Paul Zulehner in Schaan
International

Paul Zulehner: «Wir erleben so etwas wie den Dritten Weltkrieg auf Raten»

Putin, Orbán und Patriarch Kyrill sind von Angst getrieben, sagt der Religionssoziologe Paul Zulehner. In Zeiten von Krieg, Klimanotstand und Migration müsse die Kirche für Frieden, Gerechtigkeit und Wahrung der Schöpfung eintreten. Innerkirchliche Reformen stünden dabei erst an zweiter Stelle.

Jacqueline Straub

Ein vollgefüllter Saal im liechtensteinischen Schaan. Hoffungsvolle Blicke schauen auf den österreichischen Religionssoziologen Paul Zulehner. Doch gleich zu Beginn seines Vortrags sagt er etwas, das vermutlich die wenigsten im Saal hören möchten: «Wir konzentrieren uns mehr auf die Krise der Kirche und übersehen dabei, dass es grössere Krisen in der Welt gibt.» Sein Alptraum sei eine «Kirchenimplosion», wenn die Kirche «durchreformiert» sei, die Welt aber untergehe.

Paul Zulehner bei einem Vortrag zum Thema "Religionen – Hoffnung in einer taumelnden Welt" in Schaan.
Paul Zulehner bei einem Vortrag zum Thema "Religionen – Hoffnung in einer taumelnden Welt" in Schaan.

«Wir leben heute in einer taumelnden Welt», sagt Paul Zulehner, früherer Professor für Pastoraltheologie an der Universität Wien. In der Ukraine herrscht Krieg, ebenfalls in Syrien, im Jemen, Eritrea und Afghanistan. «Wir erleben so etwas wie den Dritten Weltkrieg auf Raten.»

Noch nie seien so viel Waffen produziert worden: «Nicht nur Waffen töten, sondern auch Geld, das in die Rüstung investiert wird.» Die heutige Waffenproduktion könnte die Menschheit gleich mehrmals vernichten, sagt Paul Zulehner.

Hoffnungsflüchtlinge und Angst

Neben dem Krieg sei der Klimanotstand eine grosse Bedrohung für die Menschheit. «Wenn wir fortfahren, die Natur zu zerstören, werden wir uns selbst zerstören.» Ein dritter Faktor, der die heutigen Menschen verunsichere, seien die 100 Millionen Migrantinnen und Migranten.

«Wer keine Hoffnung auf Perspektive in seinem Land hat, flüchtet. Sie sind Hoffnungsflüchtlinge», sagt der Theologe. Der Welt gingen die Hoffnungsressourcen aus. Angst präge Europa und Nordamerika und diese Angst zerstöre Solidarität: «Angst schafft eine Atmosphäre wachsender Rivalität.»

Paul Zulehner in Schaan
Paul Zulehner in Schaan

Angst mache es schwierig, eine gerechte Politik zu gestalten. «Populistische und fundamentalistische Menschen nutzen Angst, Lügen und Gier, um die Kluft zwischen Nationen, Kulturen und Religionen zu vergrössern, Hass und Gewalt zu schüren, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit zu verbreiten.» Fachleute seien besorgt um die Demokratie. «Zurecht», sagt der österreichische Religionssoziologe.

Sind die Religionen in solch einer Welt nun eine Quelle der Hoffnung? Paul Zulehner zeigt sich enttäuscht. «Wenn ich die Religionen analysiere, merke ich, dass sie allzu oft Teil des Problems und nicht Teil der Lösung sind.»

Machen gute Miene: Papst Franziskus und Viktor Orban.
Machen gute Miene: Papst Franziskus und Viktor Orban.

Die Religionen sollen sich in ihrem politischen Einsatz für die Welt an ihren prophetischen Quellen und nicht an den Interessen der Mächtigen orientieren. In einem Gespräch mit einem serbischen Bischof habe dieser Paul Zulehner gesagt, dass die ungarischen Bischöfe Viktor Orbán keinen Widerstand leisteten, weil sie von ihm sehr viel Geld bekämen.

«Das ist Verrat am Evangelium», ruft Paul Zulehner ins Publikum. «Selbst Papst Franziskus sagte bei einem Treffen mit ungarischen Bischöfen, dass sie mehr das Evangelium statt das politische Parteiprogramm von Orbán lesen sollen.»

Verwandlung muss sich im Alltag zeigen

Zugleich kritisierte der Theologe auch die katholische Liturgie: «Die Folgenlosigkeit unserer Rituale ist eine Schwäche unserer Feier. In der Eucharistie werden wir verwandelt, dann muss sich das doch auch im Wahlergebnis zeigen – das tut es aber nicht.»

Die Kirchen steckten in einer Vertrauenskrise. Dass es eine Allianz zwischen dem Kriegstreiber und «machtbesessenen Narzissten» Wladimir Putin und dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill gebe, irritiere viele Menschen.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

«Ich finde es gut, dass Papst Franziskus den Patriarch Kyrill als Ministrant Putins bezeichnet hat. Für Aussagen von Kyrill – etwa dass Russen, die im Krieg fallen, sündenfrei ins Paradies gehen –, wird die orthodoxe Kirche noch Einbussen erleben.» Kyrills gewalttätiges Christentum werde keine Zukunft haben.

Weltarbeit und Kirchenreform

Die Kirche müsse politisch sein, sagt der Theologe. «Unser primärer Job ist Gottes Friedensbewegung, Gottes Gerechtigkeitsbewegung und Gottes Umweltbewegung.» Wer nur auf Frömmigkeit setze, mogele sich an der Welt vorbei in den Himmel. Die Sorgen über Reformstau in der Kirche dürften aber nicht die Probleme in der Welt in den Hintergrund stellen. «Es braucht zwei Drittel Weltarbeit und ein Drittel Kirchenreform.»

Blauäugiger Pazifismus ist unfair

«Können wir uns den Luxus leisten, 100 Prozent in innerkirchliche Reformen zu stecken?», fragt der Theologe in die Runde. «Wir müssen politisch intervenieren.» Ihm fehle eine starke, realistische Friedensbewegung in der Welt.

Für Paul Zulehner steht aber fest: Es müssten schnell Waffen in die Ukraine geliefert werden, damit der Krieg möglichst schnell beendet werde: «Ein blauäugiger Pazifismus ist unfair gegenüber den Menschen in der Ukraine», sagt Paul Zulehner. Er sieht sich als «realistischer Pazifist».


Paul Zulehner in Schaan | © Jacqueline Straub
18. Oktober 2022 | 15:11
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