Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal.
Story der Woche

«Das ist unser Geheimnis»: Kirchenhistoriker stolpert über #MeToo-Vorwürfe

An der Uni Tübingen gab es Hinweise auf «emotionalen Missbrauch sowie sexuelle Grenzverletzungen». Recherchen von kath.ch zeigen: Es geht um einen jungen Kirchenhistoriker. Er war früher in Heiligenkreuz, dann in Tübingen. Wegen sexueller Handlungen während eines Online-Seminars kündigte ihm die Uni Frankfurt. Jetzt arbeitet er beim Cäcilienverband.

Raphael Rauch

Im Dezember 2020 schreckte die Uni Tübingen die Öffentlichkeit auf. Mehrere Betroffene hätten sich «an eine Vertrauensperson der Katholisch-Theologischen Fakultät gewandt und von emotionalem Missbrauch sowie von sexuellen Grenzverletzungen berichtet, die sie an der Fakultät erfahren haben», hiess es damals in einer Medienmitteilung.

In Berlin beim Ex-Bundespräsidenten und bei der Caritas-Chefin

Seitdem ist viel passiert – weitgehend unter dem Radar der Öffentlichkeit. Recherchen von kath.ch zeigen: Der Beschuldigte ist ein junger Kirchenhistoriker, verheiratet – und Vater zweier Kinder. 

Eva Maria Welskop-Deffaa und Christian Wulff bei einer Pressekonferenz am 14. März.
Eva Maria Welskop-Deffaa und Christian Wulff bei einer Pressekonferenz am 14. März.

Mittlerweile gibt es einen Strafbefehl. Auch wenn es mit der wissenschaftlichen Karriere nicht klappte: Am 14. März 2023 trat der Kirchenhistoriker öffentlich mit dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff und der deutschen Caritas-Chefin Eva Maria Welskop-Deffaa auf. Es geht um ein Projekt für mehr Teilhabe in der Musik.

Hat das Bistum Limburg wirklich nichts mitbekommen?

Der Kirchenhistoriker, der auch Kirchenmusiker ist, arbeitet inzwischen für den Cäcilienverband. Dieser setzt sich für die katholische Kirchenmusik ein, wie er auf seiner Website schreibt. 

Bischof Georg Bätzing
Bischof Georg Bätzing

Die Präsidentin des Cäcilienverbandes ist Judith Kunz. Sie ist Limburger Domchordirektorin und arbeitet für Bischof Georg Bätzing, der zugleich Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz ist. Insider fragen sich: Kann es wirklich sein, dass das Bistum Limburg nichts mitbekommen hat, was an der Frankfurter Fakultät abging? Frankfurt gehört zum Bistum Limburg.

Heiligenkreuz, Tübingen, Frankfurt

Doch der Reihe nach. Der Täter studierte zunächst an der konservativen Zisterzienserabtei Heiligenkreuz. Später wechselte er nach Tübingen, wo er vom liberalen Kirchenhistoriker Andreas Holzem promoviert wurde. Anschliessend ging er als Lehrstuhlvertreter an die Uni Frankfurt. Als Forschungsschwerpunkte gibt er an: «Liturgiewissenschaft, Kirchengeschichte und monastische Ordensgeschichte».

Präsentation des Verhaltenskodex im Bistum Chur: Der Graubereich ist nicht strafrechtlich relevant, der Rotbereich schon.
Präsentation des Verhaltenskodex im Bistum Chur: Der Graubereich ist nicht strafrechtlich relevant, der Rotbereich schon.

Die vielen MeToo-Skandale der letzten Jahre zeigen: Die Öffentlichkeit erfährt – wenn überhaupt – nur von der Spitze des Eisbergs. Die meisten Fälle werden nicht gemeldet. Betroffene, meistens Frauen, fürchten sich vor Konsequenzen. Vieles spielt sich im nicht justiziablen Graubereich ab. Der strafrechtlich relevante Rotbereich ist manchmal schwer nachzuweisen. Oft stehen Aussage gegen Aussage. 

«Das ist unser Geheimnis. Hat er gesagt.»

Nach Informationen von kath.ch führten die Vorwürfe, von denen die Uni Tübingen sprach, nie zu einer Anklage. Der Kirchenhistoriker nahm im Frühjahr 2021 noch an einem Workshop der Uni Tübingen teil, was viele empörte. Unbekannte verbreiteten damals am Tübinger Theologicum mit Kreide folgende Botschaft: «Das ist unser Geheimnis. Hat er gesagt.» Auch hingen plötzlich im Theologicum Plakate der Anlaufstelle sexualisierte Gewalt Tübingen auf.

Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal.
Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal.

Der damalige Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät, Matthias Möhring-Hesse, machte die Kreide-Botschaften zum Thema im Semesterabschlussgottesdienst. Laut dem Dekan haben die MeToo-Fälle gezeigt, «dass und wo die Kultur des Respekts verbessert werden» müsse. 

