Vreni Peterer
Schweiz

Vreni Peterer: «Jetzt wird über Missbrauch gesprochen, weil die Kirche muss»

Vor einem halben Jahr ist die Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz erschienen. Wie sieht die Zusammenarbeit mit den Betroffenen-Organisationen aus? Darüber spricht Vreni Peterer, Präsidentin der IG Missbrauch Kirche, im Podcast «Laut + Leis».

Sandra Leis

Seit dem 12. September 2023 ist Vreni Peterer eine öffentliche Person. Sie ist Präsidentin der Interessengemeinschaft für missbrauchsbetroffene Menschen im kirchlichen Umfeld (IG MikU) und die Stimme der Opfer.

An der Pressekonferenz zur Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in der Uni Zürich hatte sie einen bewegenden Auftritt und sagte, dass sie ihre Tränen nicht habe zurückhalten können und wie wichtig die Studie sei. Darin sind 1002 Fälle dokumentiert von 1950 bis heute – einer der Fälle ist derjenige von Vreni Peterer. 

Sie meldete sich bei Bischof Bonnemain

An der Pressekonferenz präsentierte Bischof Joseph Maria Bonnemain, verantwortlich für das Ressort Missbrauch, mehrere Sofortmassnahmen. Dabei betonte er, wie wichtig jetzt die Zusammenarbeit mit den Betroffenen-Organisationen sei. 

Doch bis Ende November hörte Peterer nichts: «Ich habe gewartet und wollte die Bischöfe auch arbeiten lassen. Doch dann kam der Punkt, an dem ich mir sagte: So jetzt kommen halt wir wieder und fragen, wann wir einbezogen werden.»

Endlich miteinander im Gespräch: Vreni Peterer und Bischof Joseph Maria Bonnemain.
Endlich miteinander im Gespräch: Vreni Peterer und Bischof Joseph Maria Bonnemain.

Dann ging es vorwärts: Es sei zu einem guten Gespräch gekommen mit Bischof Bonnemain und Stefan Loppacher, dem Präventionsbeauftragten des Bistums Chur. Thema: die unabhängige Anlaufstelle, die die Schweizer Bischofskonferenz (SBK) für Mitte 2024 versprochen hat. 

Anlaufstelle: frühestens Ende 2024

Doch so schnell wird es nicht gehen. «Die Bischöfe haben sich verrechnet, wie lange es dauert, bis eine Anlaufstelle aufgebaut ist», sagt Peterer. Das sei eine komplexe Sache, doch das Rad müsse nicht neu erfunden werden. «Wir und auch die Groupe Sapec, unsere Partnerorganisation in der Westschweiz, würden es sehr begrüssen, wenn die Opferhilfestellen diese Aufgabe übernehmen würden.»

Regierungsrätin Jacqueline Fehr: «Die Anlaufstelle ist bis Ende Jahr realisierbar, wenn die Kirche will.»
Regierungsrätin Jacqueline Fehr: «Die Anlaufstelle ist bis Ende Jahr realisierbar, wenn die Kirche will.»

Konkret: Man könnte die bereits existierenden Strukturen des Opferhilfegesetzes nutzen, und die Kirche müsste das spezifische kirchliche Fachwissen liefern. Das Onlineportal kath.ch hat dazu kürzlich die Leiterin der kantonalen Opferhilfestelle Zürich und die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr befragt. Fehr sagte: Wenn die Kirche will, ist eine Meldestelle bis Ende 2024 möglich.» 

Eine Kirche ohne Missbrauch

Bischof Bonnemain hat an der Vollversammlung der IG MikU Anfang März kein konkretes Datum für die Anlaufstelle nennen können. Doch den Vorschlag, bereits bestehende Strukturen zu nutzen, will er ernsthaft prüfen. Und: Erstmals in der Geschichte lädt die SBK im Juni die Betroffenenorganisationen auf deren Bitte hin ein zu einem direkten Austausch.

Vreni Peterer: «Die Bischöfe haben sich verrechnet, wie lange es dauert, bis eine Anlaufstelle aufgebaut ist.»
Vreni Peterer: «Die Bischöfe haben sich verrechnet, wie lange es dauert, bis eine Anlaufstelle aufgebaut ist.»

Vreni Peterer ist erfreut über die Einladung und sagt, diese Einladung sei Teil des vielzitierten Kulturwandels. Auf die Frage, wie sich der Kulturwandel sonst noch bemerkbar mache, sagt sie: «Jetzt wird wirklich über Missbrauch gesprochen, weil die Kirche muss.» Doch es müsse noch viel mehr geschehen: «Wir müssen miteinander auf den Weg gehen, uns nicht gegenseitig als Feinde anschauen, sondern das gemeinsame Ziel vor Augen haben: eine Kirche ohne Missbrauch.»

Sagt’s und schiebt gleich nach: «Ich bin nicht blauäugig. Missbrauch wird es auch künftig geben.» Doch funktionierende Kontrollmechanismen und Prävention seien zentral, damit Missbrauch so gut wie möglich verhindert werde. «Und wenn Missbrauch trotzdem geschieht, muss der Täter zur Rechenschaft gezogen werden.»

«Sprechen tut gut»

Vreni Peterer wurde als Mädchen von einem Priester vergewaltigt und konnte fast fünfzig Jahre lang mit niemandem darüber sprechen. Im Podcast «Laut + Leis» sagt sie: «Ich habe verschiedene Therapien gemacht, musste Schritt um Schritt machen, eine Abkürzung gab es nicht. Schliesslich war ich soweit und konnte sagen: So, jetzt zeige ich diesen Priester an.»

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Entscheidend sei das Reden über das erfahrene Leid. «Man muss sich vorstellen, das hatte man Jahrzehnte in sich drin, und das hat viele wirklich körperlich und seelisch kaputt gemacht. Und wir alle, die wir jetzt sprechen, wissen: Sprechen tut gut.» Und weiter: «Wenn Betroffene sich bei uns melden, dann spüre ich, oder sie sagen es auch: Es hat so gutgetan, es endlich jemandem zu sagen.»

Motivation und Energie

Für ihr grosses Engagement – bis anhin ehrenamtlich, künftig zum Teil entschädigt – ist Vreni Peterer zweifach ausgezeichnet worden: als Appenzellerin des Jahres 2023 und mit dem Prix Zora der Frauenzentrale Appenzellerland. 

Vreni Peterer und Co-Studienleiterin Marietta Meier an der Pressekonferenz zum Start der Missbrauchsstudie am 4. April 2022.
Vreni Peterer und Co-Studienleiterin Marietta Meier an der Pressekonferenz zum Start der Missbrauchsstudie am 4. April 2022.

Zu den Anerkennungen sagt sie: «Es freut mich für das Thema, und es freut mich auch für mich persönlich. Es ist schön, wenn Leute zu mir sagen: ‹Du machst gute Arbeit. Das ist wichtig.› Das gibt mir Motivation und Energie für all die Herausforderungen, die noch zu stemmen sind.»


Vreni Peterer | © Sandra Leis
15. März 2024 | 06:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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