Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung.
Schweiz

Laurent Goetschel zum Friedensgipfel: «Die Ukraine kann Gespräche mit Russland aufnehmen, ohne die Besetzung zu akzeptieren»

Der Politikwissenschaftler Laurent Goetschel (58) begrüsst den von der Schweiz und der Ukraine angekündigten Friedensgipfel. Doch er mahnt, früher oder später gehöre auch die andere Seite an den Tisch – also Russland. «Will man nur zum wiederholten Mal öffentlich verkünden, die Ukraine habe recht und Russland nicht, dann hat das nichts mit einer Friedenskonferenz zu tun», sagt der Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung.

Barbara Ludwig

Was war Ihr erster Gedanke, als Sie hörten, dass die Schweiz die Ukraine bei der Organisation eines Friedensgipfels auf Schweizer Boden unterstützen will?

Laurent Goetschel*: Ich war sehr erfreut zu hören, dass die Schweiz zur Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine beitragen will. Zugleich habe ich mir die Frage gestellt: Was heisst das konkret? Was haben die Schweiz und die Ukraine da vor?

Weil viele Details noch nicht bekannt sind?

Goetschel: Nicht nur deshalb. Auch ganz grundsätzliche Fragen sind noch offen. Denn bei diesem Treffen der nationalen Sicherheitsberater aus 83 Ländern, das die Schweiz und die Ukraine am Sonntag in Davos durchführten, hat man den etwas seltsamen Ausdruck «Friedensformel» verwendet. Diesen Begriff gibt es erst seit einigen Monaten im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Aber wenn man über Frieden, Friedensprozesse und Verhandlungen spricht, müssen die Akteure der verschiedenen Konfliktparteien vertreten sein. Früher oder später gehört auch die andere Seite mit an den Tisch.

Sie sprechen es an: Wolodimir Selenski hat Russland implizit von der Konferenz ausgeschlossen: Er sagte, dass die Ukraine offen gegenüber allen sei, «die unsere Souveränität und territoriale Integrität respektieren». Kann ein Friedensgipfel ohne die Beteiligung der Russen überhaupt irgendetwas bringen?

Goetschel: Das hängt von der Zusammensetzung der Teilnehmerschaft und der Tagesordnung ab. Zu Beginn eines solchen Prozesses kann man sehr wohl versuchen, zunächst einmal die Position der einen Seite zu klären – also der Ukraine. Dass die Staaten, die das Land unterstützen, unterschiedliche Ansichten haben, erstaunt nicht. Es ist aber wichtig, eine gemeinsame Sicht auf die wesentlichen Punkte zu haben.

«Verhindert man, dass eine Seite allzu stark dominiert, ist das Ergebnis am Ende für alle akzeptabler.»

Ein Ziel kann auch sein, der Ukraine als dem schwächeren Land zunächst den Rücken zu stärken. Denn wenn man schwächere Akteure stärkt, erhöht das möglicherweise ihre Bereitschaft, sich überhaupt auf Verhandlungen einzulassen. Es kann auch dazu beitragen, dass Verhandlungen besser ablaufen: Verhindert man, dass eine Seite allzu stark dominiert, ist das Ergebnis am Ende für alle akzeptabler. Will man aber nur zum wiederholten Mal öffentlich verkünden, die Ukraine habe recht und Russland nicht, dann hat das nichts mit einer Friedenskonferenz zu tun.

Darf Selenski nicht erwarten, dass die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine respektiert werden?

Goetschel: Selenski beharrt zu recht auf der territorialen Integrität und der Souveränität seines Landes. Trotzdem ist es angesichts der aktuellen Situation – russische Truppen besetzen substantielle Teile des ukrainischen Territoriums – nicht sehr realistisch, den Abzug dieser Truppen zur Vorbedingung für Gespräche zu machen. Die Ukraine kann sehr wohl Gespräche mit Russland aufnehmen, ohne die Besetzung zu akzeptieren.

Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wird am 15. Januar 2024 begrüsst von Aussenminister Ignazio Cassis am Flughafen Belp in Bern.
Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski wird am 15. Januar 2024 begrüsst von Aussenminister Ignazio Cassis am Flughafen Belp in Bern.

Es müsste auch Russland zur Teilnahme an Gesprächen motiviert werden. Das Land ist nicht in der Defensive und verfolgt diametral andere Ziele. Wie kann das trotzdem gelingen?

Goetschel: Das hängt von den Interessen Russlands im aktuellen Zeitpunkt ab. Falls Russland darauf aus ist, den Konflikt möglichst in die Länge zu ziehen, also einen Abnützungskrieg zu führen, bis der Ukraine die Ressourcen ausgehen und den sie unterstützenden Staaten die Lust, ihr zu helfen – dann gibt es für Russland keinen Grund, sich an den Verhandlungstisch zu begeben.

«Der Prozess, in dem die Friedensformel entstand, war bislang sehr einseitig, weil Russland aussen vor blieb.»

Denkbar wäre jedoch auch, dass gewisse Kreise in Russland irgendwann einsehen, dass sich die ursprünglichen Kriegsziele nicht oder nur mit einem grösseren Aufwand als anfänglich angenommen erreichen lassen, und man deshalb Interesse an einem Kompromiss signalisiert. Dann würde sich die Frage stellen: Bewegt sich ein solcher Kompromiss im Rahmen dessen, was sich die ukrainische Regierung auch vorstellen kann? Darum ginge es schliesslich bei einer Friedenskonferenz, an der sich beide Konfliktparteien beteiligen.

