Harald Podzuweit
Schweiz

Jugendgewalt: Unterschätztes Potential der Kirchen in der Prävention

Zürich, 20.3.16 (kath.ch) Die Kirchen haben über ihre Jugendarbeit einen ganz grossen Stellenwert bei der sozialen Integration, sagt Harald Podzuweit, Beauftragter für Jugendarbeit im Ressort «Aus- und Weiterbildung» der Zürcher Jugendseelsorge. Und sie können etwa über die Jugendverbände präventiv gegen die Radikalisierung von Jugendlichen wirken.

Georges Scherrer

«Jung und extrem» hiess eine Tagung, welche die katholische Jugendseelsorge Zürich in Zusammenarbeit mit der reformierten Kirche ausgeschrieben hat. Was ist die Bilanz, die Sie als Leiter der Tagung ziehen?

Harald Podzuweit: Bei der Frage des Extremismus gibt es kein Patentrezept. Es gibt verschiedene Erklärungsmodelle. Man kann unterschiedliche Phänomene von Extremismus feststellen, und auch in der Wissenschaft gibt es derzeit keinen Konsens bezüglich der diskutierten Ansätze. Wir sind nicht soweit, dass wir sagen können: Das ist die Diagnose und das das Rezept.

Wo muss sich christliche Jungendseelsorge mit Extremismus auseinandersetzen?

Podzuweit: Eine direkte Konfrontation mit Extremismus taucht in unserem Bereich von Jugendarbeit kaum auf. Extremismus ist ein gesellschaftliches Thema und deshalb auch ein Thema in der Jugendarbeit. Es bewegt die Jugendlichen, ebenso wie es viele andere Menschen bewegt. Es gibt Fragen, Unverständnis, Ängste. Die Jugendlichen, denen wir in unseren Gemeinden oder Verbänden begegnen, machen sich nicht viel aus Extremismus. Es sind eher besorgte Eltern, die bei uns nachfragen.

Man muss zwischen Traditionalismus, Fundamentalismus und Extremismus differenzieren

Und doch ist Extremismus im Zusammenhang mit Jugend ein Thema…

Podzuweit: Ein mögliches Modell der Extremismusforschung geht von bestimmten Faktoren aus, die eine Radikalisierung begünstigen. Hierzu zählen Krisen bezüglich der eigenen Identität, die für das Jugendalter normal und charakteristisch sind, Ausgrenzungs- und Benachteiligungserfahrungen und Unstimmigkeiten im eigenen sozialen Gefüge. Sind diese Faktoren vorhanden, steigt für solche junge Leute das Risiko, empfänglich für Angebote etwa einer politisch extremistischen oder islamistischen Gruppe zu werden.

Solche Gruppen präsentieren einfache Denkmodelle. Sie arbeiten zum Beispiel mit Feindbildern, in welchen sich Gut und Böse leicht auseinanderhalten lassen. Dem Jugendlichen wird erklärt: Du bist der Gute und was du hier erlebst, zeigt dir, dass du zu den Guten gehörst. Der Jugendliche erfährt eine Aufwertung des Selbstwertgefühls.

Radikalisierung kann bei Jugendlichen demnach die Selbstfindung erleichtern?

Podzuweit: Ja. Der junge Mensch bekommt ein klares Identifikationsangebot. Die Ideologie erklärt die gegenwärtig erfahrene Situation und deutet sie um. Ebenso enthält sie klare Regeln, Werte und Handlungsanweisungen. Die extremistische Gruppe kann eine neue Heimat bieten. Radikalisierung ist also ein Weg der Selbstfindung in Abgrenzung zur umliegenden Gesellschaft, eine Identitätsentwicklung durch gesellschaftliche Desintegration.

Jugendarbeit kann den gesellschaftlichen Kontext, etwa wenn ein Jugendlicher als Muslim abgestempelt wird, nicht ausser Kraft setzen

Spannend an diesem Modell ist, dass in der klassischen Jugendarbeit der umgekehrte Prozess beobachtet werden kann: Wenn man in Gruppen arbeitet, stellt man auch ein soziales Angebot zur Verfügung. Wir arbeiten mit Methoden, wo es um die eigene Biographie der Jugendlichen geht und um Identitätsentwicklung. Der entscheidende Unterschied ist jedoch hierbei, dass wir Jugendliche dabei begleiten, ihre Identität, Persönlichkeit und auch ihr Wertesystem zu entwickeln und es nicht ideologisch zuzuweisen.

