Anne Béatrice Schwab auf der Piazza Grande in Locarno.
Porträt

Eine Katholikin bei den Reformierten: «Ein Film darf anspruchsvoll, aber nicht elitär sein»

Bei Filmen achtet Anne-Béatrice Schwab vor allem auf Sex and Crime. Denn die pensionierte Richterin engagiert sich im Kinder- und Jugendmedienschutz. Bei der Ökumenischen Jury in Locarno weitet sie ihre Perspektive auf ethische Aspekte. 

Raphael Rauch

Anne-Béatrice Schwab (69) hat nicht viel Zeit. Um 14 Uhr muss sie zur nächsten Filmvorführung. Sie sitzt in Locarno auf der Piazza Grande und strahlt mit der Sonne um die Wette.

Jugendrichterin – »eine Mischung aus Recht, Psychologie und Sozialarbeit»

Bis zu ihrer Pensionierung war Anne-Béatrice Schwab am Jugendgericht des Kantons Waadt tätig. «Das war eine spannende Arbeit», erzählt sie, «auch wenn es nicht immer einfach war. Ein Gerichtsprozess zeigt, was in unserer Gesellschaft schiefläuft. Jemand ist vom Weg abgekommen, es geht um Dramen. Zugleich ist ein Prozess auch die Gelegenheit für einen Neuanfang.» Der Job einer Jugendrichterin sei «eine Mischung aus Recht, Psychologie und Sozialarbeit».

Die Ökumenische Jury: Anne Dagallier, Lukáš Jirsa, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.
Die Ökumenische Jury: Anne Dagallier, Lukáš Jirsa, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.

Als Mitglied der Ökumenischen Jury in Locarno hat sie nun ein Richteramt der anderen Art inne. Die beiden Aufgaben könne man nicht vergleichen, sagt sie. Höchstens: Offenheit für Neues und Neugierde für die Menschen.

Gelebte Ökumene: Als Katholikin bei der reformierten «Interfilm»

Das Jury-Mitglied ist Katholikin und mit einem reformierten Pfarrer verheiratet. Später schaut ihr Mann Claude (79) im Café vorbei und erinnert seine Frau daran, dass nicht mehr viel Zeit bleibe. Dass eine Katholikin für die reformierte Filmarbeit «Interfilm» in der Jury sitzt, zeigt, wie selbstverständlich in Locarno die Ökumene gelebt wird.

Anne-Béatrice Schwab war Jugendrichterin, ihr Ehemann Claude Schwab reformierter Pfarrer.
Anne-Béatrice Schwab war Jugendrichterin, ihr Ehemann Claude Schwab reformierter Pfarrer.

Der pensionierte Pfarrer Claude Schwab findet, das Kino müsse ebenso wie die Kultur, die Politik und das Zeitgeschehen mit dem Evangelium in Verbindung gebracht werden: «Insbesondere für eine Reflexion über die Beziehung zwischen Bild und Idol.»

Das Alter für den Kinobesuch festlegen

Anne-Béatrice Schwab ist Kinogängerin aus Leidenschaft. 20 Jahre lang hat sie sich für den «Cercle d’Etudes cinématographiques» in Lausanne und Vevey engagiert. Hier hat sie das Programm gestaltet und moderiert. Und sie war an der Redaktion der «Cinéfeuilles» beteiligt.

Anne-Béatrice Schwab
Anne-Béatrice Schwab

Seit 25 Jahren ist sie Mitglied der kantonalen Filmprüfstelle des Kantons Waadt und seit sieben Jahren in der nationalen Kommission für Kinder- und Jugendmedienschutz. Anhand von schweizweit einheitlichen Kriterien geht es darum, das gesetzliche und das empfohlene Alter für den Kinobesuch festzulegen. Ist ein Film besonders gewaltvoll oder hat zu explizite Erotik-Szenen, dürfen ihn erst Erwachsene sehen. Sind die Szenen subtiler, können ihn auch schon Jugendliche anschauen.

«Das siebente Siegel» von Ingmar Bergman

Das Ehepaar Schwab hat vier Töchter und einen Sohn. Und fünf Enkelkinder im Alter von sieben bis dreizehn Jahren. «Wenn ich an sie und ihre möglichen Reaktionen denke, hilft mir das, dieses oder jenes Alter vorzuschlagen», sagt Anne-Béatrice Schwab.

