Tanzspektakel mit Toleranzbotschaft: Religiöse Aspekte der Zürcher Street Parade

Als 1992 zum ersten Mal etwa Tausend Raver über Zürichs Strassen tanzten, tat die Gesellschaft dies als Eintagsfliege ab. Heute ist die Street Parade erwachsen und feiert den 30. Geburtstag nach – mit etwa einer Million erwarteten Gästen. Das Thema Religion durchzieht die Grossveranstaltung auf verschiedenen Ebenen.

Natalie Fritz

«I Wish» ist das Motto der diesjährigen Street Parade, die ab heute Mittag hunderttausende Menschen rund ums Zürcher Seebecken tanzen lässt. Für die Veranstaltenden bedeutet «I Wish» mehr als nur «ich wünsche mir etwas»; vielmehr sehen sie im Wunsch selbst die «Saat, aus der Grossartiges entstehen kann», wie sie auf ihrer Webseite erklären.

«I Wish» ist das diesjährige Motto der Street Parade. Screenshot Street Parade Homepage.
«I Wish» ist das diesjährige Motto der Street Parade. Screenshot Street Parade Homepage.

Mehr als nur ein Tanzanlass?

Da klingelt es in den Ohren religionsaffiner Menschen und man fragt sich, ob die Veranstaltenden beim Verfassen des Motto-Teasers wohl einen Blick ins Neue Testament geworfen haben. Schliesslich vergleicht Jesus laut den Evangelisten das Reich Gottes und mit ihm die Heilsbotschaft immer wieder mit einer Saat, die austreibt und wächst, sofern sie auf «gutem Boden» gepflanzt wird. Die Frage ist, was genau ist die «Heilsbotschaft» der Street Parade?

Bunt und inklusiv an der Street Parade 2012.
Bunt und inklusiv an der Street Parade 2012.

Blickt man auf die Geschichte des Technoanlasses, wird schnell deutlich, dass die Veranstaltung bereits in ihrer ersten Ausgabe nicht nur ein Tanz-Event sein wollte. Gründer Marek Krynski gab damals bei der Stadtpolizei nämlich eine Eingabe für eine Demonstration ein. Eine, die Toleranz, Freiheit und Liebe fordere und zelebriere. Klingt nicht in erster Linie nach lauten Bässen, ekstatischen Tänzerinnen und schrill verkleideten Tänzern, sondern nach einer gesellschaftspolitischen Kundgebung.

Für mehr Toleranz und Gleichberechtigung

Wer sich die Mottos der letzten 31 Jahre anschaut, dem wird bewusst, dass gut zwei Drittel der Leitsprüche ziemlich explizit eine tolerante und respektvolle Gesellschaft propagieren. So folgten etwa auf «Peace» im Jahr 2002 die Mottos «Respect» (2007), «Dance for Freedom» (2013) oder «Love Never Ends» (2017). Alle diese Wahlsprüche vermitteln die Vision einer gerechten, gleichberechtigten und nachhaltigen Gesellschaft. Ein Ideal, das auch viele religiöse Weltbilder propagieren.

Besuch aus Asien: Street Parade 2007.
Besuch aus Asien: Street Parade 2007.

2012 präsentierte das Museum Rietberg übrigens eine Ausstellung mit über 300 Skulpturen aus dem indischen Chhattisgarh unter dem Namen «Streetparade der Götter»; Parallelen zum Grossanlass sind beabsichtigt.

Gemeinschaft erleben ohne Verpflichtungen

Obwohl die mediale Berichterstattung mehrheitlich auf das Exzentrische und das Exaltierte fokussiert, scheint die Street Parade tatsächlich auch eine Botschaft zu vermitteln: Zusammen feiern, egal, welche Sprache Mann spricht, welcher Religion Frau angehört und welche sexuellen Vorlieben Mensch hat.

Einen speziellen Moment in einer Gemeinschaft erleben, sich für einen bestimmten Zeitraum als Teil eines grossen Ganzen fühlen, das nennt der deutsche Soziologe Winfried Gebhardt «situative Event-Vergemeinschaftung».

Gemeinschaftsgefühl an der Street Parade 2015.
Gemeinschaftsgefühl an der Street Parade 2015.

Diese Form des Gemeinschaftserlebnisses funktioniert auch ausserhalb eines institutionellen Rahmens, es ist nicht an Verbindlichkeiten oder Pflichten gebunden, vermittelt aber dennoch ein Gefühl der Sinnhaftigkeit – zumindest temporär. Man denke etwa auch an die Public Viewings an Europa- oder Weltmeisterschaften, wo eine imaginierte Nationalidentität kurzfristig soziale Unterschiede vergessen lässt und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit schafft.