Die Mitglieder von Jungwacht, Blauring, Jugend Rotkreuz, Pfadfindern oder Ministrantengruppen machen eine Inklusionserfahrung, das heisst: Sie gehören zu einer Gruppe. Wenn ein Jugendlicher sich in einer solchen Gruppe engagiert, merkt er, dass es Wertschätzung erfährt. Diese Anerkennung vermittelt ein gutes Gefühl. Die Verbände und Gruppen wirken gesellschaftlich integrierend. Wir haben bei Jungwacht Blauring unwahrscheinlich viele Leute, die dort mitmachen, auch wenn sie sonst mit Kirche nichts zu tun haben. Es geht darum, die Jugendlichen ohne Missionseifer mitzunehmen. Man muss ganz klar sehen: Kirchen haben einen ganz grossen Stellenwert bei der sozialen Integration. Sie können bei Themen einspringen, über welche Jugendliche nicht mit ihren Eltern reden wollen.

Was passiert, wenn Jugendarbeiter mit Jugendlichen konfrontiert werden, die nicht einer solchen kirchlichen Gruppe angehören?

Podzuweit: Die Jugendarbeit wirkt, sobald sie den jungen Menschen ernst nimmt und den Jugendlichen nicht wegschickt. Jugendarbeit ist aber nicht das Rezept gegen Extremismus. Sie wirkt präventiv. Die Jugendarbeit kann kein gestörtes familiäres Gefüge oder gesellschaftliches Umfeld ändern. Jugendarbeit kann den gesellschaftlichen Kontext, etwa wenn ein Jugendlicher als Muslim abgestempelt wird, nicht ausser Kraft setzen. Jeder Mensch reagiert anders auf eine Ausgrenzung: Einer wird aggressiv, ein anderer zieht sich zurück. Einer wird krank, ein anderer kann in der Situation bestehen.

Eine weitere Gruppe von ausgegrenzten Jugendlich verzweifelt an sich selber. Wir geht Jugendseelsorge mit diesen um?

Podzuweit: In dem Fall rede ich nicht von Extremismus. Wenn Menschen ihre Aggressionen zu stark gegen sich selbst richten, geht es um Krankheit. Diese Menschen treten gesellschaftlich nicht in Erscheinung, sondern tauchen bei uns in der Jugendberatung auf. Nötig ist dann eine besondere Hilfe zur Lebensbewältigung: zum Beispiel in Form von Beratung oder Psychotherapie.

Anerkennung vermittelt ein gutes Gefühl

Gibt es eine katholische Psychotherapie?

Podzuweit: Psychotherapie ist an keine Konfession gebunden. Allerdings ist uns wichtig, dass die Therapie offen ist für religiöse Erfahrungen, Deutungen und Zusammenhänge. Es gibt therapeutische Ansätze, die Religiosität und Spiritualität pathologisieren. Uns geht es darum, den ganzen Menschen mit allem, was ihn bewegt, einzubeziehen. Die Erfahrung zeigt, dass immer wieder auch Glaube und Religion als Thema von Klienten eingebracht werden – völlig unabhängig von Religions- oder Konfessionszugehörigkeit.

Begegnen Sie in Ihrer Arbeit christlichem Fundamentalismus?

Podzuweit: Die Mitgliederzahlen gehen in den christlichen Kirchen und auch bei den Freikirchen zurück. Der christliche Fundamentalismus spielt in der Schweiz keine grosse Rolle. Dieser manifestiert sich eher in Südamerika und in den USA. Man muss zudem zwischen «Traditionalismus», «Fundamentalismus» und «Extremismus» differenzieren. Bei einem Jugendlichen kann es natürlich zu einer krisenhaften Situation kommen, wenn er zwischen verschiedene Wertesysteme gerät, etwa wenn die Gesellschaft eine religiös-liberale Haltung einnimmt, die völlig der traditionell-religiösen Einstellung der Eltern widerspricht.

Jugendseelsorger und Gruppenleiter sind dahin ausgebildet, dass sie mit solchen Situationen auskommen können. Sie sagen: Wir schauen uns die Sache an und gucken, was dem Jugendlichen wichtig und wertvoll ist. Ihm wird eine Begleitung angeboten, ein Wertesystem zu definieren, zu dem er stehen kann. Das ist natürlich schwieriger, als eine schnelle Antwort zu geben, die im Internet abgerufen werden kann. (gs)

Harald Podzuweit | © 2016 zVg
20. März 2016 | 08:14
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Fast 60’000 engagierte Jugendliche in der Kirche

Die katholischen Jugendorganisationen zählen weit über 50’000 Mitglieder. Zu Jungwacht Blauring Schweiz gehören rund 28’000 Mitglieder, davon sind etwa 8500  ehrenamtliche Gruppenleiter. Der Verband Katholischer Pfadfinder zählt rund 10’000 Mitglieder. Aktive Ministranten gibt es rund 20’000. Die Jugendseelsorgestelle bezieht sich bei ihrer Quellenangabe auf die jeweiligen Organisationen. (gs)