Ökumenische Jury mit dem Präsidenten des Locarno Film Festivals: Lukáš Jirsa, Marco Solari, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.
Ökumenische Jury mit dem Präsidenten des Locarno Film Festivals: Lukáš Jirsa, Marco Solari, Anne-Béatrice Schwab und Linde Fröhlich.

Ins Kino verliebt hat sich die Westschweizerin im Alter von 14 Jahren. Sie ging in St-Maurice zur Schule und sah «Das siebente Siegel» von Ingmar Bergman. «Für mich zeigt der Film die absolute Schönheit. Einfach grossartig.» Dabei legt Anne-Béatrice Schwab ihren Kopf nachdenklich zur Seite – als liefe der Film vor ihrem inneren Auge ab.

«Ein Film darf anspruchsvoll, aber nicht elitär sein»

Die Ökumenische Jury von Locarno verleiht einen Preis in Höhe von 20’000 Franken «an Filmschaffende, denen es gelingt, ihr Publikum für religiöse, menschliche oder soziale Werte zu sensibilisieren», wie es offiziell heisst. Und: «Sie befragt die Visionen der Filmschaffenden nach einem Sinn für Gerechtigkeit, Frieden und Respekt sowie nach spirituellen Dimensionen.»

Ökumenische Jury beim Gottesdienst in der ersten Reihe: Anne-Béatrice Schwab (Mitte) und Lukáš Jirsa (rechts).
Ökumenische Jury beim Gottesdienst in der ersten Reihe: Anne-Béatrice Schwab (Mitte) und Lukáš Jirsa (rechts).

Anne-Béatrice Schwab freut sich über die Arbeit in der Ökumenischen Jury. Konkret heisse das, nicht den persönlichen Favoriten durchzudrücken, sondern «einen Film zu suchen, der für die Mehrheit der Menschen anschlussfähig ist und ihnen neue Sinndimensionen eröffnet. Ein Film darf anspruchsvoll, aber nicht elitär sein.»

Horizonte öffnen – eine humanistische und spirituelle Ebene

Die Ökumenische Jury verfolge einen konstruktiven Ansatz: «Es geht um Filme, die Hoffnung machen, Horizonte öffnen und damit eine humanistische und spirituelle Ebene betonen.»

Papst Franziskus.
Papst Franziskus.

Anne-Béatrice Schwab sagt, sie bewundere Papst Franziskus für seine Stärke und seinen Mut, die Kirche zu reformieren. Als ehemalige Jugendrichterin ist sie besonders für den Missbrauch in der katholischen Kirche sensibilisiert.

Die Kirche muss Vorreiterin bei der Prävention sein

«Es zerreisst mir das Herz. Wann wird das endlich aufhören? Ich war lange genug in der Justiz tätig, um zu wissen, dass Missbrauch in allen Gesellschaftsschichten und zu allen Zeiten vorkommt. Aber die Kirche hat eine besondere Verantwortung und muss bei der Präventions- und Aufklärungsarbeit eine Vorreiterrolle einnehmen», findet Anne-Béatrice Schwab. 

Anne Béatrice Schwab auf der Piazza Grande in Locarno.
Anne Béatrice Schwab auf der Piazza Grande in Locarno.

Was sie besonders beschäftigt: «Das lange Schweigen über diese so schmerzhaften Themen und das Leid der Opfer.» Gerade wenn Worte versagen, könne das Kino einen Beitrag leisten, findet Anne-Béatrice Schwab. 

«Es ist ein Geschenk, Teil der Ökumenischen Jury zu sein»

Sie schätzt etwa François Ozons Ansatz in seinem Film «Grâce à Dieu»: «Er bringt die Probleme auf den Punkt, ohne zu urteilen. Er erzählt, ohne zu moralisieren. Es liegt an den Zuschauerinnen und Zuschauern, sich eine Meinung zu bilden.»

Filmszene aus «Grace à Dieu»
Filmszene aus «Grace à Dieu»

Es ist gleich 14 Uhr. Anne-Béatrice Schwab muss zum nächsten Film. Sie verabschiedet sich mit den Worten: «Es ist ein Geschenk, Teil der Ökumenischen Jury zu sein.»


Anne Béatrice Schwab auf der Piazza Grande in Locarno. | © Raphael Rauch
9. August 2022 | 06:22
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