Der Churer Bischof Joseph Bonnemain spricht an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.
Schweiz

Joseph Bonnemain: «Ich werde mich persönlich beim Papst für die Öffnung der Archive einsetzen»

Die über 1000 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz sind erst die «Spitze des Eisbergs», wie die Historikerin Marietta Meier von der Universität Zürich betonte. Bischof Joseph Bonnemain versprach auf der Medienkonferenz zur Pilotstudie, dass Aktenvernichtung nun verboten sei und dass eine nationale Meldestelle für Missbrauchsbetroffene geschaffen werde. Auch Bischof Felix Gmür war anwesend, äusserte sich aber nicht.

Charles Martig

Marietta Meier sprach am Dienstag von der berühmten «Spitze des Eisbergs» und fügte hinzu: «Wir wissen aber nicht, wie gross dieser Eisberg unter Wasser ist.» Deshalb seien die bisher publizierten Zahlen eine erste Grössenordnung, aber keine absolute Zahl. In der Pilotstudie sind es 1002 Fälle mit 510 Beschuldigten und 921 Betroffenen. Tendenziell haben die Fälle abgenommen, besonders in den letzten 20 Jahren. «Es gibt eine grosse Dunkelziffer», sagt der Historiker Lukas Federer, der die diözesanen Archive gesichtet hat.

Hinter Fällen stehen Menschen und Leid

Vreni Peterer von der «Interessengemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld» sagte in ihrem Statement: «Mein Ziel ist es, heute nicht wieder zu weinen. Das ist mir nicht gelungen.» Und fügte an: «Heute werden viele Betroffene weinen, wenn sie diese Zeilen lesen.» Sie betonte, dass hinter den 1002 Fällen Menschen und ihr Leid stehen.

Vreni Peterer, Betroffene, spricht an der Pressekonferenz zur Missbrauchstudie.
Vreni Peterer, Betroffene, spricht an der Pressekonferenz zur Missbrauchstudie.

Von Seiten der Missbrauchsbetroffenen begrüsse sie eine nationale unabhängige Meldestelle. Zudem forderte sie auch bei den Kirchen ein «rechtstaatliches Vorgehen» bei Missbrauchsfällen.

Schweizer Kirche ist sehr spät mit der Aufarbeitung

«Diese Studie hätte schon vor 20 Jahren gemacht werden können», sagte die Historikerin Monika Dommann. Zusammen mit Marietta Meier leitete sie die Pilotstudie. Schon damals sei viel bekannt gewesen und hätten noch mehr Opfer von sexuellem Missbrauch gelebt.

V.l.: RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger, Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller, Medienverantwortlicher der Universität Zürich und die Projektleiterinnen Marietta Müller und Monika Dommann an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.
V.l.: RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger, Bischof Joseph Bonnemain, Beat Müller, Medienverantwortlicher der Universität Zürich und die Projektleiterinnen Marietta Müller und Monika Dommann an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie.

Aber Dommann betonte auch die positive Seite: «Wir können von Fehlern aus anderen Studien lernen. Zum Beispiel ist das Schwärzen von Dokumenten – wie in der deutschen MHG-Studie geschehen – für die Geschichtswissenschaften ein No-Go.»

Unerlässlicher Kulturwandel

Von der staatskirchlichen Seite sass die RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger auf dem Podium der Medienkonferenz. «Die Institution Kirche hat durch menschliches Fehlverhalten und systemische Defizite unsägliches Leid verursacht.» Sie erwähnte die zahlreichen Fälle von spirituellem und sexuellem Missbrauch und hielt fest: «Viele Verantwortliche in der Kirche reagierten mit Schweigen und Vertuschen auf diese Verbrechen. Das ist zutiefst beschämend.» Als Präsidentin der Römisch-katholischen Zentralkonferenz setze sie sich ich für einen «unerlässlichen Kulturwandel in der Kirche» ein.

Verantwortung übernehmen

Mit grosser Spannung wurde die Stellungnahme von Bischof Joseph Bonnemain erwartet, der als Vertreter der Bischofskonferenz sprach. «Wir müssen mit dieser Schuld leben und Verantwortung übernehmen», sagte er. Und er pflichtete Renata Asal-Steger bei: «Wir müssen uns für einen nachhaltigen Kulturwandel einsetzen.»

RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger und Bischof Joseph Bonnemain an der Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.
RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger und Bischof Joseph Bonnemain an der Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.

Bischof Bonnemain präsentierte einen Massnahmenplan, der verschiedene Aspekte des Missbrauchskomplexes angehen soll. Er führte aus, dass die Bischofskonferenz eine nationale unabhängige Meldestelle einführen wolle. «Es werden neue Modelle geprüft, die wir zusammen mit den Betroffenen erarbeiten.»