Sexting-Anklage

kath.ch hat für diese Recherche mit über 30 Menschen gesprochen. kath.ch sind mehrere Fälle bekannt, in denen sich der Kirchenhistoriker nicht angemessen verhalten haben soll. Er soll Privates und Berufliches vermischt haben, seine Macht als Lehrstuhlvertreter in Frankfurt gegenüber Studentinnen ausgenutzt und junge Frauen manipuliert haben.

Die Skyline von Frankfurt am Main
Die Skyline von Frankfurt am Main

Während sexueller Handlungen mit Frauen soll er ungefragt Bildaufnahmen gemacht haben. Am Ende führte das zur Anklage. Manipulation und Machtmissbrauch sind moralisch verwerflich, zum Teil aber nicht justiziabel. Sexting hingegen schon.

Geldstrafe von 50 Tagessätzen

Im Herbst 2022 sollte der Prozess gegen den Kirchenhistoriker am Amtsgericht in Rottenburg am Neckar stattfinden. Der erste Gerichtstermin fiel aus, weil sich der Angeklagte krankgemeldet hatte. Der zweite Gerichtstermin entfiel, weil er inzwischen einen Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Tübingen akzeptiert hatte – und zwar eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen. 

Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal.
Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal.

«Damit gilt er nicht als vorbestraft. Folgen für die Berufsausübung wie ein Berufsverbot sieht der Strafbefehl in seinen Rechtsfolgen nicht vor», teilte die Staatsanwaltschaft Tübingen kath.ch mit.

«Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs»

Grund des Strafbefehls ist die «Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen gemäss § 201a Abs. 1 Nr. 1 StGB», wie die Staatsanwaltschaft Tübingen kath.ch mitteilte. «Im Sachverhalt des Strafbefehls wurde festgestellt, dass der Beschuldigte von einer anderen Person in einer Wohnung bzw. einem anderen gegen Einblicke geschützten Raum zumindest ein Lichtbild fertigte, welches den höchstpersönlichen Lebensbereich der anderen Person betraf. Weiter wird festgestellt, dass der Beschuldigte dieses Lichtbild durch Versenden auch einer weiteren Person zugänglich machte.»

Mitteilung der Uni Frankfurt.
Mitteilung der Uni Frankfurt.

Schon vor dem Urteil gab es arbeitsrechtliche Konsequenzen. Während einer Online-Seminarsitzung der Uni Frankfurt soll es zu sexuellen Handlungen gekommen sein. Aufgrund dieses Vorfalls kündigte ihm die Uni Frankfurt. Details will sie nicht mitteilen. 

«Gravierendes Fehlverhalten im Rahmen der Lehrtätigkeit»

In einem Schreiben der Uni Frankfurt ist von einem «gravierenden Fehlverhalten im Rahmen der Lehrtätigkeit» die Rede. Gegen die Kündigung wehrte sich der Kirchenhistoriker. Vor dem Arbeitsgericht kam es zu einem Vergleich. Allerdings betont die Uni Frankfurt: «Die seitens der Goethe-Universität gegen Herrn Dr. (Name der Redaktion bekannt) erhobenen Vorwürfe wurden dabei nicht fallen gelassen.»

Doris Reisinger in Luzern
Doris Reisinger in Luzern

In Frankfurt hatte der Kirchenhistoriker offenbar auch Kontakt mit der prominenten Missbrauchsbetroffenen Doris Reisinger. Ursprünglich war in ihrem Buch «Gefährliche Theologien» ein Aufsatz des Kirchenhistorikers vorgesehen. Offenbar hat Doris Reisinger rechtzeitig die Reissleine ziehen können, bevor das Buch erschien. Der Pustet-Verlag wollte dies weder bestätigen noch dementieren.

Macht, Nähe und Distanz

Ob der Cäcilienverband von der Vergangenheit seines Mitarbeiters weiss, ist unklar. Ob es Auflagen für den Umgang mit jungen Frauen gibt, ebenso. kath.ch wollte wissen, ob der Cäcilienverband einen Verhaltenskodex hat und inwiefern er das Thema Macht, Nähe und Distanz mit seinen Mitarbeitenden reflektiert.

Unklar ist auch, ob der Cäcilienverband im Rahmen des Bewerbungsverfahrens sich telefonisch bei vorherigen Arbeitsstellen über den Kirchenhistoriker erkundigt hat. Die Anfrage von kath.ch an den Cäcilienverband blieb bislang unbeantwortet.

Klare Meinung zum Thema Winfried Pilz

Wenn es um die Kirchenmusik von Missbrauchstätern wie Winfried Pilz geht, hat der Tübinger und Frankfurter MeToo-Täter indes eine klare Meinung. Er verurteilte im Namen des Cäcilienverbands sexuellen und geistlichen Missbrauch im Bereich der Kirchenmusik, etwa durch Komponisten geistlichen Liedgutes. 

