Fragen zur Gewalt: Pinwand an Tagung "jung und extrem"
Schweiz

Religiöse und politische Jugendgewalt: Kirchliche Jugendarbeiter wollten es genau wissen

Zürich, 15.3.16 (kath.ch) Linksradikale oder rechtsradikale Jugendliche, solche die in den Jihad ziehen oder sich auf andere Art religiös radikalisieren: eine extremistische Jugend sorgt für Aufruhr, möchte man meinen. Die Jugendseelsorge Zürich wollte es genau wissen und lud zur Tagung «jung und extrem» ein.

Georges Scherrer

Erstes Fazit: Präzises Zahlenmaterial zur Jugendgewalt liegt kaum vor. Zweites Fazit: Einfache Antworten zu diesem Thema gibt es nicht. Drittes Fazit: In der konfessionellen Jugendarbeit ist das Thema kaum spürbar, denn diese wirkt präventiv und wirkt einer Radikalisierung entgegen.

Als Gastreferent der Tagung von Ende Januar wirkte Peter Rieker, Professor für Ausserschulische Bildung und Erziehung an der Universität Zürich. Er erklärte, dass zur Radikalisierung der Jugend kaum gesicherte Daten vorliegen. Darum stützte er sich auf die wenigen systematischen Untersuchungen aus Deutschland. Deren Resultate könnten auf die Deutschschweiz übertragen werden.

Radikalisierung sei in den Bereichen Rechtsextremismus, Linksextremismus und Islam sichtbar. Die Forschung orientiere sich an Indikatoren wie persönliche Einstellung, Wahlverhalten, Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Partei und an polizeilich erfassten Gewalttaten.

Beim Rechtsextremismus und beim Linksextremismus seien in den vergangenen Jahren die Zahlen stagnierend. Radikale Positionen seien über alle Altersgruppen zu beobachten. Vor allem junge Männer zwischen 15 und 25 Jahren seien bei Gewalttaten am aktivsten. Ältere Menschen fielen hingegen stärker auf, wenn es um rechtsextreme Einstellungen und die Mitgliedschaft bei rechtsextremen Parteien gehe.

Anerkennung und Ausgrenzung als Ursachen

Rieker lieferte auch Erklärungsansätze zum Phänomen. Vor allem Männer, die sich rechtsextremistisch organisierten, suchten «Anerkennung» und kämen zum Teil aus konflikthaften Familiensituationen. Die linksradikale Szene sei dagegen «nicht eindeutig männlich». Die linken Aktivisten könnten zum Teil auf die ideologische Unterstützung der Familie zählen.

Muslimische Jugendliche, die sich radikalisierten, hätten oft eine Ablehnung ihrer Religion erfahren. Heute erhielten «jugendtypische Konflikte», in welche junge Muslime involviert seien, oft sehr schnell eine religiöse Komponente, obwohl die Religionszugehörigkeit für die Betroffenen zunächst nicht von grosser Bedeutung war. Die Religionszugehörigkeit werde so auf einmal zu einem Ausgrenzungsmerkmal.

Noch weniger aussagekräftig ist die Forschung beim Thema religiös bedingte Gewalt durch Christen, so Rieker. Zahlen lägen keine vor.

Christlicher Fundamentalismus ist gesellschaftlich kaum relevant

Die Jugendseelsorge Zürich führt mit ihren Partnern «okaj zürich” und der reformierten Kirche Zürich jedes Jahr eine Umfrage bei den Jugendarbeitern durch. Das Thema «jung und extrem» wurde gewählt, weil es einem Bedürfnis der Jugendarbeiter entsprach, sagt Harald Podzuweit, Beauftragter für Jugendarbeit im Ressort «Aus- und Weiterbildung» der Zürcher Jugendseelsorge. Die Tagung war sehr schnell ausgebucht.

Medial aufgearbeitete Gewalt interessiert

«Ich denke es ist ein gesellschaftlich aktuelles und medial präsentes Thema. Da in der Berichterstattung häufig über junge Menschen als extreme Akteure berichtet wird, ist der Bedarf an Information und Austausch sehr hoch», so Podzuweit. Den christlichen Fundamentalismus gebe es, sagt der Beauftragte für Jugendarbeit. Dieser sei jedoch gesellschaftlich kaum relevant, weil er nicht zur physischen Gewalt neige und so durch die mediale Öffentlichkeit weniger wahrgenommen werde. Darum fehle auch das gesellschaftliche Interesse für mehr Forschung zu diesem Thema.

