wurde, um den Opfern sexuellen Missbrauchs den Vorrang zu geben vor dem Schutz der Institution und der Amtsträger.

Es schmerzt mich, dass zu wenig getan wurde, um den Missbrauchsopfern zu helfen, ihre Verletzungen zu verarbeiten oder wenigstens zu versuchen, ihnen Linderung zu verschaffen von dem, was sie erlitten haben und was nicht mehr ungeschehen zu machen ist.

«Mein grösster Fehler war, dass ich zu sehr die Rolle des Vermittlers übernommen habe.»

Auch bekenne ich, dass ich mich nicht nachhaltig genug an die Seite der Opfer gestellt habe. Ich werfe mir heute vor, dass ich nicht hartnäckiger versucht habe, meine Haltung in Einzelfällen in Bezug auf Täter konsequenter durchzusetzen, sei es in den kirchlichen Gremien oder gegenüber einzelnen Verantwortungsträgern.

Mein grösster Fehler war es wahrscheinlich, dass ich vielfach zu sehr die Rolle des Vermittlers übernommen habe, anstatt jeweils auf meinem eigenen Standpunkt zu beharren. Ich möchte die von sexuellem Missbrauch Betroffenen dafür von Herzen um Vergebung bitten. Ich habe die Priesterweihe empfangen, um für alle Menschen als Helfer und Begleiter in allen Lebenslagen da sein zu können und nie jemanden in einer Not alleinzulassen. Dass mir das zu wenig gelungen ist, dafür bitte ich die Betroffenen um Verzeihung.

«Ich hatte immer die Absicht, von Missbrauch Betroffenen persönlich beizustehen.»

Ich bin mir bewusst, dass ich auch auf anderen Konfliktfeldern Fehler gemacht habe, die nicht Untersuchungsgegenstand des Gutachtens waren, und bin weit davon entfernt zu glauben, ich wäre in der Lage gewesen, keine Fehler zu machen. Es ist mir wichtig, auch diese Fehler in meine Überlegungen einzubeziehen, unabhängig ob sie in persönlichem Handeln oder in Gremienentscheidungen gemacht wurden. Ich hatte immer die Absicht, von Missbrauch Betroffenen persönlich beizustehen und sie zu unterstützen und wollte im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit mein Bestes tun, um Sexualstraftäter im Raum der Kirche dingfest zu machen, sie der gerechten Strafe zuzuführen und potenzielle zukünftige Taten durch sie zu verhindern.

Jedes Opfer sexuellen Missbrauchs – gleich welcher Schwere – war ein Opfer zu viel: Es darf nicht sein, dass sexueller Missbrauch geschieht, nirgends und schon gar nicht im Raum der Kirche.

Ich bin mir meiner eigenen Verantwortung in diesem Zusammenhang bewusst und stehe auch dafür ein. Ich anerkenne, dass mir eine gewichtige Rolle in der Erzdiözese und in der katholischen Kirche in Bayern und darüber hinaus zugekommen ist und damit von mir persönlich Verantwortung zu übernehmen ist. (…)

«Ich stand den Gutachtern Rede und Antwort.»

Generelle Feststellungen zu den mich betreffenden inhaltlichen Passagen des Gutachtens

1.) Der im Gutachten und seiner Präsentation nach meinem Empfinden erweckte Eindruck, ich wäre zu einer konstruktiven Mitarbeit bei der Erstellung des Gutachtens nicht bereit gewesen, trifft nicht zu. Ich stand den Gutachtern bei der sogenannten Befragung der Zeitzeugen ausführlich Rede und Antwort, habe die schriftliche Zusammenfassung dieser Befragung durch die Gutachter ergänzt, habe Fragen zu 20 Fällen schriftlich beantwortet und schließlich mit dazugehörigen Unterlagen den Gutachtern übergeben.

