Kirchenhistoriker Hubert Wolf.
Story der Woche

Hubert Wolf: «Der Papst ist nicht irgendein Dorfpfarrer in den Schweizer Alpen»

Franziskus könnte der «bestinformierte Politiker der Welt sein», sagt Kirchenhistoriker Hubert Wolf. Aber mit seinen unreflektierten Äusserungen und kurzsichtigem Pazifismus hat sich der Papst in Nahost und der Ukraine als moralischer Mediator disqualifiziert. Der Pontifex fremdelt mit der katholischen Tradition und zerschlage «regelmässig viel diplomatisches Porzellan».

Annalena Müller

Frühere Päpste führten Kriege, spätere haben in Konflikten vermittelt. Franziskus gilt als diplomatisch schwach – ist der Papst zu unpolitisch?

Hubert Wolf*: Ich denke nicht, dass Papst Franziskus unpolitisch ist. Aber er agiert sowohl in der Ukraine als auch in Israel diplomatisch unklug. Gerade was Kriegsdiplomatie angeht, handelt er anders als seine Vorgänger.

Inwiefern?

Wolf: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Papst Oberhaupt eines Staates. Als solcher hat er auch selbst Kriege geführt. Seit 1870 gibt es aber keinen Kirchenstaat mehr. Das gab den Päpsten Freiheit, weil sie in ihrer Politik nicht mehr auf die Interessen des eigenen Staates Rücksicht nehmen mussten. Den religiösen Prinzipien des Christentums verpflichtet, wurden die Päpste als einmalige moralische Autorität immer wichtiger, denen man zutraute, ehrliche Makler zu sein.

Papst Pius IX. (1846-1878) war der letzte Papst, der noch über ein eigenes Staatsgebiet herrschte.
Papst Pius IX. (1846-1878) war der letzte Papst, der noch über ein eigenes Staatsgebiet herrschte.

Im Ersten Weltkrieg versuchte Benedikt XV. zu vermitteln. Gelungen ist es ihm nicht – blamiert sich ein Papst, wenn er sich in die Weltpolitik einmischt?

Wolf: Seit der Friedensinitiative von Benedikt XV. im Jahr 1917 tobt ein Streit im Vatikan, bei dem es um die Frage geht: Muss der Papst als «Vater aller Gläubigen», die es auf allen Seiten der Front gibt, neutral bleiben? Oder ist er verpflichtet, sich als geborener Friedensstifter mit konkreten Vorschlägen einzumischen? Pius XII. wählte während der Shoah den Weg der Überparteilichkeit und wurde deshalb als Papst, der zum Holocaust schwieg, verurteilt. Benedikt XV. wählte eine Friedensinitiative mit konkreten Vorschlägen und wurde von allen Kriegsparteien der Parteilichkeit geziehen, weshalb die Initiative zum Scheitern verurteilt war.

«Die Friedensinitiative von Benedikt XV. hat dem Papsttum viel moralisches Kapital eingebracht.»

Seither stehen die Päpste in dieser Frage zwischen Skylla und Charybdis. Man sollte aber nicht vergessen, dass die Friedensinitiative dem Papsttum viel moralisches Kapital eingebracht hat. Selbst Kommunisten mussten anerkennen: Benedikt XV. war der Einzige, der ernsthaft versucht hat, einen Frieden zu vermitteln.

Papst Benedikt XV. (1914-1922) versuchte den Ersten Weltkrieg zu beenden.
Papst Benedikt XV. (1914-1922) versuchte den Ersten Weltkrieg zu beenden.

Versucht Franziskus in Anbetracht der Kriege in der Ukraine und Nahost, neutral zu sein?

