Ulrich Lehner ist Professor für Theologie an der Notre Dame University (USA)
Theologie konkret

Ulrich L. Lehner: «Sexueller Missbrauch ist kein modernes Problem»

Der Historiker und Theologe Ulrich L. Lehner hat ein Buch über sexuellen Missbrauch bei den Jesuiten geschrieben. Fast alle Probleme, vor denen die Kirche in der Missbrauchskrise steht, waren bereits im 17. und 18. Jahrhundert bekannt. Dem Wissenschaftler und gläubigen Katholiken Lehner ging es bei den Recherchen zeitweise «richtig dreckig». Das Buch habe er geschrieben, weil es niemand anderes tun wollte.

Annalena Müller

Herr Lehner, warum haben Sie «Inszenierte Keuschheit» geschrieben?

Ulrich L. Lehner*: Ich hatte nie vor, dieses Buch zu schreiben. Auf Tagungen und Publikationen habe ich seit 2010 immer wieder darauf hingewiesen, dass man die Geschichte der Sexualdelikte im Klerus auch vor 1945 gründlich aufarbeiten muss. Ich habe sogar die Quellen und Archive angegeben, wo man Informationen finden kann. Aber niemand hat den Faden aufgenommen. Da fühlte ich mich sozusagen gezwungen, es halt selbst zu tun.

Ein wissenschaftliches Buch mit brisantem Inhalt: "Inszenierte Keuschheit".
Ein wissenschaftliches Buch mit brisantem Inhalt: "Inszenierte Keuschheit".

In wenigen Sätzen, um was geht es in «Inszenierte Keuschheit»?

Lehner: Das Buch untersucht sexuellen Missbrauch bei den Jesuiten im 17. und 18. Jahrhundert. Die Jesuiten stellten sich gerne als besonders keuschen Orden dar. Diese Inszenierung funktionierte, weil man die Fälle sexueller Gewalt an Schülern und Ordensmitgliedern geheim hielt. Delinquenten hat man einfach in den Weltklerus abgeschoben, obwohl das gegen die Ordensstatuten war. Prominente Täter hingegen beliess man im Orden und hat sie gedeckt…

«Die Mechanismen waren ähnlich wie wir sie in der aktuellen Missbrauchskrise erleben.»

… Das klingt alles irgendwie bekannt…

Lehner: Ja, die Mechanismen waren ähnlich wie wir sie in der aktuellen Missbrauchskrise erleben. Auch damals gab es Gerüchte, denen man nicht glauben wollte. Man versetzte die Leute einfach. Das Problem war auch, dass die Opfer als Opfer nie in den Blick kamen. Das Buch will auch dazu anregen, die Polemik gegen Jesuitenschulen als Orte der «Päderastie», die Historiker nie ernst genommen haben, nun neu zu überdenken.

Sie sind Wissenschaftler und praktizierender Katholik – wie war es für Sie, dieses Thema zu bearbeiten?

Lehner: Es war schrecklich. Vor allem als ich den Index zum Buch erstellte und die ganzen Einzelheiten – welche Art der Penetration, ob mit oder ohne Samenerguss und so weiter – nochmals alle auflisten musste, ging es mir richtig dreckig. Die detaillierten Berichte, die ich auch aus der spanischen und portugiesischen Literatur gezogen habe, erinnerten mich ständig an die erschütternden Berichte über deutschen und amerikanischen Missbrauch in der Gegenwart.

«Selbst für mich als erfahrenen Historiker war es schwierig, meinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen.»

Es gab schon im 17. und 18. Jahrhundert vereinzelte «Ringe» von Tätern, die sich ihre Opfer gegenseitig zuschanzten, vor Vergewaltigung nicht zurückschreckten, und nur in seltenen Fällen mit der vollen Härte des Gesetztes bestraft wurden. Da war es selbst für mich als erfahrenen Historiker schwierig, meinen Zorn unter Kontrolle zu bekommen.

In der gegenwärtigen Krise ist die Vertuschung von Missbrauch durch Verantwortungsträger ein grosses Thema. Gab es das auch schon früher?

Lehner: Ja, absolut. Der Vorwurf der Vertuschung wird vor allem ab dem 19. Jahrhundert erhoben. Natürlich muss man den historischen Kontext berücksichtigen. Es gab damals noch nicht das Ideal der Transparenz, wie wir es heute kennen. Daniel Jütte hat das kürzlich ganz phänomenal aufgearbeitet. Aber dass man auch ohne dieses Ideal in Kauf genommen hat, dass ein aus dem Orden entlassener Priester anderswo seine Untaten fortsetzt, ist schon ein starkes Stück.

