Thomas Boutellier ist Verbandspräses im Verband Katholischer Pfadi.
Kommentar

Thomas Boutellier widerspricht Rudolf Nussbaumer: Verhaltenskodex ist die bislang beste Antwort auf den Missbrauchskomplex

«Man kann nicht den toxischen Missbrauchskomplex beklagen, aber nicht bereit sein, sich auf einen Kulturwandel einzulassen», findet Pfadi-Mann Thomas Boutellier (43). Er kritisiert Rudolf Nussbaumer, der die Entlassung der Präventionsbeauftragten Karin Iten gefordert hatte: «Auch die Bistümer Basel und St. Gallen bräuchten eine Karin Iten.» Ein Gastkommentar.

Thomas Boutellier*

Lieber Rudolf

Ich bin versucht, meinen Kommentar mit «Danke» zu beginnen: «Danke für die Entschuldigung.» Aber wie immer und insbesondere in der Kirche liegt der Teufel im Detail. Du entschuldigst dich nur für deine Wortwahl – und nicht für den Inhalt deiner Aussagen. 

Verhaltenskodex und Schutzkonzept haben unterschiedliche Anliegen

Doch der Reihe nach. Du kritisiert den Verhaltenskodex des Bistums Chur und lobst stattdessen das Schutzkonzept der Bistümer Basel und St. Gallen. Dabei haben Verhaltenskodex und Schutzkonzept ganz unterschiedliche Anliegen. 

Bischof Joseph Bonnemain unterschreibt den neuen Verhaltenskodex am 5. April 2022.
Bischof Joseph Bonnemain unterschreibt den neuen Verhaltenskodex am 5. April 2022.

Verlassen wir die kirchliche Käseglocke und schauen uns den Sportbereich an. «SwissOlympic» gibt gerade Gas, wenn man den Ausdruck aus dem Sport nutzen will. Der Verband macht das, was du in deinem Brief als unnötig beschreibst. Er veröffentlicht einen Ethikkodex und verlangt gleichzeitig Schutzkonzepte.

Innerkirchliche Zerfleischungsprozesse

Hinzu kommen eine nationale Meldestelle und die Möglichkeit, Strafen und Sperren zu verhängen. Natürlich gibt es auch bei «SwissOlympic» Luft nach oben. Doch immerhin: Sie haben das Problem erkannt.

Rudolf Nussbaumer
Rudolf Nussbaumer

Präventionsarbeit ist ein wenig wie Synodalität: nie abgeschlossen. Es geht immer von Neuem los. Bestehendes muss überprüft, justiert, überarbeitet werden. Auch das Bistum Chur hat den Verhaltenskodex nicht in Stein gemeisselt. Es ist ein wichtiger Schritt – doch weitere Schritte werden notwendig sein. Schade, dass das Bistum Chur und die Kirche nicht weiterhin zeigen können, wie es in diesem Bereich geht. Sie gehen zwar den ersten Schritt, bleiben dann aber in innerkirchlichen Zerfleischungsprozessen stehen.

Die Unterschiede müssten bekannt sein

Es ist fachlich falsch, Schutzkonzept und Verhaltenskodex gleichzusetzen. Ich unterstelle allen kirchlichen Führungspersonen, dass die Gleichsetzung kein Versehen, sondern bewusst intendiert ist. Zu oft haben wir in den letzten Jahren über diese Unterschiede gesprochen, als dass diese nicht allen bekannt sein sollten. 

Präsentation des Verhaltenskodex im Bistum Chur: Der Graubereich ist nicht strafrechtlich relevant, der Rotbereich schon.
Präsentation des Verhaltenskodex im Bistum Chur: Der Graubereich ist nicht strafrechtlich relevant, der Rotbereich schon.

Ein Schutzkonzept analysiert Prozesse und Aktivitäten auf potentielle Gefährdung. Danach legt es mit einem Konzept, wie der Name schon sagt, konzeptionell fest, welche Rahmenbedingungen eine Organisation schaffen muss, um Missbrauch zu verhindern. So werden Regeln geschaffen, die eingehalten werden müssen. 

Es geht um den bestmöglichen Schutz

Ein Verhaltenskodex hingegen analysiert das Handeln von Personen und zeigt, wie das gewünschte Verhalten aussehen sollte. Ein Verhaltenskodex schützt nicht mit konkreten Massnahmen, sondern damit, dass er Haltungen aufzeigt, die schützen. Es geht um einen Kulturwandel. 

Nicole Büchel, Karin Iten, Stefan Müller und Joseph Bonnemain
Nicole Büchel, Karin Iten, Stefan Müller und Joseph Bonnemain

Geht es um den bestmöglichen Schutz, brauchen wir beides. Und wenn man genauer hinschaut, gibt es etwa im Bistum Basel Selbstverpflichtungen, die bei weitem nicht so breit abgestützt sind wie der Verhaltenskodex. Sie entstammen den Anfängen der Präventionsarbeit und wurden seither leider nicht weiterentwickelt. Immerhin: Sie ergänzen das Schutzkonzept. 

Der Churer Priesterkreis sorgt für negative PR

Es ist nicht wahr, dass die Unterzeichnung der Selbstverpflichtungen in anderen Bistümern einfach friedlich verlief. Was stimmt: Es gab im Bistum Basel und im Bistum St. Gallen mehr Konsens und Verständnis. Und die Basler und St. Gallerinnen verstehen, dass man Konflikte nicht medial austrägt. Das bringt nur negative PR und hilft niemandem.

Sie gehören dem "Churer Priesterkreis" an und kritisieren den Verhaltenskodex: die Domherren Roland Graf (l.) und Franz Imhof.
Sie gehören dem "Churer Priesterkreis" an und kritisieren den Verhaltenskodex: die Domherren Roland Graf (l.) und Franz Imhof.

