Theo Schenkel
Schweiz

Theo Güntert-Schenkel zu «Dignitas infinita»: «Niemand entscheidet sich, trans zu sein»

Der Vatikan hat ein Dokument zur Menschenwürde herausgegeben. «Es ist verletzend», sagt der Religionslehrer Theo Güntert-Schenkel. «Der Text vermittelt den Eindruck, als würden trans* Personen aus einer Laune heraus entscheiden, den Weg einer Transition zu gehen.» Die Aussagen seien gefährlich und unhaltbar.

Jacqueline Straub

Der Vatikan hat das Schreiben «Dignitas infinita» zum Thema Menschenwürde herausgegeben. Wie kam es bei Ihnen an?

Theo Güntert-Schenkel*: Bisher habe ich die Veröffentlichung noch nicht in Gänze gelesen, sondern nur einige Abschnitte. An und für sich finde ich es sinnvoll, dass die Kirche sich in die Debatte um Menschenwürde und die daraus resultierenden Konsequenzen einbringt. Allerdings kann dies kaum gelingen, wenn die Kirche kaum anerkennt, an welchen Punkten sie selbst die Würde von Menschen gefährdet und verletzt. 

Der Vatikan.
Der Vatikan.

Das Dokument lehnt etwa Geschlechtsangleichungen ab. Was sagen Sie dazu?

Güntert-Schenkel: An und für sich sind die Aussagen zum Thema Gender allgemein und trans* Personen im Speziellen nicht neu. Gerade in letzter Zeit wurde diese Position regelmässig kommuniziert. Ich finde diese Äusserungen sowohl unhaltbar als auch gefährlich.

Inwiefern?

Güntert-Schenkel: Zum einen wird die Situation von trans* Personen komplett ausgeblendet, der Leidensdruck, der entstehen kann, wenn trans* Personen Möglichkeiten einer Geschlechtsangleichung – sei es sozial oder medizinisch – verwehrt bleiben, wird nicht einmal erwähnt. Der Text vermittelt viel eher den Eindruck, als würden trans* Personen aus einer Laune heraus entscheiden, dass es doch viel spassiger wäre, den Weg einer Transition zu gehen und alle damit verbundenen Entscheidungen leichtfertig treffen. Dem ist jedoch in keinem Fall so.

«Es fügt immer wieder erneut Schmerzen zu.»

Wie sehen Sie das?

Güntert-Schenkel: Trans* Personen können sich zwar für oder gegen eine Transition beziehungsweise für oder gegen einzelne Schritte entscheiden, aber niemand entscheidet sich, trans* zu sein. Ähnlich, wie sich auch niemand die sexuelle Orientierung aussucht. Besonders bedenklich finde ich die Grundaussage, dass jegliche geschlechtsangleichende Massnahme gegen den göttlichen Schöpfungsplan und gegen die Menschenwürde verstossen würde. Vor allem, weil dies heissen würde, dass der göttliche Schöpfungsplan beispielsweise für mich ein höchst unglückliches Leben mit langjährigen Depressionen wäre. Es fällt mir schwer zu glauben, dass das der göttlichen Natur oder meiner Menschenwürde eher entsprechen soll als ein deutlich glücklicheres und authentischeres Leben. 

Fühlen Sie sich verletzt von der katholischen Kirche?

Güntert-Schenkel: Auch wenn ich immer wieder bewusst versuche, diese Aussagen und Texte nicht zu nah an mich heranzulassen, verletzen sie natürlich. Immer und immer wieder. Auch wenn ich die Aussagen oder Positionen im Grunde bereits kenne, fügt es immer wieder erneut Schmerzen zu. 

Kreuz auf Regenbogenfahne
Kreuz auf Regenbogenfahne

Was hätten Sie sich gewünscht?

Güntert-Schenkel: Ich würde mir wünschen, dass die Angst, die durchaus aus diesen Texten spricht – also die Angst vor Veränderungen, vor Lebensrealitäten, die eher unbekannt sind – überwunden wird. Dass sich die katholische Kirche traut, eben ihre eigenen Worte von Menschenwürde und Freiheit ernst zu nehmen und Menschen zugesteht, selbst zu wissen, was ihnen entspricht und was in ihren Augen ein würdevolles freies Leben ist. Ich würde mir wünschen, dass eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Schuldgeschichte der katholischen Kirche stattfindet, damit solche Texte überhaupt glaubwürdig erscheinen können. 

«Das Leid wird so weit verstärkt.»

Welche Gefahren sehen Sie in solchen Aussagen?

Güntert-Schenkel: Generell sehe ich die Gefahr, dass solche Aussagen zum einen die Distanz zwischen betroffenen Menschen und der Amtskirche unüberbrückbar vergrössern. Dass das Leid so weit verstärkt wird, dass es kein Zurück gibt. Zum anderen aber auch sind diese Texte gerade auch für betroffene Personen, die gläubig sind, sehr gefährlich. Ihnen wird das Gefühl vermittelt, dass sie sich zwischen verschiedenen Aspekten ihrer Identität – Glaube und Geschlechtsidentität – entscheiden müssten, weil beide im Widerspruch zueinander stehen. Es ist zu befürchten, dass «Dignitas infinitas» die Stimmen verstärkt, die Neuerungen und Reformen gegenüber skeptisch sind und hierbei auf Rom verweisen. 

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Gibt es Punkte, die Sie gelungen finden? 

Güntert-Schenkel: Theoretisch könnte man dem Abschnitt zum Thema Gender und trans* zugutehalten, dass nur noch in Zitaten von einer «Gender-Ideologie» die Rede ist und sonst auf den Ideologiebegriff verzichtet wird. Im Vergleich zum Inhalt erscheint mir dies jedoch eher gering. 

*Theo Güntert-Schenkel ist trans. Er arbeitet als Religionslehrer.


Theo Schenkel | © Ueli Abt
9. April 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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