Wolf: Franziskus wählt weder den Weg Benedikts XV. noch den Pius’ XII. Er ist weder neutral, noch macht er konkrete Lösungsvorschläge. Er redet irgendwie daher. Im Ukrainekonflikt gibt es einen eindeutigen Aggressor: Russland, den der Papst aber nicht als solchen nennt. Und er sagt auch nicht, dass die Ukrainer nach der Lehre vom Gerechten Krieg selbstverständlich das Recht haben, sich zu verteidigen. Ja, dass sie sogar gezwungen sein könnten, Waffen in die Hand zu nehmen, um ihre Kinder zu verteidigen. Stattdessen schwadroniert er: Im Grunde seien an diesem Krieg die Amerikaner schuld. Vielleicht wäre es besser, er hätte geschwiegen.

Und in Nahost?

Wolf: Da agiert der Papst ebenfalls unglücklich. Nach dem Überfall am 7. Oktober telefonierte Franziskus zuerst mit Palästinenser-Präsident Abbas. Erst zwei Wochen später sprach er mit dem israelischen Präsidenten Herzog. In keiner Stellungnahme seither benannte Franziskus den terroristischen Anschlag der Hamas als Auslöser des Kriegs oder sprach vom Selbstverteidigungsrecht Israels. So verspielt er das moralische Kapital von Anfang an.

Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.
Während die Welt 1942 zerbrach, weihte Pius XII. (1939-1958) sie der Gottesmutter. Zur Shoah schwieg er.

Sie haben die katholische Lehre vom Gerechten Krieg erwähnt – diese spielt bei Papst Franziskus keine Rolle. Und auch für die meisten Gläubigen in der Schweiz ist die pazifistische «Bergpredigt» der Leitfaden im Umgang mit dem Ukraine-Konflikt. Wie kommt das?

Wolf: Die Seligpreisung der Friedensstifter in der Bergpredigt ist ein wunderbarer Text, ein Blick ins Paradies. Die Geschichte zeigt oft eine andere brutale Realität. Damit ging die Kirche in ihrer Lehre um, indem sie aus Schrift und Tradition, den beiden katholischen Offenbarungsquellen, den Gläubigen eine Entscheidungshilfe an die Hand gab.

«Ob es einem gefällt oder nicht: radikaler Pazifismus gehört nicht zur Tradition der katholischen Kirche.»

Nämlich wie sie handeln konnten, falls sich die christliche Friedensvision gerade nicht als realisierbar erweisen sollte. Das ist in der Lehre vom Gerechten Krieg ausformuliert. Denn radikaler Pazifismus gehört, ob es einem gefällt oder nicht, nicht zur Tradition der katholischen Kirche.

Was besagt die Lehre vom Gerechten Krieg?

Wolf: Sie legt Kriterien fest, wann ein Christenmensch zu kriegerischen Mitteln greifen darf. Der heilige Thomas von Aquin hat diese systematisiert. Am wichtigsten ist das Kriterium des «gerechten Grundes». Diese iusta causa ist immer dann gegeben, wenn ein Land und vor allem die Zivilbevölkerung angegriffen wird. Dann habe ich das Recht und gegebenenfalls nach der Lehre der Kirche sogar die Pflicht, mich mit Waffen in der Hand zu verteidigen. Aber es gibt klare Grenzen.

Der Dominikaner und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (†1274) war zentral für die Ausformulierung der Lehre vom Gerechten Krieg. Sie ist bis heute gültig.
Der Dominikaner und Kirchenlehrer Thomas von Aquin (†1274) war zentral für die Ausformulierung der Lehre vom Gerechten Krieg. Sie ist bis heute gültig.

Welche?

Wolf: Selbst ein Verteidigungskrieg ist nur solange gerecht, wie er ein angemessenes Ziel, eine recta intentio verfolgt. So darf ich zum Beispiel den Angriff abwehren und den Feind aus meinem Land vertreiben. Aber ich darf das nicht als Vorwand nehmen, um in das Land des Angreifers einzufallen.

