Lisbeth Binder
Porträt

Lisbeth Binder: Priester Anton Ebnöther wollte mich küssen – obwohl er mein Vater ist

Lisbeth Binder (71) ist eine Tochter von Anton Ebnöther – dem Priestervater des Films «Unser Vater». Der hatte ihre Mutter vergewaltigt. Dass Priester ihre Sexualität nicht im Griff haben, hat sie bereits als Kind erfahren – und später auch als Kirchenpflegepräsidentin.

Regula Pfeifer

«Was hast du für ein gestörtes Verhältnis zur Sexualität?» Diese Frage hat Lisbeth Binder ihrer Mutter ab und zu gestellt. Etwa, als diese sich über einen zu weiten Halsausschnitt beschwert hatte. Davon erzählt Lisbeth Binder im Film «Unser Vater».

Dass da etwas im Argen lag, ahnte die Tochter der ehemaligen Pfarrköchin von Bülach ZH schon früh. Doch sie musste 65 werden, um zu erfahren, was geschehen war.

Lisbeth Binder in ihrer Wohnung
Lisbeth Binder in ihrer Wohnung

Lisbeth Binder sitzt am Stubentisch ihrer Wohnung in Dietikon ZH und erzählt. Nicht das erste, und nicht das letzte Mal. Der Dokumentarfilm «Unser Vater» von Miklós Gimes sorgt für Aufsehen. Im Zimmer nebenan sind Kinderspielsachen zu sehen. Die 71-Jährige ist dreifache Grossmutter. Sie kümmert sich einen Tag pro Woche um die Enkelkinder, zusammen mit ihrem Mann.

Klartext vor der Kamera

«Meine Mutter hat vor der Kamera erstmals davon erzählt», sagt Lisbeth Binder. Im Film «Unser Vater» ist die betagte Frau zu sehen, wie sie mit sich ringt. Und dabei erzählt, wie der Vikar Anton Ebnöther sie damals im Pfarrhaus von Bülach packte, vergewaltigte und mit starken Unterleibschmerzen zurückliess.

Vom Übergriff wurde die damals junge Frau schwanger. Sie teilte das dem Vikar mit und der übergab ihr ein Couvert. Darin lagen hundert Franken. Damit verbunden die Aufforderung, damit zum Arzt zu gehen.

Der vielsagende Brief des Priestervaters

Tochter Lisbeth Binder fand den Brief erst nach dem Tod ihrer Mutter. Voller Entrüstung zerriss und verbrannte sie ihn samt Inhalt und spülte die Asche die Toilette hinunter. «Das Geld wollte ich auf keinen Fall verwenden», sagt Lisbeth Binder.

Dass der Brief vermutlich eine Aufforderung zur Abtreibung gewesen war, sagt Lisbeth Binder nicht. Auf Nachfrage aber bestätigt sie es. Ihre Gefühle demgegenüber äussert sie nicht. Ihre Reaktion zeigt aber: Der Brief traf sie zutiefst.

Filmstill aus "Unser Vater": Der katholische Priester Anton Ebnöther in jungen Jahren.
Filmstill aus "Unser Vater": Der katholische Priester Anton Ebnöther in jungen Jahren.

Geburt in Spital in Visp

Lisbeth Binder kam in Visp zur Welt. Der Pfarrer von Bülach – Ebnöthers Vorgesetzter – hatte die schwangere Pfarrköchin ins St. Maria Spital in Visp zu seiner Schwester, einer Ordensfrau, geschickt. Dort konnten ungewollt Schwangere vor der Geburt mitarbeiten und ihr Kind gebären.

Vom Spital aus wäre Lisbeth Binder beinahe zur Adoption freigegeben worden. Doch eine Schwester ihrer Mutter holte die beiden in Visp ab. Sie hatte gemerkt: Ohne Tochter könnte die Mutter nicht leben.

Kindheit auf dem Bauernhof

Lisbeth Binder ist heute eine bodenständige Frau. Eine, die anpackt. Sie wuchs auf dem Bauernhof der Familie mütterlicherseits in Dietikon auf. Mutter und Tochter teilten sich ein Zimmer. «Nach der Schule hiess es: mitarbeiten auf dem Hof», sagt Lisbeth Binder. Das gefiel ihr nicht immer. Denn ihre Klassenkameradinnen und -kameraden trafen sich am Nachmittag – ohne sie. «Später merkte ich: Es hatte auch gute Seiten.» Sie sei viel früher reif gewesen als Gleichaltrige.

«Mutter sagte immer nur: Er ist an einer unheilbaren Krankheit gestorben.»

