Das Cover der Graphic Novel "White Bird".
Religion anders

Menschlichkeit in düsteren Zeiten

Eine jüdische Grossmutter erzählt ihrem Enkel von ihrer Flucht vor Nazi-Schergen im Zweiten Weltkrieg – und von ihrer ersten grossen Liebe. «White Bird» von der US-Autorin Raquel Jaramillo Palacio war 2019 erst ein erfolgreiches Jugendbuch. Dann erschien ein Comic über die Geschichte. Nun soll bald auch ein Film des Schweizer Regisseurs Marc Forster folgen.

Sarah Stutte

Der Teenager Julian, der in New York lebt, musste gerade die Schule wechseln, weil er einen Mitschüler gemobbt hat. Das nagt an dem Jungen und er bedauert seine Taten. Im Video-Telefonat mit seiner in Frankreich lebenden Grossmutter Sara gibt er dies offen zu. Sie sagt ihm daraufhin, dass «nicht unsere Fehler bestimmen, wer wir sind, sondern das, was wir aus ihnen lernen». Dann erzählt sie ihrem Enkel ihre bewegende Geschichte.

Als 13-Jährige lebte sie in den 30er-Jahren zusammen mit ihren Eltern ein sorgloses Leben in einem kleinen Dorf im Elsass. Ihr Vater war Arzt und ihre Mutter eine der ersten Mathematik-Professorinnen der Region. Doch ihre Kindheit erfährt mit der Besetzung Frankreichs durch die Nationalsozialisten ein jähes Ende. Schnell nimmt der Judenhass im ganzen Land zu und Saras Eltern sind sich uneins, ob sie flüchten oder bleiben sollen.

Die Scheune als Zufluchtsort

Im Frühling 1943 wird die Familie schliesslich auseinandergerissen. Sara soll mit weiteren Schülerinnen und Schülern ihrer Schule von den Nazis mit einem Lastwagen abgeholt werden.

Doch sie kann sich in den Glockenturm des Gebäudes retten. Dort wird sie von ihrem an Kinderlähmung erkrankten Klassenkamerad Julien Beaumier gefunden, der das Mädchen in der Scheune seiner Eltern versteckt. Währenddessen wird Saras Mutter nach Ausschwitz deportiert, wo sie später stirbt. Vom Vater fehlt jede Spur.

Szene aus der Graphic Novel "White Bird". Der Vogel steht für Sara nicht nur für Freiheit, sondern ist auch eine Erinnerung.
Szene aus der Graphic Novel "White Bird". Der Vogel steht für Sara nicht nur für Freiheit, sondern ist auch eine Erinnerung.

Die Scheune der Beaumiers wird für Sara für viele Monate, die zu Jahren anwachsen, zu ihrem zweiten Zuhause. So wie die Familie, die ihr selbstlos hilft und sie – allen Gefahren zum Trotz – am Leben hält.

Zudem entwickelt sich zwischen ihr und Julien eine zarte erste Liebe. Doch der ehemalige Schulrowdy und Nazi-Sympathisant Vincent, der Julien aufgrund seiner Behinderung immer gemobbt hat, schöpft langsam Verdacht.

Durch Anne Frank inspiriert

Die Geschichte von Raquel Jaramillo Palacio basiert auf ihrem gleichnamigen Jugendbuch, das 2019 in den USA veröffentlicht wurde. Im selben Jahr brachte sie diese auch nochmals als Graphic Novel heraus. Hierfür fertigte die gelernte Grafikdesignerin und Illustratorin die grossformatigen, farbigen und teilweise fast Porträt-artigen Zeichnungen gleich selbst an.

Szene aus der Graphic Novel "White Bird". Die Autorin zeichnete den Comic gleich selbst.
Szene aus der Graphic Novel "White Bird". Die Autorin zeichnete den Comic gleich selbst.

In ihren Anmerkungen am Schluss der Graphic Novel erklärt Palacio, dass sie zu dem Buch durch «Das Tagebuch der Anne Frank» inspiriert wurde, dass sie als Teenagerin in der Schule las.

