Aaju Peter hat zweifache Kolonialisierung erfahren.
Schweiz

Nirgendwo zu Hause – Kampf gegen Kolonialisierung und Rassismus

Beim diesjährigen Human Rights Film Festival in Zürich stehen bis zum 10. April wieder Menschenrechte im Fokus. In Zeiten von Klimakrise, Kriegen und offenem Rechtsextremismus so wichtig wie nie, schreibt das Festival. Gezeigt wird eine beeindruckende thematische Bandbreite im Programm mit zahlreichen Podiumsgesprächen.

Sarah Stutte

Sie tanzt auf dem Hotelzimmerbett zur Musik eines Konzertvideos von Tina Turner. Aaju Peter ist eine Frau, die ihre Freude am Leben offen zeigt. Dabei hat die 64-Jährige ein ziemliches Päckchen zu tragen. Peter wurde als Tochter eines Pastors in einer dänischen Inuit-Kolonie in Grönland geboren und 1971 als Elfjährige nach Dänemark ausgeflogen. Hier sollte sie – ganz auf sich allein gestellt – eine europäische Bildung erfahren. Ihre ganze Welt veränderte sich schlagartig.

Die Inuit-Frau kämpft für die Rechte ihres Volks.
Die Inuit-Frau kämpft für die Rechte ihres Volks.

Diese Umerziehungsmassnahme hatte Methode: Schon Anfang der 1950er-Jahre wurden auf Grönland Kinder ihren indigenen Familien entrissen und nach Dänemark gebracht. Zurück in ihrer Heimat sollten diese dann ihr «wildes» Volk kultivieren. Mit 18 Jahren kam Peter nach Grönland zurück und war – wie so viele Kinder vor ihr – ihrer Sprache und Kultur beraubt. «Ich konnte mich nicht einmal mehr mit meiner eigenen Mutter unterhalten. Ich war eine Aussenseiterin geworden. Damals dachte ich, es sei meine Schuld. Später erkannte ich, dass der Verlust meiner Kultur und meiner Sprache das Feuer in mir entfachte, mich für die Rechte der Inuit einzusetzen».

Ausgegrenzte Gemeinschaft

Das erzählt Peter im Gespräch mit Sascha Lara Bleuler, der Direktorin des Human Rights Filmfestivals in Zürich, im Anschluss an den Film «Twice Colonized». In diesem – dem Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals – wird Aaju Peters Weg von einer Entrechteten zu einer Kämpferin für ihr unterdrücktes Volk. Die Stationen dorthin sind schmerzvoll – sie verliert ihren Sohn durch Suizid und erfährt in einer Beziehung häusliche Gewalt. Heute lebt sie immer noch in der kanadischen Arktis an der Grenze zu Grönland, wohin sie 1981 zog, um zu sich selbst zu finden.

Die Schönheit der Landschaft kommt in den atmosphärischen Bildern nicht zu kurz. Filmstill aus "Twice Colonized".
Die Schönheit der Landschaft kommt in den atmosphärischen Bildern nicht zu kurz. Filmstill aus "Twice Colonized".

Dort wurde sie zwar in eine Gemeinschaft aufgenommen und gründete eine Familie, machte jedoch nochmals eine kolonialistische Erfahrung – worauf der Filmtitel anspielt. Die Kanadier errichteten Inuit-Siedlungen im Norden des Landes, um deren nomadisches jahrtausendealtes Leben zu beschränken. Nunavut heisst das kanadische Territorium der Inuit, das 1999 gegründet wurde.

Der Blick auf den Friedhof

Als die EU auf den Druck von Tierschutzorganisationen die Robbenjagd und deren Vermarktung ab 2010 verbot, nahm sie den Inuit damit deren Lebensgrundlage weg. Zwar wurde für die Inuit eine Ausnahme zur Selbstversorgung gemacht, doch die Brandmarkung des Robbenfangs führte dazu, dass niemand ihre Produkte mehr kaufen wollte. Dies hatte hohe Selbstmordraten unter den Inuit zur Folge – ein Schicksal, das im Film nicht nur durch den Tod von Peters Sohn verbildlicht wird, sondern auch, durch den Blick aus dem Fenster von Peters Haus auf einen Friedhof voller weisser Kreuze.