Demonstrantin mit Schild: "Keine Vertuschung bei Missbrauchsschuldigen!" am 30. Januar 2020 in Frankfurt.
Demonstrantin mit Schild: "Keine Vertuschung bei Missbrauchsschuldigen!" am 30. Januar 2020 in Frankfurt.

Können Sie näher erklären, wie Vertuschung damals vonstatten ging?

Lehner: Bei Jesuiten, die Vollprofesse waren – und das waren nur wenige – zog man eine Entlassung nur in Extremfällen in Erwägung. Man versetzte sie meistens an andere Orte. So zum Beispiel im Fall von Theoderich Beck (†1676). Er war der Beichtvater des Kardinals Friedrich von Hessen. Beck zwang zahlreiche ihm anvertraute Gymnasiasten zum Sex. Als der bayerische Historiker Karl Ritter von Lang 1815 einige dieser Fälle zum ersten Mal publizierte, griffen ihn die Jesuiten an und beschuldigten ihn der Lüge oder redeten die Sexualdelikte klein.

Der Schutz des guten Rufes stand auch damals über allem?

Lehner: Ja, man wollte das Ansehen des Ordens durch eine Aufarbeitung nicht beschädigen. Allerdings gab es auch ordensinterne Whistleblower, die es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, «still» zu sitzen. Sie haben so manchen Fall erst ins Rollen gebracht.

Ulrich L. Lehner lehrt an der katholischen University of Notre Dame in den USA.
Ulrich L. Lehner lehrt an der katholischen University of Notre Dame in den USA.

Können Sie ein typisches Beispiel eines Missbrauchsfalls schildern, wie er Ihnen in Ihren Recherchen begegnet ist?

Lehner: Am bekanntesten ist der Fall des Augsburger Jesuiten Jakob Morell († 1727). Morell war ein Triebtäter. Er missbrauchte über Jahrzehnte hinweg Schüler. Viele darunter kamen aus einflussreichen Familien, wie etwa der Familie Fugger. Als man Morell auf die Schliche kam, entliess man ihn zunächst aus dem Orden. Von einer Strafverfolgung oder gar Gefängnis war hingegen nie die Rede.

Wie ging es für Morell nach seiner Entlassung aus dem Orden weiter?

Lehner: Er wurde schnell wieder aufgenommen. Der General in Rom liess sich von Morells Bittbriefen derart erweichen, dass er ihn schon ein Jahr später wieder aufnahm. Zwar wurde Morell in die hinterste Ecke Ungarns versetzt. Aber von dort aus wurde er alle zwei Jahre an ein anderes österreichisches Kolleg versetzt – 27 Jahre lang.

«Es ist kaum vorstellbar, dass ein Triebtäter aufhört.»

In vielen Städten war Morell für die Gymnasiasten als Beichtvater zuständig.  Es ist kaum vorstellbar, dass so ein Triebtäter aufhört. Er wird nur vorsichtiger geworden sein. Dieser Mann hat wahrscheinlich knapp 50 Jahre lang Schüler missbraucht.

Besonders in traditionalistischen Kreisen wird gerne erzählt, Missbrauch in der Kirche sei ein modernes Problem, an dem die 68er schuld seien. Georg Gänswein ist ein berühmter Vertreter dieser These. Was sagen Sie dazu?

Lehner: Das ist nachweislich falsch. Pius XII (1939-1958) wurde von einem Mann zum Papst gekrönt, von dem die Polizei Roms annahm, dass er seit Jahrzehnten ein Päderast war. Sein Vorgänger Pius XI (1922-1939) ist in fast allen offiziellen Fotografien von zwei hochrangigen Klerikern umgeben, über die man in den Polizeiakten Ähnliches lesen kann.

Georg Gänswein möchte gerne glauben, dass die '68er an der Missbrauchsskrise Schuld sind.
Georg Gänswein möchte gerne glauben, dass die '68er an der Missbrauchsskrise Schuld sind.

Darüber hat David Kertzer in seinem Buch «Der erste Stellvertreter» geschrieben. Im Tessin wurde 1916 der Bischof zum Rücktritt gezwungen, weil ein Diözesanpriester ihn beschuldigte, ihn sexuell missbraucht zu haben – und das war wohl kein Einzelfall. Das sind jetzt nur Fälle in den höchsten kirchlichen Kreisen in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die man unter der Decke gehalten hat. Vielleicht war das Ausmass vor 1968 geringer. Ich weiss es nicht und masse mir keine statistischen Aussagen an. Aber dass es solche Fälle gab und weit mehr als angenommen, ist eine Tatsache.

Ist Missbrauch also kein modernes, sondern ein systemisches Problem?