Gängiges auf den Kopf stellen

Der performative Aspekt der Street Parade mit Tanz, Musik und Verkleidungen verdeutlicht, dass es sich um einen ausseralltäglichen Anlass handelt. Ähnlich der Fasnacht oder dem Karnevalstreiben stellen die Raverinnen und Raver an der Technoparty gesellschaftliche Normen und Rollenbilder auf den Kopf: von Beginn an war Die LGBT-Szene integraler Bestandteil der Parade – genauso wie Cis-Männer mit hohen Absätzen oder Pensionärinnen im Lackoutfit.

Tänzerinnen udn Tänzer auf einem Lovemobil an der Street Parade 2005.
Tänzerinnen udn Tänzer auf einem Lovemobil an der Street Parade 2005.

Für einmal wird niemand schräg angeschaut. Aus der Reihe tanzen ist erwünscht. Die Ausnahmesituation wird bewusst inszeniert, was letztlich das Grundprinzip jeder Parade ist: es geht um die öffentliche Selbstdarstellung einer Gemeinschaft – auch wenn sie nur temporär ist – und die Vermittlung einer Botschaft. Einer, die mit der Fokussierung auf die Gleichheit aller, der Frohen Botschaft des Christentums ziemlich nahekommt.

Auch als Kirche unter die Leute gehen

Das hatte beispielsweise 2018 auch Pionierpastor Josua Zinstag von Rhylife in Neuhausen – einem Start up-Projekt der Viva Kirchen – verstanden und prompt eine Evangelisierungsaktion an der Street Parade gestartet. Auf jesus.ch erklärt er, dass der Technoanlass ein idealer Ort sei, um auf Jesu Botschaft aufmerksam zu machen. Die Menschen seien offen und nicht selten auch auf der Suche nach Orientierung.

Traum in weiss und rosa an der Street Parade 2008.
Traum in weiss und rosa an der Street Parade 2008.

Mit Plakaten, die an das Motto der Parade, «Culture of Tolerance», angelehnt waren, machten Zinstag und seine Mitstreitenden darauf aufmerksam, dass der Technoanlass mit seiner inklusiven Grundhaltung durchaus christliche Werte vertrete.

Auch die Landeskirchen gehen «unter die Leute» und präsentieren sich und ihr Weltbild immer häufiger auch an Grossanlässen wie dem Zürifäscht oder an Prides. Das entspricht der Grundhaltung Jesu, der – wie in den Evangelien beschrieben – die Menschen dort aufsuchte, wo sie lebten, arbeiteten und feierten.

Holy Groove – ein ökumenischer Gottesdienst zum Auftakt

2019 organisierte der Freundeskreis Grossmünster zum ersten Mal einen ökumenischen Raver-Gottesdienst. Christoph Sigrist, Veronika Jehle und Meinrad Furrer gestalteten zusammen mit dem Präsidenten des Vereins Street Parade, Joel Meier, und dem DJ Erhan Yücesan einen spirituellen Auftakt in der Wasserkirche. Dieser setzte sich mit dem Motto des Anlasses, «Colours of Unity», auseinander. Die Quintessenz des Gottesdienstes lautete entsprechend, dass die Verschiedenheit der Menschen die Welt erst bunt mache und dass alle Menschen Platz in Gottes Welt hätten.

Dieses Jahr findet der Auftaktgottesdienst in der Wasserkirche nach einer Corona-Zwangspause wieder statt. Und diese Ausgabe ist nicht nur ökumenisch, sondern interreligiös. Nebst Veronika Jehle und Christoph Sigrist feiern auch Imam Kaser Alasaad und das DJ-Duo «Forgotten Notes» mit – Tanzen ist übrigens ausdrücklich erlaubt!

Und wenn man die Street Parade aus meteorologisch-christlicher Sicht betrachtet, muss man tatsächlich sagen, dass wohl zumindest Petrus ein Raver ist. Bislang konnte die Street Parade nämlich meist bei gutem bis sehr gutem Wetter durchgeführt werden und die Aussichten für heute sind – himmlisch!

Der Raver-Gottesdienst findet heute von 11.00 Uhr bis 12.00 Uhr in der Wasserkirche, Limmatquai 29, Zürich statt.

Tele Züri überträgt die Street Parade live.



Seebecken Zürich an der Street Parade 2008. | © Wikimedia Commons/Byte Rider, CC BY-SA 2.0
12. August 2023 | 06:45
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