Nicolas Betticher
Schweiz

Nicolas Betticher: «Das Kloster hat eine Fürsorgepflicht»

Kirchenrechtler Nicolas Betticher kennt den Konflikt um den Klosteraustritt in Engelberg. Tendenziell schütze das Kirchenrecht das Kloster und nicht das Individuum. Eine Person, die aus einer Gemeinschaft austritt, habe aber dennoch das Anrecht auf angemessene Versorgung. «Es geht hier um ein Grundrecht».

Annalena Müller

Herr Betticher, Sie haben Bruder Samuel in der ersten Zeit nach seinem Klosterverweis kirchenrechtlich beraten. Welchen Eindruck hatten Sie von der Situation in Engelberg?

Nicolas Betticher*: Da diese Frage das Berufsgeheimnis berührt, kann ich mich nicht konkret dazu äussern. Ich kann nur sagen: Ich habe festgestellt, dass es auf beiden Seiten, sowohl bei Samuel als auch beim Abt von Engelberg Leid und Spannungen gab. Das war nicht gut. Daher bin jetzt froh, dass man versucht, eine Einigung zu finden.

Eine Situation wie in Engelberg ist gar nicht so selten. Was sieht das Kirchenrecht in einem solchen Fall vor, wenn sich eine Klostergemeinschaft und ein Mitglied trennen müssen?

Betticher: Das kommt darauf an. Wenn es eine normale Entlassung ist, der beide zustimmen, dann ist es relativ unproblematisch und läuft so ab, wie es die Statuten der jeweiligen Ordensgemeinschaft regeln. Etwas komplizierter wird es, wenn jemand entlassen wird – und das gegen seinen Willen geschieht…

Kloster Engelberg
Kloster Engelberg

…wie im aktuellen Fall…

Betticher: In einem solchen Fall legt das Kirchenrecht eine Prozedur vor. Der Verantwortliche – also der Abt oder die Äbtissin – muss Beweise vorlegen. Er muss dann die Person verwarnen. Wenn keine Besserung eintritt, folgt eine zweite Verwarnung und die Feststellung der sogenannten Unverträglichkeit. Alle gesammelten Dokumente, inklusive der Stellungnahme durch die betroffene Person, gehen dann zum Oberen des gesamten Ordens. Dieser muss dann mit vier Kollegen einen Rat bilden und den Fall entscheiden. Kommt der Rat zu dem Schluss, dass die Entlassung vollzogen werden muss, dann geht ein Entlassungsdekret mit den so genannten Tatsachengründen an die Betroffenen. Die entlassene Person hat dann das Recht, innert 30 Tagen beim Dikasterium für das geweihte Leben Berufung einzulegen. Alles in allem ist es also ein langwieriger Prozess.

Das klingt alles sehr kompliziert, an wen kann sich jemand wenden, der oder die austreten will oder muss?

Betticher: Es gibt aktuell keine designierte Anlaufstelle. Und das ist ein Problem. Tatsächlich landen recht viele Betroffene irgendwann bei mir. Sie denken, ich sei als Offizial und Kirchenrichter dafür zuständig. Das stimmt aber nicht, ich kümmere mich vor allem um Ehenichtigkeitsverfahren.

«Es wäre gut, wenn es in der Schweiz designierte Personen gäbe, die helfen können.»

Es wäre gut, wenn es in der Schweiz designierte Personen gäbe, die hier helfen können. Diese Problematik betrifft ja nicht nur Ordensleute, sondern auch Priester, die entlassen werden. Eine solche Anlaufstelle wäre wichtig, damit man solche Fälle intern lösen kann, ohne die zivilen Gerichte zu beschäftigen. Und damit man auch die psychische und finanzielle Seite des Austritts gütlich lösen kann.

Wer ist im Fall Engelberg zuständig?

Betticher: Engelberg ist ein Benediktinerkloster, also nehme ich an, dass es der oberste Benediktiner ist. Ob hier der Obere der europäischen Benediktiner zuständig ist oder der Obere weltweit, also der Abt von San Anselmo auf dem Aventin in Rom, weiss ich nicht. Man müsste hier in die Statuten des Ordens schauen.

Papst Franziskus während einer Messe in der Kirche der Benediktinerabtei Sant'Anselmo 2018
Papst Franziskus während einer Messe in der Kirche der Benediktinerabtei Sant'Anselmo 2018

Wie häufig kommt es Ihres Wissens vor, dass Menschen aus einem Kloster wieder austreten?

Betticher: So wie ich das beobachte, ist es kein seltenes Phänomen. Ich habe selbst verschiedene Fälle begleitet. Und es ist sicher so, dass es heute mehr passiert als noch vor einigen Jahrzehnten. Die Entwicklung ist vergleichbar mit der zivilen Scheidung. So lange diese nicht akzeptiert war und Unterhaltsfragen nicht geklärt, hat das zusätzlichen Druck auf die Betroffenen ausgeübt, zusammen zu bleiben, auch wenn es eigentlich nicht mehr ging.

