Felix Gmür, Basler Bischof und Präsident der Schweizer Bischofskonferenz.
Schweiz

Bischof Felix Gmür: «Mein Ziel ist es, dass alle Straffälle extern abgeklärt und aufgeklärt werden»

Die «Pilotstudie zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts» schlägt hohe Wellen. Zu Gast in der aktuellen Folge des Podcasts «Laut + Leis» sind Bischof Felix Gmür, er ist Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, und die Studienleiterin und Geschichtsprofessorin Marietta Meier. Die beiden sprechen über die erschütternden Ergebnisse und welche Massnahmen jetzt greifen müssen.

Sandra Leis

Verschweigen, bagatellisieren, vertuschen. Und wenn’s gar nicht mehr anders geht, wird ein Priester versetzt. Im vollen Bewusstsein, dass der Priester am neuen Ort mit grosser Wahrscheinlichkeit weiteres Unheil anrichten wird.

Dieses Muster im Umgang mit sexuellem Missbrauch hat sich in der römisch-katholischen Kirche zigmal wiederholt – auch in der Schweiz, wie die erste unabhängige Studie in aller Deutlichkeit zeigt.

Sandra Leis (Mitte) moderiert die Diskussion mit ihren Gästen Marietta Meier und Felix Gmür.
Sandra Leis (Mitte) moderiert die Diskussion mit ihren Gästen Marietta Meier und Felix Gmür.

Marietta Meier und Monika Dommann, zwei Geschichtsprofessorinnen der Universität Zürich, und ihr Team haben im Auftrag der Kirche ein Jahr lang geforscht und für den Zeitraum von 1950 bis heute insgesamt 1002 Missbrauchsfälle dokumentiert.

Nur unter Druck gehandelt

Der Bericht hält fest, dass ab 2002 «deutliche Veränderungen im Umgang der Verantwortlichen der katholischen Kirche mit Fällen sexuellen Missbrauchs erkennbar» seien.

Die Historikerin Marietta Meier.
Die Historikerin Marietta Meier.

Marietta Meier erklärt, warum: «Der Druck wurde immer grösser: einerseits von den Medien, andererseits von den Betroffenen und Betroffenen-Organisationen.» Die Bistümer errichteten Fachgremien, die allerdings bis heute keine Befugnismacht haben, und 2016 eine Genugtuungs-Kommission für verjährte Fälle.

Fünf Bischöfe sind mit Vertuschungs-Vorwürfen konfrontiert

Doch mit der Einsicht und dem Versprechen, den Betroffenen zu helfen und die Opfer zu schützen, ist es nicht weit her: Denn wie der «SonntagsBlick» kürzlich aufgedeckt hat, sind fünf der sechs amtierenden Schweizer Bischöfe mit Vertuschungs-Vorwürfen konfrontiert.

Des Weiteren: Jean César Scarcella, dem Abt von Saint-Maurice und ebenfalls Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), wird sexueller Missbrauch vorgeworfen. Letzte Woche hat er mitgeteilt, dass er sein Amt bis zum Abschluss der Ermittlungen ruhen lässt.

Was heisst der Sachverhalt Vertuschen?

Ob weitere Mitglieder der SBK diesem Beispiel folgen werden, ist offen. Bischof Felix Gmür sagt dazu: «Dieser Mann wird der sexuellen Belästigung beschuldigt. Das ist qualitativ doch etwas anderes als die Beschuldigung, etwas nicht gemeldet zu haben. Der Sachverhalt Vertuschen ist ja nicht klar. Was heisst das genau? Die laufenden Voruntersuchungen werden das klären.»

Der Fall «Denise Nussbaumer»

Auch gegen Bischof Gmür laufen Voruntersuchungen. Die Zeitschrift «Der Beobachter» titelte kürzlich «Wie Bischof Gmür einen Priester schützt» und rollte den Fall «Denise Nussbaumer» auf. Zu lesen war darin auch, dass Bischof Gmür dem Täter die aktuellen Kontaktdaten wie Telefonnummer und E-Mail-Adresse des Opfers bekannt gab.