Dieses hätte sie «nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch als Mensch» geprägt. Palacio, deren Eltern aus Kolumbien in die USA immigrierten, schreibt weiter, dass sie erst spät überhaupt vom Holocaust erfuhr. Bei ihrem Ehemann, der aus einer jüdischen Familie stammte, hätte es dagegen nie eine Zeit gegeben, in der er nicht damit konfrontiert gewesen wäre.

Die Erfahrungen weitergeben

Das wäre einer der Gründe – wenn nicht der wichtigste – für sie gewesen, die fiktive Geschichte zu erzählen. Damit die Erfahrungen von damals an die nächste Generation weitergegeben werden können und nicht verloren gehen. Und dies in einer Form, in der man die Jugend von heute erreicht – weshalb sich Palacio dazu entschloss, ihr Jugendbuch auch noch als Comic zu veröffentlichen.

Schon im Jugendbuch gab es grossformatige Illustrationen in Schwarz-Weiss.
Schon im Jugendbuch gab es grossformatige Illustrationen in Schwarz-Weiss.

«Es gibt sicher Menschen, die infrage stellen, ob ich überhaupt das Recht habe, diese Geschichte zu erzählen, denn es ist eigentlich nicht an mir, vom Holocaust zu berichten», schreibt sie. Aber sie hätte das Gefühl, dass nicht ausschliesslich die Opfer des Holocaust und ihre Nachkommen davon erzählen sollten. «Es sollte an uns allen sein, uns zu erinnern, zu lehren und die Verluste zu betrauern».

Diskriminierung geht alle an

Die Autorin hält weiter fest: «Es ist nicht die Aufgabe jüdischer Menschen, Antisemitismus zu beenden – es ist die Aufgabe derjenigen, die nicht jüdisch sind, ihn im Keim zu ersticken, wo immer wir ihn sehen», sagt sie. Das gelte für jede Gruppe, die diskriminiert werde: «Zu erhalten, was gut und anständig ist in unserer Gesellschaft, ist unser aller Aufgabe».

Raquel Jaramillo Palacios «White Bird» spielt im Universum der anderen Bücher der Autorin und ist quasi der Nachfolgeroman ihres Bestsellers «Wonder» (Wunder), der sieben Jahre zuvor erschien. Dort ist Julian ein Junge, der den gleichaltrigen Auggie Pullman hänselt, der eine seltene Gesichtsdeformation hat. «White Bird» schliesst an die Handlung an, indem Julian hier davon erzählt, dass ihm dieses Mobbing leid tut.

Der Film "White Bird" von Marc Forster ist bereits abgedreht und kommt voraussichtlich noch dieses Jahr ins Kino.
Der Film "White Bird" von Marc Forster ist bereits abgedreht und kommt voraussichtlich noch dieses Jahr ins Kino.

So zieht sich ein roter Faden von Themen wie Ausgrenzung und Wachstum durch das Werk von Palacio, dass sie Kindern und Jugendlichen auf eine einfache Art und Weise näherbringt. Vor allem geht es ihr aber um die Kraft der Menschlichkeit, die ihre Bücher auszeichnen. Die Grausamkeiten der Welt nicht zu leugnen, aber doch an das Gute in uns allen zu appellieren, ist sicher der beste Weg – nicht nur für Kinder und Jugendliche – zu mehr Verständnis und Wachstum.

Seit diesem Jahr sind beide «White Bird»-Bücher im Carl Hanser-Verlag auch auf Deutsch erhältlich. Der Schweizer Regisseur Marc Forster hat den Stoff verfilmt. Raquel Jaramillo Palacio war an der Produktion beteiligt. Der Film wird voraussichtlich noch Ende dieses Jahres in die Kinos kommen. (sas)


Das Cover der Graphic Novel «White Bird». | © Carl Hanser Verlag
2. September 2023 | 07:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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