Rechtsanwältin Marion Westpfahl bei der Vorstellung des Gutachtens ihrer Kanzlei zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising
Rechtsanwältin Marion Westpfahl bei der Vorstellung des Gutachtens ihrer Kanzlei zu Fällen von sexuellem Missbrauch im Erzbistum München und Freising

Erst als die mir von den Gutachtern übermittelten Fragen in den sog. »Konfrontationsschreiben« in Bezug auf mich eine nicht nachvollziehbare Mischung aus Tatsachen, Unterstellungen, pejorativen Wertungen und fragwürdigen Schlussfolgerungen, die meiner Meinung nach wenig mit der Aufgabenstellung des Gutachtens zu tun hatten, enthielten, holte ich anwaltlichen Rat ein. Mein über meinen Rechtsbeistand vorgetragenes Angebot zum klärenden Gespräch nahmen die Gutachter nicht an.

«Mir ging es um die Frage, ob die Erstellung des Gutachtens rechtlichen Standards entspricht.»

Lorenz Wolf

Es wäre mir vor allem um die Offenlegung der Zielsetzungen und der Methodik bei der Erstellung des Gutachtens gegangen, nicht um eine Verhinderung der Erfüllung des diözesanen Auftrags, mithin also um die Klärung der Frage, ob die Erstellung des Gutachtens rechtsstaatlichen Standards entsprechen wird und welchen Stellenwert die Beantwortung der sog. »Konfrontationsschreiben« haben werden.

Meiner Meinung nach hatten am Ende die diesbezüglichen Antworten der befragten Persönlichkeiten nicht den zu erwartenden Stellenwert bei der Schlussbewertung im Gutachten.

«Ich war am 1.1.2010 aus dem allgemeinen Dienst des Ordinariats ausgeschieden.»

2.) Die Gutachter gingen in Bezug auf mich von einer persönlichen Verantwortung in den Jahren 1997 bis 2021 aus. Tatsächlich war ich aber mit meiner Ernennung zum Leiter des Katholischen Büros in Bayern am 01.01.2010 aus dem allgemeinen Dienst des Ordinariats ausgeschieden. Mit der Leitung des Katholischen Büros Bayern hatte ich neue Aufgaben und eine Reihe weiterer Verpflichtungen übernommen, die schon allein aus zeitlichen Gründen eine Mitarbeit und jegliche Einmischung im Ordinariat ausschlossen. Im Amt des Offizials (Kirchenrichter), das ich auch weiterhin ausübte, war ich danach lediglich einmal amtlich und entscheidend mit einem Missbrauchsfall befasst, bei dem ich ein Urteil fällte; ansonsten nur noch als Untersuchungsrichter bei Voruntersuchungen gem. c. 1717 CIC. 4

3.) Die Behandlung der Missbrauchsfälle und die Sorge um die Missbrauchsopfer erfolgte im Ordinariat durch dafür zuständige Personen und Gremien. Dazu wurde auch wiederholt die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl eingeschaltet, die ein erstes Gutachten zu den Missbrauchsfällen bereits im Jahr 2010 erstellt hatte.

«Mir wurden Unterlassungen zur Last gelegt, die nicht in meinen Verantwortungsbereich fielen.»

4.) Die Verantwortungsbereiche und Zuständigkeiten eines Offizials unterschieden sich grundlegend von den Verantwortungsbereichen des Ordinarius (Erzbischof und Generalvikar). Dies haben die Gutachter im einleitenden Teil auch selbst benannt. Daher wurden auch meine Vorgänger als Offiziale und Leiter des Kirchenrechtsreferats (ebenso die Personalreferenten) konsequenterweise im Gutachten als Verantwortungsträger nicht aufgeführt. In den Bewertungen der mir zugeordneten Fälle wurden mir wiederholt Unterlassungen zur Last gelegt, die nicht in meinen Verantwortungsbereich fielen.

Justitia – Symbol der Gerechtigkeit.
Justitia – Symbol der Gerechtigkeit.

«Die Strafe für den Priester war strenger.»