Es werden nur Vorurteile zementiert und ist gerade gegenüber Opfern das Eingeständnis, das wir weiterhin nichts gelernt haben.

Nicht das reden ist wichtig, sondern das tun

Warum wird bei einem Papier, das den Schutz der uns anvertrauten Menschen zum Inhalt hat, überhaupt über Theologie diskutiert?Kann es ein, dass man Karin Iten zur Nestbeschmutzerin konstruiert, um bewusst nicht genau hinschauen zu müssen? Die grosse Mehrheit der kirchlichen Mitarbeitenden hat kein Problem, Macht abzugeben und den Menschen nicht ins Schlafzimmer zu sehen. 

Karin Iten und Stefan Loppacher sind die beiden Präventionsbeauftragten des Bistums Chur.
Karin Iten und Stefan Loppacher sind die beiden Präventionsbeauftragten des Bistums Chur.

Und spielt es wirklich eine Rolle, ob Karin Iten eine Agnostikerin ist? Schon bei den Sprüchen der Väter steht: Nicht das reden ist wichtig, sondern das tun. Menschen fragen heute nicht mehr, was man ist, sondern schauen, wie man handelt. 

«Ich mach’ mir die Welt, wie sie dir gefällt»

Karin Iten vorzuwerfen, dass sie Agnostikerin ist, ist perfide. Als ob ihr Engagement gegen Missbrauch dadurch geschmälert würde. Dabei steht Karin Iten für Fürsorge, Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Spielt dann wirklich eine Rolle, welches religiöse Konzept dahinter steckt? Zu behaupten, jemand sei Agnostiker und deswegen sei die Theologie im Verhaltenskodex schlecht, zeugt nicht gerade von theologischer Brillanz. Pippi Langstrumpf würde singen: «Ich mach’ mir die Welt, wie sie dir gefällt…» 

Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur
Karin Iten, Präventionsbeauftragte des Bistums Chur

Es ist Unsinn, wenn du behauptest, Karin Iten wolle als Nicht-Theologin sich in theologische Fragen einmischen. Nicht Karin Iten allein hat den Verhaltenskodex des Bistums Chur geschrieben, sondern eine Projektgruppe aus Theologinnen, Theologen und weiteren Fachleuten. Darunter waren auch Priester. Zu denen gab’s noch nie einen negativen Kommentar.   

Nicht Kirchenferne ist das Problem, sondern mangelnde Distanz

Und selbst wenn: Bischof Joseph Bonnemain hat als Bischof des Bistums Chur den Verhaltenskodex gutgeheissen und unterschrieben. Die theologische Kompetenz und die Treue zum Lehramt von Bischof Joseph Maria hat meines Wissens noch niemand ernsthaft in Frage gestellt.

Der Verhaltenskodex des Bistums Chur.
Der Verhaltenskodex des Bistums Chur.

Du schreibst, alle seien in deinem Pfarrhaus willkommen. Warum prangerst du dann an, dass Karin Iten Agnostikerin ist? Das Problem im Missbrauchskomplex ist nicht Kirchenferne, sondern mangelnde Distanz und Professionalität. Ein Verhaltenskodex ist nicht dann gut, wenn ihn eine besonders katholische Person geschrieben hat. Sondern wenn er fachlich «state of the art» ist. Dein Argument zielt ausschliesslich nach innen und will diskreditieren. 

Toxischer Missbrauchskomplex

Ich schätze Karin Iten sehr. Sie ist eine Person, die keine Angst vor Gegenwind hat und offen und ehrlich Dinge benennt und auch mal anklagt. Sie tut der Kirche gut, denn sie hält uns Mitarbeitenden einen Spiegel vor. Und sie fordert ein, dass aus den «Null Toleranz»-Aussagen effektive Schutzmechanismen werden. 

Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.
Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.

Man kann nicht den toxischen Missbrauchskomplex beklagen, aber nicht bereit sein, die «comfort zone» zu verlassen und den Kulturwandel mitzutragen.

Synodalität heisst zuhören, nicht rumschreien

Karin Iten hört zu und ist bereit, zu lernen. Das hingegen vermisse ich bei vielen anderen. Der Churer Priesterkreis behauptet allen Erstens, gesunder Menschenverstand verhindere Übergriffe. 

Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.
Brainstorming zur Synodalität beim RKZ-Fokus in Bern im September 2021.

Alle sprechen zurzeit von Synodalität. Synodalität heisst zuhören, nicht rumschreien. Zuhören ist eine stille Sache. Menschen, die polarisieren und schreien, denen hört niemand richtig zu. Man hört nur die ersten drei Sätze, dann «weiss» man ja, was der Rest ist. Synodalität heisst hingegen bis zum Schluss zuzuhören. 

Gemeinsam unterwegs

Es geht darum, den Menschen ins Zentrum zu stellen. Oder, wie es Kardinal Mario Grech sagt: «Synodalität bedeutet, dass die Familie Gottes, das Volk Gottes gemeinsam auf dem Weg ist. Und jedes Familienmitglied hat was dazu beizutragen. Die Eltern entscheiden nicht einfach, sondern sie hören auf die Kinder und sind ständig im Austausch mit ihnen.»

* Thomas Boutellier (43) ist Verbandspräses im Verband Katholischer Pfadi und Co-Leiter von «Kirche Urban» bei Katholisch Stadt Zürich. Er ist beruflich und im Ehrenamt im Bereich Missbrauchs-Prävention und Intervention tätig.


Thomas Boutellier ist Verbandspräses im Verband Katholischer Pfadi. | © zVg
13. Februar 2023 | 12:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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