Ann-Katrin Gässlein
Schweiz

Ann-Katrin Gässlein: «Es braucht den Mut der Bischöfe und den Druck von der Basis»

Die neue Ostschweizer Bewegung «Reformen jetzt», die im Nachgang zur Pilotstudie über Missbrauch in der katholischen Kirche der Schweiz entstanden ist, reicht in diesen Tagen zwei Reformvorstösse bei der Leitung des Bistums St. Gallen ein. Sie will schnell und entschlossen handeln. Was das genau bedeutet, beantwortet Ann-Katrin Gässlein von der Steuerungsgruppe im Interview.

Wolfgang Holz

Frau Gässlein, Sie haben in der Medienkonferenz gesagt: «Wir verfolgen in den Reformvorschlägen das Prinzip: konstruktiv und machbar». Was erscheint Ihnen in dieser Hinsicht am aussichtsreichsten in punkto «Reformen jetzt»?

Ann-Katrin Gässlein*: In der Erklärung «So nicht!» nennen wir mehrere Punkte, die zu einem «Kulturwandel» in der Katholischen Kirche führen sollen. Wir wollen die Machtfrage, die Sexualmoral, das Priesterbild, die Rolle der Frau und die Ausbildungs- und Personalpolitik in Frage stellen – damit Kirche auch «anders» sein kann.

«Es braucht weder ein neues Konzil noch einen neuen Papst.»

Was heisst das konkret?

Gässlein: Wir sind konkret überzeugt, dass das möglich ist, schliesslich setzen wir uns jeden Tag dafür ein. Nun braucht aber eine solche Erklärung «Fleisch am Knochen». Unsere Reformvorstösse respektieren aktuelle kirchenrechtliche Vorgaben und wollen im Geist des Evangeliums überzeugend argumentieren. Um sie umzusetzen, braucht es nur Mut vonseiten der Bischöfe und der verantwortlichen Gremien – sowie den Druck von der Basis, weder ein neues Konzil noch einen neuen Papst.

Ann-Katrin Gässlein
Ann-Katrin Gässlein

Das hört sich gut und stringent an. Einer Ihrer Vorstösse lautet: mehr Beteiligung des Kirchenvolks bei der Bischofswahl. Wie stellen Sie sich das konkret vor – das Kirchenvolk kann den Bischof ja nicht faktisch wählen?

Gässlein: Im Jahr 2024 wird Bischof Markus Büchel beim Papst seine Demission einreichen. Dann wird ein neuer Bischof gewählt. Im Bistum St. Gallen haben Laienvertreterinnen und -vertreter schon viel Mitsprachrecht. Wir verlangen aber im Sinne einer Transparenz von kirchlichen Personalentscheidungen, dass das gesamte Kirchenvolk grundsätzlich mehr Informationen über die einzelnen Kandidaten erhält, die zur Verfügung stehen.

«Es soll Podiumsdiskussionen mit den einzelnen Kandidaten geben, damit diese ihre Mission und ihre Visionen vortragen können.»

An welche Informationen denken Sie dabei?

Gässlein: Es soll Podiumsdiskussionen mit den einzelnen Kandidaten geben, damit diese ihre Mission und ihre Visionen vortragen können. Wir wollen, dass die Bischofskandidaten auf diese Weise quasi öffentlich und kritisch durchleuchtet werden können, und die Basis am Ende einen öffentlichen Druck aufbauen kann. Auch die Wahlverantwortlichen können am Schluss nicht sagen, sie hätten nicht gewusst, was die Gläubigen vor Ort wollen.

Ausschnitt der veröffentlichten Anzeige der 107 kirchlichen Mitarbeitenden in St. Gallen als Reaktion auf die Missbrauchsstudie
Ausschnitt der veröffentlichten Anzeige der 107 kirchlichen Mitarbeitenden in St. Gallen als Reaktion auf die Missbrauchsstudie

Gibt es in der Steuerungsgruppe von «Reformen jetzt» bereits einen Wunschkandidaten für einen neuen St. Galler Bischof?

Gässlein: Ich persönlich weiss nicht einmal, wer alles dafür in Frage kommt.

«Ja, der Bedarf in Sachen Hochzeiten ist akut.»

Ein zweiter konkreter Reformvorstoss fordert eine Gleichstellung von Priestern mit nicht geweihten Theologinnen und Theologen. Insbesondere geht es dabei um die «ausserordentliche Trauvollmacht» für Seelsorgende. Ist dieser Bedarf denn akut und welche anderen Vorschläge zur Gleichstellung haben Sie?

Gässlein: Ja, der Bedarf in Sachen Hochzeiten ist akut. Denn es gibt immer wieder Situationen, bei denen Seelsorgende Kontakte mit Paaren haben, ihnen aber dann sagen müssen, dass sie sie leider aufgrund der kirchenrechtlichen Vorgaben nicht selbst trauen dürfen – zum Beispiel Partner, die beide katholisch sind und eine sakramentale Trauung wünschen. Das ist sehr bedauerlich und zementiert das Gefälle zwischen ordinierten Priestern und den «restlichen» Seelsorgenden.