Diese Voraussetzungen sind in der Ukraine gegeben. Die Führung dort betont regelmässig, sie wolle nicht in russisches Territorium einmarschieren, sondern lediglich die russischen Truppen aus dem eigenen vertreiben. Warum hat sich Papst Franziskus nicht entsprechend der Lehre positioniert?

Wolf: Ja, was die Ukraine macht, ist eine Form der Selbstverteidigung, die mit der katholischen Tradition übereinstimmt. Franziskus aber fremdelt offenkundig mit dieser. Er wollte die Lehre vom Gerechten Krieg sogar aus dem Katechismus streichen. Er hat es aber schliesslich doch nicht getan, offenbar, weil er keine überzeugende Alternative für Gläubige in Konfliktsituationen anbieten kann.

«Der Papst kann nicht einfach daherreden, was ihm spontan in den Sinn kommt.»

Muss er denn eine Alternative anbieten?

Wolf: Unbedingt! Der Papst ist nach der Lehre der Kirche der oberste Lehrer der Gläubigen. Franziskus ist der Repräsentant von etwa 1,4 Milliarden Katholiken. Viele davon leben in Gegenden, in denen Krieg herrscht. Sie haben ein Recht, vom Stellvertreter Jesu Christi auf Erden zu erfahren, wie sie sich im Fall eines Verteidigungskrieges verhalten sollen. Der Papst ist schliesslich nicht irgendein Dorfpfarrer in den Schweizer Alpen. Er kann nicht einfach daherreden, was ihm spontan in den Sinn kommt. Sondern er muss sich klar sein, welche Bedeutung seine Worte weltweit haben. Und das ist, glaube ich, ein Grundproblem bei Franziskus.

Inwiefern?

Wolf: Der Papst ist, ob er will oder nicht, als Oberhaupt der katholischen Kirche ein weltpolitischer Akteur erster Ordnung. Franziskus verfügt über 2000 Jahre politischer und diplomatischer Erfahrung seines Apparats an der Römischen Kurie. Wenn er wollte, könnte er der bestinformierte Politiker der Welt sein. Mit diplomatischen Kontakten in die ganze Welt, mit Informanten in jedem Dorf.

«Man hat den Eindruck: Franziskus nutzt seinen diplomatischen Apparat nicht nur nicht, sondern er ignoriert ihn bewusst.»

Im Staatssekretariat in Rom ist eine hohe Kompetenz versammelt. Franziskus bekommt ausgezeichnete Memos und saubere diplomatische Analysen. Aber man hat den Eindruck: Er nutzt sie nicht nur nicht, sondern ignoriert sie bewusst. Man fragt sich, ob der Mann vom Ende der Welt wirklich in der Kurie angekommen ist.

Franziskus ignoriert also diesen Apparat?

Wolf: Den Eindruck kann man bekommen, ja. Auf Flugreisen mit Journalisten äussert sich Franziskus häufig sehr spontan und wenig reflektiert zu allen möglichen politischen Angelegenheiten. Damit zerschlägt der Pontifex regelmässig viel diplomatisches Porzellan. Danach müssen die Diplomaten des Vatikans versuchen, den Schaden irgendwie zu begrenzen: «So hat der Papst das doch gar nicht gemeint.» Das gilt auch für die Ukraine und Nahost. Als ehrlicher Makler des Friedens scheidet Franziskus meiner Ansicht nach aus. Die Möglichkeiten hat er sich wahrscheinlich selbst verbaut.

Papst Franziskus spricht gerne spontan zu Medienschaffenden.
Papst Franziskus spricht gerne spontan zu Medienschaffenden.

In der Ukraine kann ich das nachvollziehen, weil der Papst sich als «Russlandversteher» gab. Aber inwiefern trifft das auf Israel zu?

