Paul M. Zulehner
Schweiz

Paul Zulehner: «Wir reformieren die Kirche – während die Welt taumelt»

Die Kirche dreht sich zu viel um die eigenen Probleme, sagt der Pastoraltheologe Paul M. Zulehner. Gerade jetzt braucht die Welt Hoffnungsressourcen – die Kirche könnte Quelle hierfür sein. Aber es bedarf auch innerkirchlich Veränderung. Der Kryptoklerikalismus muss überwunden und Frauen gleichberechtigt werden.

Jacqueline Straub

In Ihrem neuen Buch «Leidenschaft für die Welt» beschreiben Sie zu Beginn, dass Sie als Pastoraltheologen ein Albtraum bedrängt. Wie sieht dieser aus?

Paul M. Zulehner*: Meine Sorge ist, dass die Kirche sich erfolgreich durchreformiert, gleichzeitig aber die taumelnde Welt zerbricht. In der Welt tobt Krieg: in Israel, Syrien, Mali, Afghanistan, Ukraine. Der Klimanotstand bedrängt unsere Natur; wir nähern uns irreversiblen Kipppunkten. Die Migration nimmt massiv zu. Und in dieser dramatischen Zeit beschäftigt sich die Kirche mit sich selbst. Diese Kirchenimploson finde ich fatal. Jesus wollte den Himmel auf Erden bringen – dafür muss Kirche einstehen.

«Beim Gottesdienst wurde einzig eine Fürbitte für die Ukraine gesprochen.»

Ist das eine Kritik an der momentan in Rom stattfinden Synode?

Zulehner: Indirekt. Ich habe die Kontinentalversammlung in Prag intensiv verfolgt und die Themen mit jenen im Europaparlament verglichen. Im Parlament wurde über den Klimanotstand, die Migrationskrise und den Ukrainekrieg diskutiert. In Prag hingegen ging es um Themen wie das Frauenpriestertum und Zölibat. Beim Gottesdienst wurde einzig eine Fürbitte für die Ukraine gesprochen.

Was fordern Sie?

Zulehner: Wir müssen uns tiefer ins Konzil eingraben und als Kirche die Welt an die erste Stelle rücken , «Gaudium et Spes» und «Dei Verbum» zum Vorbild nehmen. Die Kirche ist gottvergessen und selbstbesessen. Ich wünsche mir, dass wir Gottes Hoffnungspartisanen für die Welt sind. Damit die Welt gerechter und friedlicher wird. Wir müssen die Kirche nicht durch Strukturreformen durch die Zeit retten, sondern an der Leidenschaft Gottes für die Welt teilhaben.

Slogan des Kirchenfrauenstreiks von 2019: Gleichberechtigung. Punkt. Amen
Slogan des Kirchenfrauenstreiks von 2019: Gleichberechtigung. Punkt. Amen

Wie blicken Sie auf die Synode?

Zulehner: All die Fragen nach Zölibat, Frauenpriestertum, Sexualmoral werden auf der Synode nicht entschieden werden. Ich hoffe aber, dass die kommende Dezentralisierung und die Inkulturation dafür gute Voraussetzungen schaffen werden. Es braucht dann eine innerkatholische Ökumene, Einheit in der Vielfalt. Diese wäre nützlich im Dialog mit anderen Konfessionen und Religionen.

Die Demokratien sind gefährdet. Gleichzeit betont Papst Franziskus, dass die Kirche keine Demokratie und kein Parlament ist. Sehen Sie darin eine Gefahr?

Zulehner: Seine Aussagen sind ungewollt kontraproduktiv. Die Kirche hat dieselben Grundwerte wie eine Demokratie. Ich rate, nicht so sehr auf Demokratien zu schimpfen, denn die Rechtsbewegungen wollen uns gerade diese stehlen.

«Es kommt auf unseren Einsatz an, die taumelnde Welt ins Lot zu bringen.»

Was sollte der Papst stattdessen sagen?

Zulehner: Er könnte sagen: «Wir sind keine Demokratie, aber wir haben demokratische Spielregeln.» Dazu gehört eine mutige Streitkultur, in der alle auch abstimmen dürfen – das wäre nicht geistlos. Indem Papst Franziskus annimmt, dass in der Kirche die Geistkraft ist und sie deswegen keine parlamentarische Versammlung sein kann, unterstellt er, dass im Parlament kein Geist Gottes wirkt. Das ist theologisch nicht zulässig.

Was braucht die Welt in jenen Tagen ganz besonders?

Zulehner: Die Welt braucht Hoffnungsressourcen angesichts der vielen Krisen. Die Angst nimmt zu, das führt zur Entsolidarisierung. Angst verursacht Nationalismus und Gewalt. Wir als Kirche können mit den Weltreligionen und Menschen guten Willens eine wichtige Hoffnungsquelle in der Welt sein. Es kommt auf unseren Einsatz an, die taumelnde Welt ins Lot zu bringen.

Fratelli tutti: Mit einer Friedenstaube gedenkt Papst Franziskus 2021 der Kriegsopfer in Mossul.
Fratelli tutti: Mit einer Friedenstaube gedenkt Papst Franziskus 2021 der Kriegsopfer in Mossul.