Und doch war da ein grosses Schweigen. Wer war ihr Vater? «Mutter sagte immer nur: Er ist an einer unheilbaren Krankheit gestorben.» Mehr wusste Tochter Lisbeth Binder lange Zeit nicht. Doch etwas ahnte sie bereits als Kind: Die Pfarrherren nehmen es nicht sehr ernst mit dem Zölibat. Als sie und ihre Mutter für eineinhalb Jahre auf einem anderen Bauernhof lebten, ging Lisbeth zum Religionsunterricht nach Niederhasli ZH.

Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.
Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.

Doch bald weigerte sie sich. «Ich gehe da nicht mehr hin. Der Pfarrer will mich immer berühren», sagte sie ihrer Mutter. Ab sofort musste sie nicht mehr in den Religionsunterricht. Dies, obwohl sie in einem streng katholischen Umfeld aufwuchs. Erst später wurde ihr klar, weshalb die Mutter so rasch reagierte in jenem Moment.

Welche Erbkrankheit?

Das Wenige, was Lisbeth Binder über ihren Vater zu wissen glaubte, wurde ihr bald zum Problem. Lisbeth Binder heiratete jung. Als ihr erster Sohn unterwegs war, wollten die Ärzte wissen: Gibt es familiäre Krankheiten? Lisbeth Binder hakte bei ihrer Mutter nach. Doch diese antwortete ausweichend. «Das hinterliess mir ein schales Gefühl», sagt Binder.

Mit 30 Jahren erfuhr sie: Ihr Vater lebt doch. Ihre Mutter hatte Ferien in einem Haus der Katholischen Arbeitnehmer Bewegung (KAB) gemacht. Dort erfuhr sie von einer anderen Frau, dass Anton Ebnöther ein Gasthaus in Graubünden führte. «Da hatte ich erste Infos», sagt Lisbeth Binder. Die musste sie allerdings erst verdauen.

Erster Anruf bei Anton Ebnöther

Tage später rief sie bei der Telefonauskunft 111 an. Sie erhielt drei mögliche Adressen. Beim ersten Versuch funktionierte es. Anton Ebnöther nahm ab. Lisbeth Binder erinnerte sich, dass er sagte: «Ich habe schon lange auf deinen Anruf gewartet.» Sie war perplex und konterte: «Wieso hast denn du nicht angerufen?»

Filmstill aus "Unser Vater": Tochter Lisbeth stellt sich viele Fragen.
Filmstill aus "Unser Vater": Tochter Lisbeth stellt sich viele Fragen.

Lisbeth Binder verbrachte in jener Zeit oft Ferien in Davos, da Verwandte ihres Ehemannes dort lebten. Immer wieder kamen sie bei Saas vorbei. Dort stand am Strassenrand ein Schild, das auf den Gasthof «Sunneschy» hinwies. Sie sagten sich: Da sollten wir mal einkehren. «Das war wohl ein Instinkt», sagt sie heute. Dass dort Anton Ebnöther wirtete, wusste sie lange nicht.

In den Ferien nach dem ersten Telefonat wagte Lisbeth Binder ein Treffen mit Ebnöther in Davos. Dieser liess sie in sein Auto einsteigen. Lisbeth Binder dachte, er würde mit ihr zu einem anderen Restaurant fahren, um besser reden zu können.

«Nach einem ersten Austausch legte er plötzlich seine Hand auf mein Bein.»

Doch: «Nach einem ersten Austausch legte er plötzlich seine Hand auf mein Bein», sagt Lisbeth Binder. Und sie fügt mit düsterem Blick hinzu: «Dann wollte er mich küssen, und zwar richtig, nicht nur auf die Wange. Ich war schockiert.» Sie befahl ihm aufzuhören und fügte an: «Ich bin doch deine Tochter.» Dann stieg sie rasch aus.

Warnung von Mutter

Dass dieser Mann ihre Mutter vergewaltigt hatte, wusste Lisbeth Binder damals noch nicht. Jedoch wunderte sie sich, dass ihre Mutter nun jedes Mal warnte, wenn sie zum «Sunneschy» ging: «Pass gut auf dich auf.»

Lisbeth Binder mit einem Foto ihrer verstorbenen Mutter
Lisbeth Binder mit einem Foto ihrer verstorbenen Mutter

Lisbeth Binder erzählte ihrem Mann später vom Übergriff. Und doch wollte sie den Kontakt zu Anton Ebnöther nicht definitiv abbrechen. Denn sie wollte mehr wissen über diesen Mann, der ihr Vater war. Sie und ihre Verwandten besuchten den «Sunneschy» immer wieder.

Sympathie, aber keine Vaterliebe

Wirt und Ex-Pfarrer Anton Ebnöther habe sie als Gäste behandelt, sagt Lisbeth Binder. «Er hat nie gesagt, dass er mein Vater ist.» Sie habe keine Vaterliebe von ihm erhalten. «Aber als Mensch mochte ich ihn.»

Dabei habe sie ihn «gestresst», wie sie sagt. Sie habe ihm gesagt: «Ich bin sicher nicht die Einzige, die herumläuft». Anton Ebnöther habe stets nur die Augen verdreht.

