István Szabó: «Mich bewegt der Glaube und weniger die Religion»

Am diesjährigen Locarno Filmfestival feiert die Ökumenische Jury ihr 50-jähriges Bestehen In diesem Rahmen zeichnet sie den ungarischen Filmemacher und Oscarpreisträger István Szabó (85) mit dem Ehrenpreis aus. «Glücklich und dankbar» zeigt sich dieser darüber und sagt auch, «das Schöne an der Ökumene ist die Gemeinschaft, nicht die Trennung».

Sarah Stutte

Was bedeutet Ihnen die Rückkehr nach Locarno und zur Ökumenischen Jury?

István Szabó*: Nach Locarno zurückzukehren bedeutet für mich, dass sich ein Kreis schliesst. Die erste internationale Vorführung meines Debüt-Spielfilms «Zeit der Träumereien» fand hier statt und ich habe hier meinen ersten Preis erhalten.

Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno.
Es ist Festival-Zeit: die Piazza Grande in Locarno.

Hinter der Ökumene steckt für mich eine wichtige Idee in der praktischen Zusammenarbeit verschiedener Konfessionen. Ich bin glücklich darüber und dankbar, dass bereits mehrere Ökumenische Jurys meine Filme ausgezeichnet haben.

Wie war es für Sie, für Ihren Film «Abschlussbericht» nach 30 Jahren wieder mit dem österreichischen Schauspieler Klaus Maria Brandauer zusammenzuarbeiten?

Szabó: Klaus Maria Brandauer und ich haben mehrmals darüber gesprochen, dass es schön wäre, wieder zusammenzuarbeiten. Wir waren beide froh, dass wir es dann endlich geschafft haben. Es war schön, wieder zusammen zu drehen.

István Szabó (r.) bei Dreharbeiten zum Film «Abschlussbericht».
István Szabó (r.) bei Dreharbeiten zum Film «Abschlussbericht».

Sie stammen aus einer Arztfamilie. Wie nahe steht Ihnen die Rolle des Dr. Stephanus in «Abschlussbericht»?

Szabó: Sehr nahe. Mein Vater, Grossvater und Urgrossvater waren alle Ärzte und ich wollte auch Arzt werden. Doch mein Vater starb früh und als junger Mann las ich dann die filmästhetische Theorie «Der sichtbare Mensch» von Béla Balász. Das hat mich zur Fotografie und zum Film geführt.

Sie selbst sind jüdischer Abstammung. Spielte die Religion, auch in Bezug auf traditionelle jüdische Riten, für Sie in Ihrer Kindheit eine grosse Rolle?

Szabó: Die Religion hat in unserem Familienleben keine grosse Rolle gespielt.

Ihre Familie ist aber irgendwann zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg zum Katholizismus konvertiert…

Szabó: Das ist richtig. Meine Grosseltern waren Juden, ich selbst bin aber von Geburt an römisch-katholisch. Meine Grundschule, in die ich in Budapest ging, wurde von römisch-katholischen Nonnen geführt. Heute heisst die Schule Patrona Hungariae.

Die Menora ist ein Symbol fürs Judentum.
Die Menora ist ein Symbol fürs Judentum.

Ich denke, man kann sich den Glauben nicht aussuchen, nur die Religion. Entweder man ist gläubig oder man ist es nicht. Gott ist derselbe – ob man seine Abwesenheit spürt oder ihn wie die Liebe zum Leben benötigt.

Ihre frühen Kinderjahre haben sie – zur Zeit des Nationalsozialismus – versteckt in einem christlich geführten Waisenhaus verbracht. Welche Erinnerungen haben Sie noch an den 2. Weltkrieg?

Szabó: Das war ein Heim für Jungen einer evangelischen Organisation und ich war damals sechs Jahre alt. Ich erinnere mich an die Eingangstür dieses Heims, an der mich die Erzieherin abholte und ich mich von meiner Mutter verabschieden musste.

Jüdisches Grab zur Erinnerung an den Holocaust.
Jüdisches Grab zur Erinnerung an den Holocaust.

Ich sehe den russischen Soldaten noch vor mir, der ein halbes Jahr später in einem weissen Skianzug die Kellertür öffnete, die vielen kleinen Kinder betrachtete und dann mit mehreren Brotstücken zurückkam. Ich erinnere mich an den Geschmack dieses Brotes. Und dass mein Vater mit einer Rotkreuz-Armbinde an der Jacke zu mir kam.

Wie beurteilten Sie die Rituale und Ikonographie dieser beiden Traditionen? Hatten Sie je das Gefühl, dass sie sich für einen Glauben entscheiden müssten?

Szabó: Nein, das hatte ich nicht. Rituale und Ikonographien sind in allen Religionen schön und ehrenwert – sie helfen uns Menschen, tiefer in uns selbst und in die Begegnungen mit anderen zu gehen.

In «Abschlussbericht» ist die Kirche voll und der Pfarrer scheint noch Einfluss auf die Menschen zu haben. Ist das Wunschdenken oder gibt es zwischen Stadt und Land tatsächlich grosse Unterschiede in Ungarn?