Winfried Pilz, früherer Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" und Erfinder des Liedes "Laudatio si'".
Winfried Pilz, früherer Präsident des Kindermissionswerks "Die Sternsinger" und Erfinder des Liedes "Laudatio si'".

«Vorwürfe dieser Art müssen kirchenrechtlich und vor allem strafrechtlich stets gründlich geprüft werden», findet der Kirchenhistoriker. «Sollten die Vorwürfe justiziabel sein, muss er vor kirchlichen und weltlichen Gerichten sowie einer geistlichen Instanz Verantwortung für seine Verbrechen übernehmen.»

Dubiose Forschungsstelle

Der Cäcilienverband empfehle, musikalische Werke von verurteilten Komponisten «nicht mehr im Repertoire zu führen» – auch um eine Retraumatisierung zu vermeiden. Welche Konsequenzen der Strafbefehl des Kirchenhistorikers für seine Tätigkeit im Cäcilienverband hat, ist unklar.

Auch sonst gibt der Kirchenhistoriker zu reden. Dubios erscheint die «Forschungsstelle Ordensgeschichte», die er laut Impressum führt. Auf der Website weist er einen Workshop aus, der nach Informationen von kath.ch nicht stattgefunden hat. «Die Autumn School hat nie stattgefunden. Sie wurde mehrfach verschoben, firmierte kurzzeitig unter dem Titel ‘Spring School’. Seit circa eineinhalb Jahren habe ich nichts mehr gehört», sagt ein Forscher, der laut Website im Oktober 2021 einen Vortrag hielt – dabei hatte der Workshop nie stattgefunden.

Nach Rückfrage von kath.ch fehlt plötzlich das Logo der Görres-Gesellschaft

Auch schmückte sich der Kirchenhistoriker mutmasslich mit fremden Federn. Laut Website ist das Römische Institut der Görres-Gesellschaft ein Partner des Instituts. «Eine solche Kooperation besteht nicht und es gibt auch keine Zusage für eine solche Kooperation seitens der Görres-Gesellschaft», betonte Martin Barth, Generalsekretär der Görres-Gesellschaft, gegenüber kath.ch. Inzwischen ist das Logo der Görres-Gesellschaft entfernt.

Die Görres-Gesellschaft teilt mit, kein Kooperationspartner zu sein – auch wenn der Kirchenhistoriker mit dem Logo warb.
Die Görres-Gesellschaft teilt mit, kein Kooperationspartner zu sein – auch wenn der Kirchenhistoriker mit dem Logo warb.

Dubios erscheint auch eine GmbH, die der Kirchenhistoriker gegründet haben soll. Sie verkauft Dienstleistungen im Inklusions-Bereich: «Gemeinsam finden wir den richtigen Schul- oder Individualbegleiter für Ihr Kind, um Teilhabe in pädagogischen Einrichtungen und Schulen erfolgreich zu gestalten», steht auf der Website. An anderer Stelle steht: «Diskriminierung, Mobbing, Rassismus oder sexuelle Belästigung werden nicht geduldet.»

Mitarbeiterin mit Foto aus Datenbank

Die Adresse der GmbH ist auf den Rechtsanwalt des Kirchenhistorikers gemeldet – einem umstrittenen Frankfurter Juristen. Auf der Website führt der Kirchenhistoriker als Mitarbeiterin eine Frau auf, die er einer Foto-Datenbank entnommen hat.

Das "Regionalbüro Franken" wirbt mit einer Mitarbeiterin, die einer Fotodatenbank entnommen ist.
Das "Regionalbüro Franken" wirbt mit einer Mitarbeiterin, die einer Fotodatenbank entnommen ist.

Die Universität Tübingen hat keine abschliessende Einordnung der Fälle veröffentlicht. Der Cäcilienverband, der Kirchenhistoriker und sein Anwalt waren für kath.ch nicht zu erreichen.

«Rufmörderische Kampagne»

Das letzte Statement des Kirchenhistorikers zu den MeToo-Vorwürfen datiert vom 23. April 2021, verschickt von seinem Anwalt. Darin spricht er von einer «rufmörderischen Kampagne» und von Verleumdung. «Fakt ist, dass es eine oder mehrere mir unbekannte Personen gibt, die mittlerweile seit einigen Wochen alles daransetzen, mein wissenschaftliches sowie privates Leben zu zerstören. Der Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät weiss von den rein zerstörerischen Vorgehensweisen und lässt die Person(en) gewähren. Aus diesem Grund bin ich insgesamt gezwungen, straf- und zivilrechtlich gegen diesen Rufmord sowie die Beihilfe – auch die Weiterverbreitung ist strafbar – vorzugehen und versuche so, dem Ganzen ein Ende zu setzen.»

Die Staatsanwaltschaft Tübingen sah das anders. Und auch der Kirchenhistoriker hat dem Strafbefehl zugestimmt, um eine öffentliche Verhandlung zu vermeiden.


Ein Plakat im Tübinger Theologicum als Antwort auf den hausinternen MeToo-Skandal. | © Raphael Rauch
17. März 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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