Der russische Präsident Wladimir Putin
Der russische Präsident Wladimir Putin

Es gibt die Kritik, dass die neue Initiative der Schweiz und der Ukraine zu stark mit der Friedensformel verknüpft ist, die Sie vorhin erwähnen. Gemeint ist der 10-Punkte-Plan von Selenski.

Goetschel: Der Prozess, in dem die Friedensformel entstand, war bislang tatsächlich sehr einseitig, weil Russland aussen vor blieb. Zu bedenken ist: Nur sehr wenige Staaten stehen voll hinter Russland und haben den Angriff auf das Nachbarland nicht verurteilt. Bedeutender ist die Zahl der Staaten, die an der Uno-Generalversammlung vor zwei Jahren den Angriff verurteilten, aber die Sanktionen gegen Russland ablehnten. Die Ukraine sollte versuchen, diese Staaten für sich zu gewinnen, um mit ihnen zusammen den Druck zu verstärken. Tut sie das, wird sie zwangsläufig auch Abstriche machen müssen bei ihrem Zehn-Punkte-Plan. Damit käme man möglichen Kompromisslösungen näher. Die Ukraine sollte jedoch nicht bestimmte Ergebnisse oder gar eine Lösung zur Vorbedingung für Gespräche machen.

Welche Länder wären besonders wichtig?

Goetschel:  Grosse und wichtige Länder, die auch sonst eine unabhängige Position suchen in der internationalen Politik. Brasilien zum Beispiel, Südafrika, aber natürlich auch China und Indien. Das sind wichtige Staaten, die auch eine Rolle spielen können als Brückenbauer zwischen dem Westen und Russland.

«Die Schweiz hat keine machtpolitischen Hebel. Das ist gleichzeitig auch ihre Stärke.»

Die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt, die Schweiz habe aber «keine wirklichen Hebel», um weitere entscheidende Staaten zu einer Teilnahme zu bewegen. Sehen Sie das auch so?

Goetschel: Die Schweiz hat keine machtpolitischen Hebel, auch wenn sie wirtschaftlich gesehen zu den wichtigeren Ländern zählt. Das ist gleichzeitig auch ihre Stärke. Wenn die Schweiz ihr Territorium für einen Friedensgipfel zur Verfügung stellt, müssen andere Länder nicht befürchten, dass sie dadurch ihren Einfluss über Gebühr ausbauen wird.

Wolodimir Selenski am WEF 2024 in Davos.
Wolodimir Selenski am WEF 2024 in Davos.

Was erwarten Sie persönlich von dem nun angekündigten Gipfel, der in Genf stattfinden soll?

Goetschel: Im Moment noch gar nichts. Es kommt – wie eingangs erwähnt – darauf an, welche Länder teilnehmen, auf welcher Stufe die Vertreter sind, die sie hinschicken, und worüber geredet wird. Sehr schade fände ich, wenn in Genf nochmals das Gleiche wiederholt würde, was bereits im Rahmen der bisherigen Treffen nationaler Sicherheitsberater geschah. Damit käme man nicht weiter. Es muss inhaltlich und in Bezug auf die teilnehmenden Länder eine Entwicklung geben.

«Man kann den Kampf einstellen und gleichzeitig an seinen Zielen festhalten.»

Manch einer wünscht sich vielleicht, dass die Ukraine kapituliert und sich unterwirft, weil dann das gegenseitige Töten aufhören würde. Fragt sich, ob das ein echter, gerechter Friede ist.

Goetschel: Aufhören zu kämpfen und kapitulieren ist nicht dasselbe. Man kann den Kampf einstellen und gleichzeitig an seinen Zielen festhalten. Das eine ist das Ziel, das andere das Mittel, um das Ziel zu erreichen. Ein echter Friede muss die wesentlichen Interessen der Konfliktparteien berücksichtigen. Eine einseitige Kapitulation kann nicht als gerechter Friede bezeichnet werden. Doch es spielen da noch ganz andere Fragen eine Rolle.

Zum Beispiel?

Goetschel: Friedensethische Aspekte. Welches Verhältnis hat man zu Gewalt? Bis zu welchem Zeitpunkt ist Krieg legitimierbar? Kann man unterschiedlich gelagerte Ziele gegeneinander aufrechnen, also beispielsweise die Vermeidung menschlicher Opfer gegenüber der Wiedergewinnung nationaler Territorien? Wie verhält es sich mit den Ressourcen und dem nationalen Zusammenhalt? Man kann das auf einer theoretischen Ebene abhandeln. Doch am Schluss ist es – so brutal das klingt – immer eine Güterabwägung: Was ist man bereit, für seine Ziele einzusetzen und zu opfern? Und als wie realistisch sieht man die Möglichkeit, die eigenen Ziele mit anderen, nicht-kriegerischen Mitteln zu erreichen?

*Laurent Goetschel (58) ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Basel und Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung (Swisspeace). Er war von 2003 bis 2004 persönlicher Mitarbeiter der damaligen Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Fragen der Friedens- und Konfliktforschung sowie die Aussenpolitikanalyse.


Laurent Goetschel, Direktor der Schweizerischen Friedensstiftung. | © zVg
19. Januar 2024 | 15:00
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