Wolf: In zweierlei Hinsicht. Zum einen ist die Beziehung zu Israel historisch belastet. Der Heilige Stuhl hat alles getan, um die Errichtung des Staates Israel 1948 zu verhindern – trotz der Shoah und sechseinhalb Millionen ermordeter Juden. Erst 1993, unter Johannes Paul II., hat der Vatikan den Staat Israel anerkannt. Es gibt also ein gewisses historisch gewachsenes israelisches Misstrauen gegenüber dem Vatikan. Zum anderen hat das unkluge Agieren des Papstes nach dem 7. Oktober dafür gesorgt, dass Franziskus von israelischer Seite nicht als neutral wahrgenommen wird.

Was hätte Franziskus denn im aktuellen Nahostkonflikt machen können?

Wolf: Er hätte unmittelbar seine Solidarität mit den Juden als den «älteren Brüdern und Schwestern im Glauben», wie Johannes Paul II. sagte, bekunden müssen. Und er hätte sensibel auf das israelische Trauma reagieren müssen, das sie jetzt nicht einmal in ihrem eigenen Land sicher sein können: Nie sind seit der Shoah an einem Tag so viele jüdische Menschen bestialisch ermordet worden. Er hätte die Hamas eindeutig als terroristische Täter benennen und das Selbstverteidigungsrecht Israels nach der Lehre vom Gerechten Krieg bekräftigen müssen. Dann hätte er auch sofort den zweiten Satz sagen können: «Wir akzeptieren nicht, dass ihr unverhältnismässig gegen die Zivilbevölkerung in Gaza vorgeht» – wieder gestützt auf diese Lehre.

«Die moralische Glaubwürdigkeit der Kirche hat durch die Missbrauchskrise stark gelitten.»

Wie könnte ein Papst, der weniger mit der Tradition fremdelt und sich auf seinen diplomatischen Apparat verlässt, auf das Weltgeschehen Einfluss nehmen?

Wolf: Als ehrlicher Vermittler, ohne eigene Interessen, der aber für die Werte der christlichen Tradition ohne Wenn und Aber eintritt. Wie vorhin gesagt, verfügt der Papst prinzipiell über ein grosses moralisches Kapital. Allerdings hat die moralische Glaubwürdigkeit der Kirche durch die Missbrauchskrise, die auch in Rom bisher nicht glaubhaft aufgearbeitet wird, stark gelitten. Das ist ein grosses Manko, auch auf der politischen und diplomatischen Ebene, wo Glaubwürdigkeit zentral ist.

Bischöfe und Kardinäle in Rom.
Bischöfe und Kardinäle in Rom.

Die Welt wird nicht weniger kompliziert, bewaffnete Konflikte nehmen zu – ein glaubwürdiger Vatikan als Vermittler wäre wichtig. Was wünschen Sie sich von Papst Franziskus oder seinem Nachfolger?

Wolf: Um Glaubwürdigkeit und moralisches Kapital zurückzugewinnen, muss die Missbrauchsgeschichte sauber aufgearbeitet werden. Das heisst, dass all diejenigen, auch die Bischöfe und Kardinäle, die von Missbräuchen gewusst und nicht gehandelt haben, zurücktreten müssen. Erfolgreiche Glaubensverkündigung und Friedensvermittlung basiert auf Glaubwürdigkeit. Und ein Papst und seine Kirche können nur dann überzeugend zu den brennenden Themen der Welt – von Krieg bis Umwelt – etwas sagen, wenn sie glaubwürdig sind. Ohne Glaubwürdigkeit funktioniert das nicht.

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*Hubert Wolf (64) ist der gefragteste katholische Kirchenhistoriker in Deutschland. Er hat umfassend zur Geschichte der Kirche und der Päpste publiziert. Aktuell forscht er zu Pius XII. und der Shoah. Wolf lehrt an der Universität Münster und ist Priester der Diözese Rottenburg-Stuttgart. 2019 erhielt er von der Universität Bern die Ehrendoktorwürde.


Kirchenhistoriker Hubert Wolf. | © KNA
29. Dezember 2023 | 06:00
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