Bob Berchtold weist Jan an, ihr Geheimnis zu wahren.
Schweiz

Missbrauch in der Mormonenkirche – US-Serie blickt in religiöse Abgründe

Die Mini-Serie «A Friend of the Family» erzählt von einem schockierenden Fall sexuellen Missbrauchs in den 70er-Jahren im amerikanischen Idaho. Im Zentrum steht dabei auch die Mormonenkirche, die durch den Schutz des Täters dessen weitreichende Manipulationen erst ermöglichte.

Sarah Stutte

Eine typische, gepflegte Reihenhaussiedlung in dem beschaulichen Städtchen Pocatello im US-Bundesstaat Idaho. Hier leben in den 70ern die Brobergs – Vater Bob, ein Blumenladenbesitzer, Mutter Mary Ann, eine Hausfrau und ihre drei Töchter Jan, Karen und Susan. Die Mormonen-Familie gehört der örtlichen Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an, besucht regelmässig die Gottesdienste im Tempel und hält sich an die tägliche Pflicht zum Gebet.

Die naiv-gutmütige Vorzeigefamilie, in die das Grauen einbricht.
Die naiv-gutmütige Vorzeigefamilie, in die das Grauen einbricht.

Dass in diese rechtschaffene Vorzeige-Familie bald das Grauen einbricht, ist erstmal nicht zu erahnen. Denn die Brobergs sind freundlich, höflich und anständig – nicht nur zueinander, sondern auch zu neuen Nachbarn wie den Berchtolds. Diese sind 1973 gerade in dieselbe Strasse gezogen und gehören ebenfalls der Mormonen-Gemeinschaft an. Robert und Gail Berchtold haben fünf Kinder, teilweise im selben Alter wie die Brobergs. Schnell entstehen Freundschaften, die Familien verbringen viel Zeit miteinander. Das Vertrauen wächst.

Zweite Vaterfigur

Doch Berchtold, Besitzer eines Möbelgeschäfts, ist nicht zu trauen. Sein Interesse gilt ausschliesslich Jan, der ältesten Tochter der Brobergs, die zu diesem Zeitpunkt elf Jahre alt ist. «B» – wie sie den lockeren Robert von jetzt an nennt, um die Verwechslung mit dem eigenen Vater gleichen Namens auszuschliessen, verbringt immer mehr Zeit mit dem Mädchen und wird für dieses zur zweiten Vaterfigur. Auch dann noch, als dieser Jan 1974 entführt und sexuell missbraucht.

Der freundliche Nachbar «B».
Der freundliche Nachbar «B».

Diesen wahren Fall erzählt die neue Drama-Serie «A Friend of the Family» nach, die derzeit auf Sky Schweiz läuft. Schon 2017 arbeitete die Netflix-Dokumentation «Abducted in Plain Sight» – basierend auf Jan Brobergs Buch, das 2003 herauskam, die unglaubliche Geschichte auf. Der Dok-Film punktet vor allem durch viele Hintergrundinfos und Gesprächen mit den Familienmitgliedern.

Ein cleverer Manipulator

Die Mini-Serie ist dagegen zurückhaltend inszeniert, der Missbrauch wird nur angedeutet, nie gezeigt. Trotzdem ist alles hier noch viel unbehaglicher und verstörender, weil die Serie das ganze Ausmass der manipulativ-perfiden Taktiken Berchtolds detailliert offenbart. Als Zuschauer schwankt man praktisch die ganze Zeit zwischen Ungläubigkeit, Wut und Entsetzen.

Doch aller Naivität der Beteiligten zum Trotz wird verständlich, warum sie diesem charmanten Mann, der beängstigend gut vom Schauspieler Jake Lacy gespielt wird, erlegen sind. Weil er ihre Schwächen zu seinen Stärken machte – und weil ihre religiöse Überzeugung ihre Handlungen beeinflusste.

Die Familie Berchtold - der idyllische Schein trügt.
Die Familie Berchtold - der idyllische Schein trügt.

Unter dem Vorwand, mit Jan zum Reiten zu fahren, betäubt der Kinderschänder das Mädchen und bringt dieses in seinem Wohnmobil nach Mexiko. Dort tischt er ihr eine abstruse Alien-Entführungs-Geschichte auf, in der sie beide Opfer einer höheren Macht sind und deshalb gezwungen, zusammen ein Kind zu zeugen. Was für unsere Ohren verrückt klingt, ist für den mormonischen Glauben gar nicht einmal so abwegig. Denn in diesem werden andere bevölkerte Planeten im Universum und eine reiche himmlische Welt grundsätzlich eingeschlossen.

Der Glaube könnte Berchtolds Handlungen ebenfalls ermutigt haben oder zumindest, sie zu rechtfertigen. In Mexiko heiratet er Jan legal – als ob die offizielle Heirat eines zwölfjährigen Mädchens, das er unter Drogen gesetzt hat, um es seiner Familie zu entreissen, seine wiederholten sexuellen Übergriffe erlauben würde.

Angst und Erpressung

Als das FBI nach endlosen Wochen den Aufenthaltsort von «B» ausfindig machen kann und den Wohnwagen in Mexiko stürmen lässt, wirkt Jan nicht erleichtert. Im Gegenteil, das Mädchen versucht, ihren Peiniger zu verteidigen und macht sich Sorgen um ihn. Wie ist das möglich, fragt man sich unweigerlich? Berchtold betreibt enormen Aufwand, um seine Story glaubhaft wirken zu lassen und Angst ist dabei der treibende Faktor. Jan darf ihr gemeinsames Geheimnis niemandem erzählen, andernfalls bringt sie ihre Eltern und Geschwister damit in Gefahr.

Jan Broberg (Mckenna Grace) mit 14 Jahren.
Jan Broberg (Mckenna Grace) mit 14 Jahren.