Szabó: Ich denke, dass in den ungarischen Dörfern mehr Menschen an der Sonntagsmesse teilnehmen, aber meist ältere Personen und mehr Frauen.

In der Elisabethkirche in Budapest wurde im April dieses Jahres Ungarns Engagement für Bedürftige von Papst Franziskus gewürdigt.
In der Elisabethkirche in Budapest wurde im April dieses Jahres Ungarns Engagement für Bedürftige von Papst Franziskus gewürdigt.

Die Menschen im Dorf geben sich in Ihrem Film gläubig, handeln aber nicht christlich. Wollten Sie damit aufzeigen, was ein christliches Miteinander bedeutet?

Szabó: Ich sehe, dass die Persönlichkeit des Papstes sehr viel bedeutet. Das war bei Johannes Paul II. der Fall, und das gilt auch für den Einfluss der Persönlichkeit von Papst Franziskus.

In vielen Ihrer Filmen kommen Gebetsszenen vor. Welche Rolle spielt für Sie das Gebet im Leben eines Menschen?

Szabó: In die Konfrontation mit sich selbst zu gehen. Zu versuchen, sich der eigenen Angst zu stellen und den Mangel auszugleichen.

Den Mangel an was?

Szabó: An Sicherheit, an etwas, auf das man sich verlassen kann.

Gebet
Gebet

Versuchen die Figuren in Ihren Filmen deshalb Gott näherzukommen? Eine Antwort zu finden, auf ihre Sorgen und Nöte?

Szabó: Ja. Ich denke, sie suchen Gott aus dem Wunsch heraus auf, ihr verlorenes Gefühl der Sicherheit wiederzuerlangen.

Wie stehen Sie heute dem Thema Religion gegenüber? Ist Religion für Sie auch immer ein Suchen, Zweifeln und Fragen?

Szabó: Ja. Ich interessiere mich für die Leerstellen, die in jedem Menschen – auch in mir – zu finden sind. Mich bewegt der Glaube und weniger die Religion. Und ja, es ist immer die Suche, es sind stets die Zweifel und die Fragen.

Ökumenischer Gottesdienst im Berner Münster für den Frieden in der Ukraine
Ökumenischer Gottesdienst im Berner Münster für den Frieden in der Ukraine

Das Schöne an der Ökumene ist die Gemeinschaft der Religionen, nicht ihre Trennung. Mich treibt also um, was wir gemeinsam haben.

Viele Ungarinnen und Ungarn sind im Zuge der Studentenrevolte 1956 ins Ausland geflohen. Hat der Glaube dem ungarischen Volk dabei geholfen, das Trauma dieses niedergeschlagenen Aufstandes zu überwinden?

Szabó: Ich glaube nicht. Genau wie 1944 halfen nur einigen Menschen ihr Mut und ihr Glaube, um dieses Trauma zu verarbeiten, leider nur einigen Menschen.

Wie beurteilen Sie die heutige politische Lage in Ungarn unter Viktor Orbán? Weckt das in Ihnen die Angst, dass sich Geschichte wiederholt?

Szabó: Ich äussere mich nicht öffentlich zu politischen Fragen. Die Zuschauer sollen selbst entscheiden, was ich denke, wenn sie meine Filme sehen.

Was fasziniert Sie am Medium Film? Was kann ein Film bewirken, was sonst niemand oder nichts kann?

Szabó: Die Nahaufnahme, das menschliche Gesicht, das sich verändernde Licht bei jedem Blickwechsel, die Entstehung und der Wandel von Emotionen.

*István Szabó wurde 1938 in Budapest geboren und lebt auch heute noch dort. Der ungarische Autorenfilmer gewann 1981 mit «Mephisto» den Oscar als bester fremdsprachiger Film. In der Hauptrolle spielte Klaus Maria Brandauer, der auch in weiteren Filmen von Szabó zu sehen war. So auch in «Abschlussbericht» von 2020, der dieses Jahr am Locarno Film Festival als europäische Premiere in Anwesenheit des Regisseurs gezeigt wird. Die Vorführung findet am 10. August um15.00 Uhr im Kino PalaCinema 1 in Locarno statt. Zudem gibt es ein öffentliches Podium am 10. August um 10.30 Uhr im Spazio Cinema. István Szabó beantwortet Fragen zu Film, Religion und Spiritualität.

1964 wurde der Filmemacher in Locarno mit dem Festivalpreis für «Zeit der Träumereien» ausgezeichnet, 1974 ebenda mit dem Grossen Preis sowie demjenigen der Ökumenischen Jury für «Feuerwehrgasse 25». Nun wird Szabó am 8. August den Ehrenpreis der Ökumenischen Jury erhalten. (sas)


István Szabó beim Österreichischen Filmpreis 2017 | © Wikimedia Commons/Manfred Werner, CC by-sa 4.0
2. August 2023 | 10:07
Lesezeit: ca. 5 Min.
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