Filmstill aus "Twice Colonized" - der Blick auf den Inuit-Friedhof. Viele von ihnen haben sich umgebracht.
Filmstill aus "Twice Colonized" - der Blick auf den Inuit-Friedhof. Viele von ihnen haben sich umgebracht.

Vor allem für die nächsten Generationen setzt sich die Aktivistin und Inuit-Rechtsanwältin ein. Sie reist um die Welt, um auf die Herausforderungen aufmerksam zu machen, mit denen die indigenen Gemeinschaften konfrontiert sind. Sie besucht andere Frauen und Männer, die von Kolonialisierung betroffen sind – wie ein samisches Paar in Schweden – und hört sich deren Geschichten an. Und schliesslich verfolgt «Twice Colonized» auch Peters Bemühungen, ein ständiges indigenes Forum bei der EU einzurichten, weil man im Film sieht und spürt, dass das dringend notwendig ist.

Kolonialistisches Weltbild

«In deinem Leben sind deine Erfahrungen deine Stärke. Es ist deine Entscheidung, sie zu nutzen», sagt Aaju Peters und bestärkt darin nicht nur sich selbst, sich weiter für die Sichtbarkeit von Ureinwohnern überall auf der Welt einzusetzen. In einer starken Szene sagt ein dänischer Bekannter von Peters dieser, dass sie mit einer Zigarette und einem Starbucks-Becher in der Hand eigentlich sehr untypisch wirke.

Die Aktivistin Aaju Peter war nach der Vorstellung in Zürich per Video-Call zugeschaltet.
Die Aktivistin Aaju Peter war nach der Vorstellung in Zürich per Video-Call zugeschaltet.

Das verärgert die 64-Jährige: «Wir sollen in unseren traditionellen Rollen verhaftet bleiben und uns möglichst nicht entwickeln. Zumindest nicht nach unseren eigenen Vorstellungen, sondern nach den Regeln der anderen. Doch wir wollen diese Entscheidung selbst treffen», so Peters. Das führt uns, direkt und drastisch, unser eigenes kolonialistisch geprägtes Weltbild vor Augen, mit dem wir heute noch – auch unbewusst – Menschen mit einer anderen Kultur, Lebensweise und einem anderen Hintergrund beurteilen.

Der Film «Twice Colonized» wurde bereits zweimal am HRFF gezeigt und war beide Male ausverkauft. Er kann aber auf der Streamingplattform Vimeo für knapp 12 Franken ausgeliehen und mit englischen Untertiteln angeschaut werden.

Programm Human Rights Film Festival

Das 9. HRFF Zürich findet vom 4.–10. April 2024 in den Riffraff-Kinos und weiteren Lokalitäten statt. Die Filme und Debatten widmen sich Menschenrechtsthemen wie Kindersoldaten, Klima, Überwachung, Krieg, Repression, Alterseinsamkeit sowie queere Rechte und werden zusammen mit Regisseurinnen und Regisseuren, Protagonistinnen und Protagonisten sowie thematischen Expertinnen und Experten ergründet. Am Montag, den 8. April gibt es unter anderem einen Schwerpunkt zu «Rassismus».

Filmstill aus "All You See" - der Film behandelt den Alltagsrassismus von Frauen im Exil.
Filmstill aus "All You See" - der Film behandelt den Alltagsrassismus von Frauen im Exil.

Die hybride Dokumentation «All You See» schildert die Beobachtungen und Alltagserlebnisse von Frauen im Exil mittels Interviews und performativen Momenten. So wird aufgedeckt, was es für die Beteiligten heisst, rassistische Ausgrenzung zu erfahren. Im Anschluss an den Film reflektieren die Regisseurin Niki Padidar und Mandy Abou Shoak, die Bildungsverantwortliche bei Brava, ehemals Terre des Femmes Schweiz – Alltagsrassismus und deren Folgen. Das Gespräch findet auf Englisch statt. Für «All You See» und weitere Festivalfilme sind noch Tickets erhältlich. (sas)

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Aaju Peter hat zweifache Kolonialisierung erfahren. | © HRFF
6. April 2024 | 12:30
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