Mutters Angst vor dem Mann

Einmal nahm Lisbeth Binder ihre Mutter mit zum «Sunneschy». Doch als diese Anton Ebnöther sah, «haben sich ihre Haare aufgestellt», sagt die Tochter. Auf Nachfrage bestätigt Lisbeth Binder: Ihre Mutter zeigte Angst. Die beiden gingen bald wieder.

Restaurant
Restaurant

Die damalige Partnerin von Anton Ebnöther wusste aber, wer sie war. Sie habe ihr beim Kennenlernen gesagt: «Also du bist nun jene von Bülach.» Lisbeth Binder schloss die Frau ins Herz. Doch diese erkrankte an Multiple Sklerose. Und Anton Ebnöther fand eine neue Frau, die die kranke Partnerin eine Weile pflegte. «Doch dann haben sie sie abgeschoben», sagt Lisbeth Binder. «Das hat mir weh getan.» Die kranke Ex-Frau von Ebnöther kam in ein Altersheim in der Pfalz, ihrer Herkunftsregion.

Kirchenpflegepräsidentin kündigt Priester wegen Beziehung

Geistliche, die das Zölibatsversprechen brechen, lernt Lisbeth Binder auch in Dietikon kennen. Von 2002 bis 2010 war sie Kirchenpflegepräsidentin. Ein damaliger Priester hatte ein Verhältnis mit einer alkoholsüchtigen Frau. Diese habe ihn geschlagen. «Ich bin mehrmals nachts von der Polizei gerufen worden», sagt Lisbeth Binder.

Gewalt
Gewalt

Das Drama ging weiter, der Priester löste sich nicht von der Frau. Die Kirchenpflegepräsidentin nützte ihre Macht – und kündigte dem Pfarrer. Zum Unmut einiger Leute, die froh waren, überhaupt einen Pfarrer zu haben. Auch dieser Priester hatte offenbar einen Sohn, wie Binder später erfuhr.

Aufforderung an Bischöfe

«Die Bischöfe kennen einen Haufen solcher Fälle», sagt Lisbeth Binder. «Sie müssen endlich einen gemeinsamen Vorstoss machen, um das Problem zu lösen.» Sonst sei die Kirche als Institution in wenigen Jahrzehnten am Ende.

Trauerrede voller «Lug und Trug»

2011 starb Anton Ebnöther. An der Trauerfeier erfuhr Lisbeth Binder endlich, was sie geahnt hatte: Es gibt Halbgeschwister. Aber nicht aus der Trauerrede, die ein Sohn eines ehemaligen Militärkollegen des Verstorbenen hielt. «Das war Lug und Trug», sagt Lisbeth Binder anschliessend dem Redner. «Ich bin immer sehr direkt, manchmal zu direkt», sagt sie.

Filmstill aus "Unser Vater": Anton Ebnöthers sechs heute erwachsene Kinder mit Bischof Joseph Maria Bonnemain
Filmstill aus "Unser Vater": Anton Ebnöthers sechs heute erwachsene Kinder mit Bischof Joseph Maria Bonnemain

Halbgeschwister lernen sich kennen

Eine der Trauernden, Monika Gisler, fragte beim anschliessenden Apéro viele Anwesende, in welchem Verhältnis sie zu Anton Ebnöther standen. Auch Lisbeth Binders Mann. Dort erfuhr sie von ihrer Halbschwester.

So kamen die Halbgeschwister zusammen – später entwickelte sich ein Filmprojekt. Doch bis zum ersten Treffen liess Lisbeth Binder ein halbes Jahr verstreichen. «Ich musste das erst verdauen», sagt sie. Heute findet sie es «cool», so spät so viele Halbgeschwister bekommen zu haben.

Einladungskarte zum 100. Geburtstag von Lisbeth Binders Mutter
Einladungskarte zum 100. Geburtstag von Lisbeth Binders Mutter

Und ihre Mutter? Sie verstarb 2016 – nach einer grossen Feier zu ihrem 100. Geburtstag in Lisbeth Binders Wohnung. Kurz vor ihrem Tod sagte sie ihrer Tochter: «Ich bin froh, konnte ich das Erlebte noch loswerden.» Dass sie vor der Kamera vom Übergriff erzählte, hat ihr offenbar gutgetan.

Hilfe vom Partner

Wie hat Lisbeth Binder das alles verarbeitet? «Mein Partner hat mich sehr unterstützt. Er hörte zu und knuddelte mich auch, wenn ich es brauchte», sagt sie. «Es geht mir heute recht gut», fügt sie an. Doch sie bleibt dran an ihrer Geschichte – und will mit dem Bischof noch ein paar Fragen klären.


Lisbeth Binder | © Regula Pfeifer
6. April 2023 | 12:12
Lesezeit: ca. 6 Min.
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