Rigoroser Kurs gegen die Aktenvernichtung

Eine Massnahme sei es auch, dass nun die Aktenvernichtung verboten wird. Damit setzen sich die Schweizer Bischöfe über römisches Recht hinweg. Denn dieses sieht vor, dass Akten in regelmässigen Abständen vernichtet werden. Damit ist nun Schluss. In einer Selbstverpflichtung müssen die Bistümer und kirchliche Organisationen in der Schweiz unterzeichnen, künftig keine Missbrauchsakten mehr zu vernichten. «Die kirchliche Vorschrift, Akten zu vernichten, wird aufgehoben», betonte Bischof Bonnemain.

RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger und Bischof Joseph Bonnemain vor Beginn der Medienkonferenz.
RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger und Bischof Joseph Bonnemain vor Beginn der Medienkonferenz.

Er kündigte zudem an, dass das Personalwesen professionalisiert werden soll. Es brauche eine «standardisierte psychologische Prüfung für kirchliche Mitarbeitende und zukünftige Ordensleute».

Gewaltfreie Kirche

«Die kommende Generation hat das Recht auf eine geläuterte Kirche», sagte Bischof Bonnemain mit Nachdruck. Und er schloss sein Statement etwas pathetisch mit der Formulierung: «Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung.»

Orden sind Teil des Problems

Abt Peter von Sury vertrat an der Präsentation der Pilotstudie die Sicht der Orden. Als Vertreter der KOVOS sagte er: «Es ist offensichtlich, dass die Ordensinstitute Teil des Problems sind.» Das Armutsideal und die «asymmetrische Beziehung zwischen Frauen- und Männerorden» seien mitverantwortlich für das Ausmass des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Denn auch die Täterinnen seien gefangen im hierarchischen System und selbst Opfer dieses patriarchalen Weltbildes. Er rief die Mitglieder der KOVOS auf, in den nächsten Jahren aktiv mitzuarbeiten und die Archive zu öffnen.

Peter von Sury, Abt von Mariastein, Delegierter KOVOS
Peter von Sury, Abt von Mariastein, Delegierter KOVOS

Als Vertreter der Betroffenen war auch Jacques Nuoffer auf dem Podium. Er kritisiert, dass die Verantwortlichen der Kirche sagen, dass sie Missbrauch aufdecken wollen, sich aber weiterhin weigern die Archive der Nuntiatur und des Vatikans zu öffnen.

Für die Pilotstudie fragten Monika Dommann und Marietta Meier die vatikanische Nuntiatur in Bern an. Der Zugang zu diesen Archiven hat Nuntius Martin Krebs verweigert – dabei wurde auf das diplomatische Geheimnis verwiesen. Dommann und Meier bedauern diese Absage sehr. «In einer international geführten Organisation wie der katholischen Kirche ist der Zugang zu den vatikanischen Akten essentiell», betonte Dommann. Derzeit sei eine Anfrage an den Vatikan noch hängig. «Ich werde mich persönlich bei Papst Franziskus für die Öffnung der Archive einsetzen», sagte Bischof Bonnemain.

Rücktrittsforderungen an die Bischöfe

Bei der Medienkonferenz wurde auch die Frage nach der Verantwortung von Vertuschung der Bischöfe gestellt. «Wir haben uns in der Bischofskonferenz Überlegungen zu Rücktrittsforderungen gemacht. Es sind damit auch Persönlichkeitsrechte betroffen. Wir sind an dieser Frage dran. Mehr kann ich dazu nicht sagen», sagte Bischof Bonnemain darauf. Auf viele gestellte Fragen der Medienschaffende wich er aber aus. Etwa inwiefern die Fachgremien in Zukunft Weisungsbefugnisse gegenüber kirchenrechtlich untersuchenden Stellen (Offizialate) erhalten sollen.

Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, an der Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.
Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, an der Pressekonferenz zur Missbrauchsstudie.

Auffällig an der Präsentation vom 12. September war die stille Teilnahme von Bischof Felix Gmür. Er sass in den Rängen unter den Journalistinnen und Journalisten und überliess seinem Mitbruder Joseph Bonnemain das Reden. Bei einer direkten Frage zum Thema «Rücktrittsforderung an Bischöfe» erhielt er keine Gelegenheit, sich zu äussern.


Der Churer Bischof Joseph Bonnemain spricht an der Medienkonferenz zur Missbrauchsstudie. | © Jacqueline Straub
12. September 2023 | 15:06
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