Auch im Fall Engelberg geht es um finanzielle Fragen, konkret den Vorsorgeausfall, welcher Bruder Samuel seit seinem Eintritt in die Gemeinschaft entstanden ist. Muss das Kloster dafür aufkommen?

Betticher: Das Kirchenrecht ist in der Tat nicht sehr präzise, was die Frage angeht. Aber moralisch scheint mir diese Frage recht eindeutig. Jemand, der 20 oder 30 Jahre im Kloster gelebt hat, hat in dieser Zeit praktisch keinen Lohn bekommen. Er oder sie war natürlich versorgt, aber er hat ja auch gearbeitet. «Ora et Labora», bete und Arbeite ist die Essenz des klösterlichen Lebens. Und wenn jemand das Kloster nach einer solchen Zeit verlässt oder verlassen muss, dann sollte die Institution, für die man gelebt und gearbeitet hat, ihrer Fürsorgepflicht nachkommen.

«Es geht um eine finanzielle Absicherung und ein Startkapital, damit die Person im gesellschaftlichen Leben ankommen kann.»

Was sagt das Kirchenrecht denn?

Betticher: Sehr wenig. Kanon 702 besagt, dass, wer rechtmässig aus einem Ortsinstitut entlassen wurde, nichts für jegliche von ihm geleistete Arbeit verlangen darf. Paragraph zwei des gleichen Kanons fügt allerdings hinzu, dass die Institution jedoch «Billigkeit und evangelische Liebe» gegenüber dem ausgeschiedenen Mitglied walten lässt. Das ist natürlich nicht präzise genug, da es alles offen lässt.

Was wäre Ihrer Meinung nach eine gute Regelung?

Betticher: Wenn es zu einem Auseinandergehen kommt, dann sollte die Institution die geleistete Arbeit anerkennen. Es geht also um eine finanzielle Absicherung und ein Startkapital, damit die Person im gesellschaftlichen Leben ankommen kann. Also, eine Wohnung finden und Möbel. Und damit sie danach leben kann. Auch das Alter spielt natürlich eine Rolle. Jemand, der mit 20 ins Kloster ein- und mit 30 wieder austritt, hat andere Chancen auf dem Arbeitsmarkt als jemand, der mit 50 oder 60 wieder seinen oder ihren Weg in die Gesellschaft finden muss.

Wie wurden solche Trennungen gelöst in den Fällen, die Sie begleitet haben?

Betticher: Ich habe einmal eine Ordensfrau begleitet, die ebenfalls eine Gemeinschaft verlassen musste. Uns ist schlussendlich eine interne Einigung gelungen, ohne dass wir den Rechtsstaat und das Kirchenrecht einschalten mussten. Ich habe damals die Vorsorgelücke berechnet und auf der Grundlage haben wir uns einigen können. Die Frau bekam eine Abfindung und zwar in Form einer gewissen Summe Startkapital und dann eine Rente. Das Geld ist wichtig, weil man leben muss. Aber man darf auch das psychische und spirituelle Leid nicht vergessen, das entsteht. Manche Menschen, die gehen, wollen eigentlich Mönch oder Ordensfrau bleiben. Sie verlieren mit dem Austritt ihre Identität. Und das sollte man bei den Verhandlungen auch berücksichtigen.

Was würden Sie dem Kloster Engelberg raten?

Betticher: Ich würde mir wirklich wünschen, dass man das intern und ohne Zivilgericht lösen kann. Wir haben in der Schweiz eine gute finanzielle Lage der Klöster, aber auch in der Kirche generell, die es erlaubt, sich gegenseitig zu helfen. Auch wenn die Lage emotional schwierig ist und es Vorwürfe auf beiden Seiten gibt, sollte man brüderlich auseinandergehen. Bruder Samuel ist 58 Jahre alt. Es wird schwierig für ihn, eine Arbeit zu finden. Und daher sollte man sich zusammensetzen und fragen: Was hat er? Was braucht er? Was hat er ab 65? Das Kirchenrecht hilft hier wenig weiter, weil er im Grunde nichts verlangen darf. Aber ich finde, er darf doch. Denn es geht hier um ein Grundrecht.

* Nicolas Betticher (61) war von 1995 bis 2000 Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Danach war er Mitarbeiter von Bundesrätin Ruth Metzler, bevor er 2001 Kanzler des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg wurde. 2009 ernannte ihn Bischof Bernard Genoud zum Generalvikar. Nach der Amtsübernahme durch Charles Morerod ging Betticher nach Bern als Sekretär der Nuntiatur. Seit 2015 ist er Pfarrer und Pfarreileiter von Bruder Klaus in Bern. Er ist ausserdem Offizial am interdiözesanen Gericht.


Nicolas Betticher | © Annalena Müller
27. Februar 2024 | 12:00
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