Ivo Fürer im Jahr 2014.
Schweiz

Bistum St. Gallen: Ivo Fürer und Markus Büchel liessen Missbrauchstäter gewähren

Die Vorstudie deckt auf: Ein Priester des Bistums St. Gallen soll Jahrzehnte lang Kinder missbraucht haben. Bischof Ivo Fürer ignorierte die Meldungen. Auch sein Nachfolger, Bischof Markus Büchel, agierte nicht. Der Priester wird bis heute als Seelsorger eingesetzt.

Annalena Müller

Im Jahr 2002 richtet St. Gallen als erstes Schweizer Bistum eine Meldestelle für Missbrauchsbetroffene ein. Der Fall des Priesters E. M. gehört zu den ersten, die das Fachgremium behandelt. In den folgenden acht Jahren gehen weitere Meldungen ein. Später stellt sich heraus: Das Bistum weiss seit den 1970er Jahren um die Probleme des Priesters.

Schatten eines Mannes mit Kreuz.
Schatten eines Mannes mit Kreuz.

Obwohl das Gremium Bischof Ivo Fürer wiederholt zum Handeln auffordert, bleibt der Bischof untätig. Erst sein Nachfolger, Markus Büchel, versetzt E. M. 2012 in ein Kloster. Aber auch er unterbindet die Seelsorgetätigkeit des Priesters nicht. Ein Protokoll über Jahrzehnte des Wegschauens.

Erste Meldungen beim Fachgremium

Im April 2002 wendet sich eine Frau an das neugegründete Fachgremium gegen Sexuelle Übergriffe. Sie berichtet von Missbrauch durch E. M. in ihrer Kindheit und im Erwachsenenalter. Und sie informiert das Gremium über die Gerüchte, die über E. M. kursieren. Der Priester soll sich auch an Kindern eines Heimes vergangen haben.

Einige Zeit später meldet sich eine weitere Frau. Sie hat in den 1990er Jahren in dem Heim gearbeitet. Kinder hätten von «komischen Küssen mit der Zunge», berichtet und von Griffen unter das Nachthemd beim Zubettgehen. Andere Betreuende hätten von Heimkindern erzählt, die auf einmal nichts mehr mit dem Priester zu tun haben wollten.

Symbolbild: Missbrauch an Kindern
Symbolbild: Missbrauch an Kindern

Das Fachgremium fordert Bischof Ivo Fürer auf, den Priester aus allen Bistumsfunktionen zu entfernen. Weiterhin sollen die Lebens- und Arbeitsfelder des Priesters durch Fachpersonen überprüft werden, und es wird eine schriftliche Mitteilung des Bischofs erbeten, welche Massnahmen von seiner Seite ergriffen wurden.

Missverständliche Zungenküsse?

Sowohl Priester als auch Bischof reagieren schriftlich auf die Vorschläge des Gremiums. E. M. streitet alles ab und beschuldigt das Fachgremium, ihn in die Enge zu treiben. Und Bischof Ivo Fürer? Er geht auf die Forderungen des Gremiums nicht ein, sondern stellt Rückfragen.

Der Fall des Priesters E. M. wird in der Vorstudie beschrieben.
Der Fall des Priesters E. M. wird in der Vorstudie beschrieben.

Die Forschenden der Uni Zürich geben den Inhalt des bischöflichen Briefes folgendermassen wieder: «Komische Küsse würden als Zungenküsse interpretiert, ob das genauer abgeklärt werden könne? Könne die Feststellung mit den Nachthemden, die von Priester E. M. bestritten werde, nochmals in einer Aussprache geklärt werden? Könnten die Reaktionen der Kinder auch andere Ursachen haben? Wie beurteile das Fachgremium die Glaubwürdigkeit der beiden Frauen, welche die Beschuldigungen vorgebracht hätten?».