Lehner: Ich habe jedenfalls zahlreiche Zusammenhänge von spiritueller Betreuung und Missbrauch gefunden. Heute wie damals gab es strenge Kirchengesetze, die man aber oft nicht anwendete oder nur, wenn ein öffentlicher Skandal drohte. Ein modernes Problem ist sexueller Missbrauch sicher nicht.

Welche Reaktionen haben Sie bisher zu Ihrem Buch erhalten?

Lehner: Vor allem das Wohlwollen und die Hilfsbereitschaft des Jesuitenordens hat mich riesig gefreut. Dort ist man wirklich an Aufarbeitung interessiert. Bisher habe ich nur von Kollegen aus der Geschichtswissenschaft gehört und da nur Positives.

Papst Franziskus
Papst Franziskus

Würden Sie das Buch heute noch einmal schreiben?

Lehner: Ja, denn nur die Wahrheit macht frei. Aber ich würde dann die Fussnote korrigieren, in der ich meinen Mainzer Kollegen, Claus Arnold völlig missverstanden habe. Dieser hatte nämlich darauf hingewiesen, dass man die Anklagen von sexuellem Missbrauch in Häresieprozessen deutlich ernster nehmen sollte.

Als Historiker, Theologe und Katholik: Welche Reformen wünschen Sie sich in der katholischen Kirche, damit diese der Missbrauchsproblematik endlich Herr wird?

Lehner: Papst Franziskus macht nichts besser. Sie brauchen sich nur die «Rehabilitation» von Bischof Nienstedt vor einigen Wochen ansehen. Zehn Jahre nach dessen Rücktritt werden die Gläubigen nun aufgefordert, ohne eine Zeile der Begründung oder jeglicher Evidenz, dem obersten vatikanischen Gericht zu «vertrauen», dass an den Vorwürfen gegen Nienstadt nichts dran gewesen sein soll.

John Clayton Nienstedt, Erzbischof von Saint Paul in Minneapolis, wurde von Papst Franziskus rehabilitiert.
John Clayton Nienstedt, Erzbischof von Saint Paul in Minneapolis, wurde von Papst Franziskus rehabilitiert.

Aber: Vertrauen ist wie eine Brücke, mittels der man einen Fluss überquert. Man betritt die Brücke nur, wenn man gute Gründe hat anzunehmen, dass die Planken nicht morsch sind. Da wir in den letzten Jahren immer wieder ins kalte Wasser gefallen sind, weil wir dem Zuruf vom anderen Ufer blind vertraut haben, brauchen Katholiken und Katholikinnen heute gute Gründe, sich auf diese Brücke zu wagen.

Ein Urteil ohne Veröffentlichung der Urteilsbegründung reicht heute nicht mehr, die vatikanische Brücke ist nach all den Skandalen und Vertuschungen zu morsch?

Lehner: Genau. Doch autoritär wie er ist, versteht Franziskus das nicht. Wie kann man jemandem vertrauen, für den Transparenz in Missbrauchsfragen ein Fremdwort ist – siehe McCarrick? Oder der Personen in höchste Ämter befördert, die Missbrauchstäter nachweislich geschützt haben, wie den Glaubenspräfekten Kardinal Fernandez. Und der keinen Kurswechsel erkennen lässt, wie die eben erwähnte Causa Nienstedt zeigt. So gewinnt man kein Vertrauen zurück.

*Ulrich L. Lehner (47) ist römisch-katholischer Theologe und Historiker. Er ist Professor für Theologie an der renommierten University of Notre Dame in den USA. Seine Forschungsgebiete sind die Kultur-, Kirchen-, Theologie- und Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit.

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Inszenierte Keuschheit. Sexualdelikte in der Gesellschaft Jesu im 17. und 18. Jahrhundert

De Gruyter 2024, 306 Seiten.

Die historische Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch und Gewalt in der Frühen Neuzeit steht noch ganz am Anfang. Auf detaillierten Archivrecherchen beruhend, geht diese Studie Sexualdelikten im Jesuitenorden nach, die an Schülern, Studenten, Beichtkindern und anderen Jesuiten verübt worden sind. Dabei werden Muster von sexueller Gewalt deutlich, die sich auf spirituelle Bereiche ausdehnten, aber von den Ordensoberen nur in Extremfällen geahndet wurden. Dieser Ansatz ermöglicht es, ein neues Licht auf die Geschichte jesuitischer Bildungs- und Seelsorgeeinrichtungen zu werfen.

Das Buch ist im Open Access erhältlich und kann hier heruntergeladen werden.


Ulrich Lehner ist Professor für Theologie an der Notre Dame University (USA) | © zVg
18. Februar 2024 | 06:54
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