Bischof Markus Büchel spricht 
in der Kirche Maria Himmelfahrt in Jona über das Versagen der Kirche.
Bischof Markus Büchel spricht in der Kirche Maria Himmelfahrt in Jona über das Versagen der Kirche.

Was sind ihre Erwartungen dazu?

Gässlein: Wir erwarten, dass alle Seelsorgenden, die im Bistum St. Gallen eine zeitlich unbefristete bischöfliche Beauftragung erhalten und entsprechende Fortbildungen belegt haben, eine «ausserordentliche Trauvollmacht» erhalten. Sie sollen mit ausdrücklicher Wertschätzung des Bischofs kirchliche Trauungen und Segensfeiern für alle Paare vollziehen dürfen – ungeachtet ihres jeweiligen religiösen oder konfessionellen Hintergrunds. Gängige Sprachregelungen, die die religiöse Begleitung von nicht ordinierten Seelsorgenden als «Ausnahme» und «Notsituation angesichts des Priestermangels» bezeichnen, gehören abgeschafft.

«Wir wünschen, dass unsere Bischöfe in Rom hartnäckig Spielraum für die Gestaltung neuer Strukturen in der Ortskirche einfordern.»

Und generell?

Gässlein: Generell unterstützen wir alle Forderungen und Verpflichtungen, die bereits auf nationaler Ebene seit Erscheinen der Pilotstudie zum sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche geäussert wurden. Gute Ideen liefern auch viele reformkatholische Bewegungen, wie die Allianz Gleichwürdig Katholisch, mit der wir uns vernetzen und Anliegen vor Ort «herunterbrechen» möchten. Darüberhinaus wünschen wir, dass unsere Bischöfe in Rom hartnäckig Spielraum für die Gestaltung neuer Strukturen in der Ortskirche einfordern.

Papst Franziskus beim Ökumenischen Abendgebet zur Weltsynode.
Papst Franziskus beim Ökumenischen Abendgebet zur Weltsynode.

Bei der Weltsynode in Rom, bei der erstmals auch Frauen ein Stimmrecht haben, werben auch Katholiken aus dem Bistum St. Gallen für viele Reformanliegen: mehr Rechte für Frauen in der Kirche, mehr Mitbestimmung der Kirchenbasis, mehr Anerkennung für sexuelle Minderheiten!

«Grundsätzlich wollen wir unseren Protest gegen den Missbrauch und für Veränderungen in der Kirche auf dynamische, kreative und humorvolle Weise fortsetzen.»

Ihre Steuerungsgruppe zählt derzeit fünf Personen, wie viele Personen stehen jetzt schon hinter dem Projekt bzw. hinter der gesamten Bewegung «Reformen jetzt»?

Gässlein: 2200 Personen haben die Erklärung «So nicht!» als Reaktion auf die Veröffentlichung der Schweizer Missbrauchsstudie unterschrieben. Wir gehen davon aus, dass dieser Personenkreis im Prinzip auch unsere konkreten Vorstösse unterstützt. Letzte Woche hat uns eine Gruppe von Mitunterzeichnenden bei einem Treffen delegiert: Grundsätzlich wollen wir unseren Protest gegen den Missbrauch und für Veränderungen in der Kirche auf dynamische, kreative und humorvolle Weise fortsetzen. Im Dezember ist am zweiten Advent ein weiterer spiritueller Anlass unter dem Motto «Zusammenstehen» geplant – ähnlich wie jener nach der Veröffentlichung des «So nicht!»-Inserats. Damals kamen rund 500 Personen in die Kathedrale und äusserten ihren Schock, ihren Ärger, ihre Hoffnungen Das war sehr berührend.

Mit welchen Gruppen wollen Sie konkret zusammenarbeiten?

Gässlein: Wir adressieren mit unseren Vorstössen konkrete Personen oder Gremien – den Bischof, den Präsidenten des Administrationsrats, den Domdekan – und wollen mit ihnen wie dem Laienrat und Seelsorgerat sowie vielen Gläubigen aus der kirchlichen Basis zusammenarbeiten.

Helena Jeppesen-Spuhler, Mitarbeiterin des Hilfswerks Fastenaktion, beim synodalen Prozess in Prag. Sie ist nun an der Weltsynode in Rom.
Helena Jeppesen-Spuhler, Mitarbeiterin des Hilfswerks Fastenaktion, beim synodalen Prozess in Prag. Sie ist nun an der Weltsynode in Rom.

Gibt es schon eine Reaktion des Bischofs auf Ihr Reformprojekt im kirchlichen Lebensraum St. Gallen?

Gässlein: Der Bischof und der Generalvikar sind derzeit im Urlaub. Wir haben die Kanzlei des Bistums aber vorab informiert und stehen mit den Kommunikationsverantwortlichen in einem positiven Austausch. Antworten auf die ersten Reformvorstösse haben wir bis Ende November gewünscht.

*Ann-Katrin Gässlein ist katholische Theologin und Religionswissenschaftlerin. Sie arbeitet für das Ressort «Kultur und Bildung» der Katholischen Kirche im Lebensraum St. Gallen und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.


Ann-Katrin Gässlein | © zVg
3. Oktober 2023 | 17:30
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