Öffentliche und private Gelder würden zuerst in jene Forschung fliessen, die politisch gewollt, gesellschaftlich drängend oder ökonomisch lohnend sei, erklärt der ausgebildete Politologe. Für das Thema Rechtsextremismus habe es in Deutschland eine gesellschaftliche Notwendigkeit gegeben und das Thema Jihad sei aktuell drängender als christlicher Fundamentalismus.

Das verletzende «Anderssein»

Es komme immer wieder vor, dass Jugendliche aufgrund ihrer religiösen Haltung in den Schulen auffallen, sei es aufgrund des Wunsches nach einer Gebetsmöglichkeit oder weil sie religiöse Symbole wie ein Kopftuch tragen. So etwas könne zu einer Ausgrenzung durch die Mitschüler führen, müsse aber nicht.

«Im Internet kann ich mich wunderbar radikalisieren lassen, ohne dass ich es merke»

Wenn ein Jugendlicher aufgrund des «Andersseins» ausgegrenzt werde, werde dieses Merkmal für den Betroffenen «auf einmal zum Thema». Er werde mit einem Identitätsmerkmal konfrontiert, «für welches er sich möglicherweise gar nicht interessiert». Für einen Muslimen heisse dies, er müsse sich erst einmal selber konstruieren, «was es heisst, Muslim zu sein». Antworten finde er heute leicht bei radikalen Gruppen, die im Internet ihre Dienste anbieten. Jihadisten-Seiten gebe es zu Hauf.

Wenig Hilfe auf der Bischofs-Site

Auch für einen jungen Christen, der sich mit seinem Glauben auseinandersetzen wolle, sei das Internet eine Anlaufstelle. Bei seiner Suche werde er aber kaum auf der Internetseite der Schweizer Bischofskonferenz verweilen. Evangelikale oder charismatische Seite seien mit ihren werbetechnisch gut konstruierten Videos oder Geschichten viel interessanter.

Kirchen können eine gesellschaftlich integrierende Rolle einnehmen und der Radikalisierung vorbeugen

«Im Internet kann ich mich wunderbar radikalisieren lassen, ohne dass ich es merke», meint Podzuweit und ergänzt: «Vor allem dann, wenn ich von der Sache nichts verstehe.» Der andere, beschwerlichere Weg führe über eine intensivere und vor allem differenzierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Glauben, sei dies über ein Theologiestudium oder über ein gut fundiertes Buch. (gs)

 

 

Fragen zur Gewalt: Pinwand an Tagung «jung und extrem» | © Georges Scherrer
15. März 2016 | 11:54
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Erprobte Methoden kirchlicher Jugendarbeit

Extremismus ist der eine Weg, Einbindung in die Gesellschaft ein anderer. Darum können Kirchen eine gesellschaftlich integrierende Rolle einnehmen, sagt der Beauftragte für Jugendarbeit im Ressort «Aus- und Weiterbildung» der Zürcher Jugendseelsorge Harald Podzuweit. Sie tun es jetzt schon etwa über die fremdsprachigen Gemeinden und vielfältige Angebote, zu denen auch die kirchliche Jugendarbeit gehöre.

Harald Podzuweit verweist auf die grosse Erfahrung landeskirchlicher Jugendseelsorge und meint, dass das Rad nicht neu erfunden werden muss. Er rät den Seelsorgenden, die mit der Jugend zu tun haben: «Macht vieles, was ihr bisher gemacht habt, so weiter: Offenheit und Angebote dicht am Menschen.»

Die Kirche verfüge bereits über erprobte Konzepte und bewährte Methoden. Und Podzuweit bemerkt: «Junge Menschen, die in einem Verband oder der Gemeinde aktiv sind, dort mitwirken und Verantwortung tragen, sind deutlich weniger bedroht, sich von Extremisten radikalisieren zu lassen.» (gs)