Bischof Felix Gmür vom Bistum Basel
Bischof Felix Gmür vom Bistum Basel

Im Podcast sagt Bischof Gmür: «Ich weiss nicht, ob der Täter weiss, wo die betroffene Frau heute lebt.» Und weiter: «Ich werde auf sie zugehen, wenn ich mehr weiss. Doch jetzt ist der falsche Zeitpunkt.»

Machtfülle der Bischöfe

Ausführlich befasst sich der Bericht zur Studie mit den sogenannten «katholischen Spezifika». An erster Stelle werden die Machtkonstellationen genannt. Bischöfe beispielsweise haben eine unglaubliche Machtfülle: Sie sind Exekutive, Legislative und Judikative. Da sind Rollenkonflikte vorprogrammiert.

Weitere Besonderheiten sind der Zölibat, den es laut Bischof Gmür zu überdenken gilt, sowie das Priester- und Frauenbild. Bischof Gmür sagt: «Es ist ein Bild von oben und unten, man könnte fast sagen von Herrschen und Dienen. Es ist eine Einrichtung, die auf den Priester als öffentliche und moralische Autorität baut.»

Über sexuellen Missbrauch ist noch wenig bekannt

Die Historikerin Marietta Meier sagt zu den katholischen Spezifika: «Ob und vor allem wie weit die katholischen Besonderheiten eine Rolle spielen beim sexuellen Missbrauch, ist für uns eine offene Forschungsfrage.»

Bischof Felix Gmür und die Geschichtsprofessorin Marietta Meier im Lichthof der Universität Zürich.
Bischof Felix Gmür und die Geschichtsprofessorin Marietta Meier im Lichthof der Universität Zürich.

Das Ziel wäre, das katholische Milieu vergleichen zu können. «Wir wissen ja noch sehr wenig über sexuellen Missbrauch ganz allgemein. Bleiben wir im Bereich der Religionen: Es wäre sehr interessant zu erforschen, wie es im protestantischen Milieu aussieht, im Judentum, im Islam. Wenn man wissen will, was wirklich katholische Spezifika sind, muss man einen Vergleich machen.»

Massnahmen sollen bis nächstes Jahr greifen

Das eine ist die Forschung, das andere sind die geplanten Sofort-Massnahmen, die laut Bischof Gmür bis im nächsten Jahr greifen sollen. Ab sofort sind Aktenvernichtungen, die im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen stehen, verboten.

Die Historikerin Marietta Meier, Sandra Leis und Bischof Felix Gmür diskutieren über die Pilotstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz (v.l.).
Die Historikerin Marietta Meier, Sandra Leis und Bischof Felix Gmür diskutieren über die Pilotstudie zum Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz (v.l.).

Das Personalwesen soll professionalisiert und das kirchliche Personal bei der Zulassung zur Ausbildung einer standardisierten psychologischen Prüfung unterzogen werden. Der Forschungsauftrag an die Universität Zürich ist für drei Jahre verlängert. Und – für Betroffene die wichtigste Massnahme – es soll eine neue nationale Meldestelle geben.

Betroffenen-Organisationen einbeziehen

Beim Aufbau dieser unabhängigen Meldestelle will die Kirche die Betroffenen-Organisationen einbeziehen. Marietta Meier sagt: «Die Meldestelle ist unabdingbar. Es geht um Glaubwürdigkeit, und es sollen sich auch Menschen melden können, die mit der Kirche nichts mehr am Hut haben.»

Mit der Errichtung einer Meldestelle macht die römisch-katholische Kirche einen Schritt Richtung Gewaltentrennung. Bischof Gmür formuliert es so: «Ich möchte eigentlich, dass ich als Bischof nichts mit dem zu tun habe. Das heisst, dass alle Straffälle extern abgeklärt und aufgeklärt werden.»

Vorbild Frankreich?

Die Idee einer unabhängigen Meldestelle ist nicht neu. Bis jetzt hat das in der Schweiz noch nicht geklappt. Möglicherweise könnte Frankreich diesbezüglich Vorbild sein. Denn dort hat eine solche Institution Fuss fassen können mit Zustimmung des Vatikans. «Wie die das geschafft haben, weiss ich allerdings nicht», sagt Bischof Gmür. Doch es werde und müsse Modelle geben für eine solche Meldestelle.

Felix Gmür, Basler Bischof und Präsident der Schweizer Bischofskonferenz.
22. September 2023 | 09:00
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