Was ist, wenn die Kirche keine Lösungen auf diese Fragen findet?

Zulehner: Papst Franziskus ist an den Kernfragen der Welt dran. Er sucht ständig Dialog, um zum Frieden beizutragen. Kümmert sich um die Schöpfung und fordert universelle Geschwisterlichkeit. Wenn sich das, wofür der Papst steht, durchsetzt, bin ich sehr hoffnungsvoll.

Was sind die drängendsten Fragen der Kirche und der Welt?

Zulehner: Es gibt Schnittthemen, etwa im Bereich Gerechtigkeit oder Gleichberechtigung. Kinder brauchen Schutz, weil sie sexuell oder als Kindersoldaten missbraucht werden. Es ist an der Zeit, dass die Kirche als weltweite Lobby für die Frauen wirkt. Die Kirche muss einsehen, dass sie – so wie sie derzeit mit Frauen umgeht – diesen nicht gerecht wird.

Schwester Alessandra Smerilli ist die höchste Frau im Vatikan
Schwester Alessandra Smerilli ist die höchste Frau im Vatikan

Papst Franziskus beruft doch Frauen in hohe Ämter.

Zulehner: Die Schlüsselfrage heisst Frauen und Macht. Wenn Frauen getauft werden können, repräsentieren sie nicht den Tischler aus Nazaret, sondern den auferstandenen Christus. Denn in der Auferstehung ist Jesus zum Christus geworden. Wenn die Kirche Frauen von den Weiheämtern ausschliesst, reibt sich das mit dem Evangelium. Es zeugt von einer nicht zu Ende meditierten Theologie.

Sie schreiben, dass Katholisch einst den Duft der Weite hatte. Ist das nicht mehr so?

Zulehner: Bis zur Reformation war «katholisch» allumfassend, weil es um Gott und die Welt ging. Dann ging er nur noch um Gott und die Katholiken. Das Katholische wurde vom Universellen zum Konfessionellen. Doch der auferstandene Christus ist universell, darum muss es Kirche auch sein.

«Europa ist nicht gottlos.»

Sie sagen, dass die Zeit drängt. Warum muss sich Kirche aus ihren eigenen Quellen rasch erneuern?

Zulehner: Alle Religionen haben sich im Laufe der Zeit zur Rechtfertigung von Gewalt missbrauchen lassen. Gott wurde nicht in Kredit, sondern in Misskredit gebracht, was Gottlosigkeit verursachte. Wenn Religionen der Welt Hoffnung schenken wollen, müssen sie sich aus ihren eigenen Quellen so erneuern, dass sie eine Kraft für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung sind.

Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. betonten immer wieder, dass Europa gottlos werde.

Zulehner: Ich mache seit Jahrzehnten Wertestudien in Europa. Europa ist nicht gottlos – wie es die zwei Päpste immer betonten – , sondern weltanschaulich bunt und hat viele Altäre. Gott leugnen ist freilich das eine, gottvergessen zu leben aber etwas anderes.

Priester mit Priesterkragen.
Priester mit Priesterkragen.

Sie verwenden in Ihren Buch den Begriff «Kryptoklerikalisierung». Was meinen Sie damit?

Zulehner: Nach dem Konzil wollte man aus der Priesterkirche eine synodale Kirche des Gottesvolkes machen. In reichen Ländern wurde die Priesterkirche stattdessen zu einer modernen Dienstleistungskirche umgebaut. Gleichzeitig hat das auch zu einem Sekundärklerikalismus geführt.

Und was bedeutet das?

Zulehner: Umfragen zeigen, dass junge Priester Angst haben, dass es neben ihrer priesterlichen Karriere sehr gut ausgebildete Laien gibt, die Dasselbe machen wie sie. Ihnen bleibt nur der Zölibat und die Feier der Eucharistie und der Versöhnung. Darauf reagieren sie allergisch und fragen sich: Was sind wir dann als Priester wert? Das macht sie sekundärklerikal – aus der Angst vor einem Bedeutungsverlust.

«Es geht auch im Feiern um fundamentale Gleichheit und Berufung aller.»

Was empfehlen Sie?

Zulehner: Helfen würde eine tiefe Besinnung auf das Amt in der Kirche, das die Spurtreue im Evangelium sichert.

Sie plädieren auch dazu, Liturgie zu entklerikalisieren. Warum?

Zulehner: Liturgie ist ein Zusammenwirken von allen – nicht nur das Tun eines Priesters. Es geht auch im Feiern um fundamentale Gleichheit und Berufung aller. Das ist das Fundament der Kirche. Wir brauchen Menschen, die sich ihrer Berufung bewusst sind und sich nicht aus der Kirche vertreiben lassen, weil etwa ein Bischof schwer zu ertragen ist.

* Paul M. Zulehner (83) ist Theologe, Religions- und Werteforscher. Der Priester war bis zu seiner Pensionierung Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien. Er war bis 2020 Mitglied des Universitätsrats an der Universität Luzern.

Sein neues Buch «Leidenschaft für die Welt. Wider die Gottvergessenheit» ist im Patmos Verlag erschienen.


Paul M. Zulehner | © Jacqueline Straub
12. Oktober 2023 | 12:03
Lesezeit: ca. 5 Min.
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