5.) Während meiner Amtszeit als Offizial gab es im Bereich der Erzdiözese nur ein einziges kirchliches Strafverfahren (Fall X.). Die Strafe für den Priester war nicht, wie im Gutachten behauptet, milder als eine Entlassung aus dem Klerikerstand, sondern strenger (s.u.).

Der Präfekt des zuständigen obersten römischen Gerichtshofs der Glaubenskongregation bestätigte dieses Urteil.

«Die Opferfürsorge liegt nicht im Gericht.»

5.) Wenn von den im Gutachten genannten 104 Fällen in 12 Fällen mein Agieren zu Kritik Anlass gibt, dann ist nach Aktenlage festzustellen, dass es in fünf dieser Fälle von mir mangels Zuständigkeit überhaupt keine oder keine vertiefte Befassung gab. Auch aus den übrigen Fällen ist meines Erachtens eine ausgeprägt skeptische Grundhaltung gegenüber Opfern oder eine generelle Schonung priesterlicher Täter nicht ableitbar, vor allem da ich in meiner gesamten Amtszeit nur mit zwei Opfern (im Rahmen einer Zeugenvernehmung) persönlich Kontakt hatte und in diesen Zusammentreffen als Richter zur Neutralität verpflichtet war. Die Opferfürsorge liegt naturgemäß nicht im Gericht, sondern bei den dafür eingerichteten diözesanen Stellen.

«Die von mir bearbeiteten Vorfälle wurden an die Staatsanwaltschaft übermittelt.»

6.) Die von mir bis zu meinem Ausscheiden aus dem Ordinariat im Jahr 2010 bearbeiteten relevanten Vorfälle wurden an die Staatsanwaltschaft übermittelt, es kam zu Verurteilungen oder Einstellungen der Verfahren.

7.) Die im Gutachten in mehreren Fällen kritisierte fehlende Überwachung von auffälligen Klerikern lag nicht in meinem Ermessen; sie hätte nur dann angeordnet werden können, wenn es zuvor ein kirchliches Strafverfahren mit einem entsprechenden Urteil gegeben hätte. Das war aber in den im Gutachten als Beleg genannten sechs Fällen nicht der Fall. Dennoch wurde von mir immer wieder angeregt, den genannten Personen künftig mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

«Es gab durch mich keine Anzeige eines Missbrauchsopfers.»

8.) Es gab durch mich definitiv keine Anzeige eines Missbrauchsopfers bei der Staatsanwaltschaft. Aufgrund der Anonymität von mehreren E-Mails und der Tatsache, dass Priester X. selbst gegenüber dem Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese keine Angaben zu dem anonymen Absender machte, wurde ich vom Missbrauchsbeauftragten um Amtshilfe gebeten, den Weg zur Staatsanwaltschaft zu eröffnen. Von der Staatsanwaltschaft wurde von Amts wegen ermittelt wegen Verdachts auf versuchte Erpressung. Dass es sich beim Absender um ein Opfer sexuellen Missbrauchs handelte, wurde erst später erkannt. (…)

Auch wenn es für die von mir gezogenen Konsequenzen nicht mehr darauf ankommt, was im Detail im Gutachten richtig oder falsch dargestellt wurde, sah ich es als meine Verantwortung und als meine Verpflichtung, zu meiner Befassung mit Missbrauchsfällen in meiner Amtszeit unter Zugrundelegung der Aktenlage Stellung zu nehmen.

Ich habe den Vorsitzenden der Freisinger Bischofskonferenz gebeten, die Aufgaben des Leiters des Katholischen Büros Bayern in andere Hände zu geben, damit deren Erfüllung unbelastet von den im Raum stehenden Vorwürfen ermöglicht wird. Dasselbe gilt für das Amt des Offizials.

Ich hoffe, damit dem Anliegen, jeglichen weiteren Schaden von den Betroffenen des Missbrauchs und der Kirche zu vermeiden, im Rahmen meiner Möglichkeiten gedient zu haben.»

Lorenz Wolf, bei einem Gottesdienst 2019 in München. | © KNA
28. März 2022 | 16:30
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