Das wirft die Teenagerin – wieder daheim – in eine ausweglose Abhängigkeitsspirale. Die Eltern hingegen sind derweil beruhigt, weil bei ihrer Tochter kein sexueller Missbrauch feststellbar war. Robert Berchtold war so gerissen, Jan sexuell zu nötigen, ohne dass dies ans Licht kam. Er schaffte es auch, Bob und Mary Ann nacheinander zu sexuellen Handlungen zu überreden, die diese erpressbar machten. Ein Grund, warum er nie angemessen für seine Tat verurteilt wurde. Berchtold kam mit einer lächerlichen Haftstrafe von wenigen Tagen davon.

Die Kirche wusste Bescheid

Schlussendlich wickelte er die ganze Familie Broberg so um den Finger, dass es ihm sogar gelang, Jan zwei Jahre später noch einmal zu entführen und zu missbrauchen. Berchtold profitierte davon, dass in den 70er-Jahren sogar FBI-Agenten noch nichts mit dem Begriff Pädophilie anfangen konnten.

Geschweige denn eine Mormonenfamilie, die durch ihre Gutgläubigkeit erst das «Grooming» – also das gezielte Ansprechen von Kindern, um sexuellen Kontakt anzubahnen – erleichterte, und durch ihre religiös bedingte Bereitschaft zur Vergebung später den Missbrauch. Ein Mitglied ihrer Kirche, das etwas Böses mit ihrem Kind im Sinn hatte? Undenkbar.

Die Brobergs beim sonntäglichen Gottesdienst in der Mormonenkirche.
Die Brobergs beim sonntäglichen Gottesdienst in der Mormonenkirche.

Doch viel schwerer als die Unwissenheit der Brobergs oder die Unfähigkeit von Berchtolds damaliger Frau Gail, sich gegen ihren Mann zu erwehren, wiegt in dem Fall die Tatenlosigkeit der Mormonenkirche. Offenbar wusste diese, dass Berchtold sich schon früher an jungen Mädchen verging. Immerhin war dieser schon wegen eines Missbrauchsfalls vom Hoherat der Kirche «verwarnt» worden – jedoch nicht exkommuniziert.

Berchtold war auch in der Schweiz

Später wurde bekannt, dass Berchtold in diesen Jahren viele weitere Mädchen missbraucht hatte. Wie viele genau, ist heute nicht mehr restlos auszumachen. Bei dem Gedanken daran, dass Berchtold seine zweijährige Pflicht-Mission in der Schweiz absolvierte, wie aus verschiedenen Internetquellen erfahrbar ist, läuft es einem kalt den Rücken hinunter.

Buch Mormon - Die Heilige Schrift der Mormonen
Buch Mormon - Die Heilige Schrift der Mormonen

Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage reagierte auch dann nicht, als Jan zum ersten Mal entführt wird und die Eltern noch nicht ahnen, dass sie es hier mit einem Kinderschänder zu tun haben. Während Vater Bob Broberg für eine homosexuelle Handlung mit Berchtold, zu der er von diesem geradezu genötigt wurde, von den Sakramenten ausgeschlossen wird, verbannt die Kirche seine Frau Mary Ann für ihr Verhältnis mit «B» aus der Gemeinschaft.

Suizid im Jahr 2005

Für den pädophilen Täter gibt es jedoch Verständnis, dieser habe schliesslich ein psychisches Leiden und sei krank. An die Opfer, vor allem die Kinder, wird nicht oder erst zu spät gedacht. Die Ähnlichkeiten zur römisch-katholischen Kirche und deren jahrzehntelangen Missbrauchsvertuschungen liegen auf der Hand.

Die Gründe dafür sind dieselben: blindes Vertrauen in die Kirchenführer, eine Kultur, die Männern die Macht über Frauen gibt. Eine Kultur, die Sexualerziehung tabuisiert, und religiöse Organisationen, die ihren Ruf über die Sicherheit ihrer Anhängerinnen und Anhänger stellen.

Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.
Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.

Berchtold missbrauchte weiter Minderjährige und sass dafür kurzweilig im Gefängnis oder in psychiatrischen Einrichtungen. Von Jan kam er nie los. Er stellte ihr auch dann noch nach, als sie 2004 eine lebenslange einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkte. 2005 nahm er sich das Leben, kurz bevor er abermals eine Haftstrafe verbüssen sollte.

Familie an Produktion beteiligt

Jan Broberg setzt sich heute für die Missbrauchsaufklärung ein. Auch ihre Eltern wandten sich bewusst an die Öffentlichkeit, damit anderen Familien nicht Ähnliches widerfährt. Das Besondere an «A Friend of the Family» ist auch, dass sowohl Jan als auch ihre Mutter Mary Ann die Serie mitproduzierten.

Die echte Jan Broberg heute.
Die echte Jan Broberg heute.

Am Anfang der ersten Folge wendet sich die echte, heute 60-jährige Jan direkt ans Publikum: «Diese Serie basiert auf meiner Geschichte. Ich weiss, es mag unglaublich erscheinen, aber wir lebten damals in einer anderen Welt. Ich möchte die Geschichte meiner Familie heute erzählen, weil so viele zu denken scheinen, dass ihnen so etwas nie passieren könnte, vor allem nicht durch jemanden, den sie kennen und dem sie vertrauen. Aber es ist passiert. Es ist meiner Familie passiert. Es ist mir passiert. Danke, dass Sie zugesehen haben».

Die neunteilige Serie «A Friend of the Family» ist auf Sky Schweiz zu sehen. Die Dokumentation «Abducted in Plain Sight» ist auf Netflix zu sehen.

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Bob Berchtold weist Jan an, ihr Geheimnis zu wahren. | © Peacocktv.com
18. April 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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