Ivo Fürer verweigert sich

Das Fachgremium aber ist keine Untersuchungsbehörde – und es weist den Bischof auch darauf hin. Tatsächlich liegt die Untersuchungspflicht bei ihm. Bischof Ivo Fürer müsste eine kanonische Voruntersuchung einleiten. Das möchte der Bischof aber offensichtlich nicht. Stattdessen wendet er sich 2004 an das Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz (SBK).

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Das Fachgremium der SBK bescheinigt dem Bischof ebenfalls, dass die Beschuldigungen glaubwürdig seien, da sie von verschiedenen Quellen stammten. Ausserdem trügen die Stellungnahmen von E. M. «wenig dazu bei, die mögliche Begründetheit der Beschuldigungen auszuschliessen».

Das Gremium der SBK empfiehlt dem Bischof, den Fall in Rom zu melden, eine Voruntersuchung zu eröffnen und die Betroffenen an staatliche Strafverfolgungsbehörden zu verweisen. Im Oktober 2005 geht bei der St. Galler Meldestelle eine neue Meldung ein. Das Dossier über E. M. wächst weiter. Bischof Ivo Fürer unternimmt weiterhin nichts.

«Kollegialer Umgangston»

Den Forschenden der Universität Zürich fällt der «kollegiale Umgangston in der Korrespondenz» zwischen Bischof Ivo Fürer und E. M. auf. Dieser lasse «eine enge Beziehung zwischen dem Bischof und dem beschuldigten Priester vermuten».

Bischof Ivo Fürer wollte es wohl nicht wahrhaben und schützte den Priester. (Aufnahme von 2018).
Bischof Ivo Fürer wollte es wohl nicht wahrhaben und schützte den Priester. (Aufnahme von 2018).

Eine freundschaftliche Beziehung würde erklären, warum Bischof Ivo Fürer keine Untersuchung eröffnet und den Fall nicht in Rom meldet. Er untersagt dem Priester nur, das Kinderheim zu besuchen. Kurz vor seinem Rücktritt ernennt der Bischof E. M. zum Kaplan einer Seelsorgeeinheit im Kanton.

E. M. seit 1970er Jahren bekannt

2010 meldet sich eine weitere Frau beim Gremium. Sie hat «eine heftige emotionale Reaktion» erlebt, als Bischof Markus Büchel und E. M. zusammen die Messe feiern. Es ist die vierte Frau, die sich wegen des gleichen Priesters an das Gremium wendet. Im gleichen Jahr klopft auch das Fachgremium des Bistums Chur an. E. M. soll in den 1970er-Jahren in einer Gemeinde im St. Galler Rheintal eine Person sexuell missbraucht haben.

Bischof Markus Büchel vom Bistum St. Gallen
Bischof Markus Büchel vom Bistum St. Gallen

Wieder wendet sich das Gremium an den Bischof. Dieser heisst seit 2006 Markus Büchel. Er gewährt dem Gremium erstmals Einblicke in die Personalakt des Beschuldigten. Darin findet sich ein Brief aus den 1970er-Jahren. Der Priester hatte sich damals an den Bischof gewandt und diesen um Hilfe gebeten, wegen sexueller Fantasien, «die im Rahmen des strafrechtlich Relevanten liegen würden».

Weder Untersuchung noch Meldung – bis heute

Zwischen Dezember 2010 und 2012 kommt es zu drei Sitzungen des Fachgremiums mit Bischof Markus Büchel. Vermutlich auf Druck des Gremiums versetzt der Bischof den Priester 2012 in ein Kloster.

Zwischen der ersten Meldung und seiner Versetzung liegen zehn Jahre. Seit E. M.s Brief sind sogar 40 Jahre vergangen. Auch nach der Versetzung in das Kloster ist E. M. weiter als Seelsorger und Priester tätig. Noch im Januar 2023 sind Eucharistiefeiern mit ihm nachgewiesen.

Antwort ausstehend

In dem Dossier des Fachgremiums zu E. M., das die Historiker und Historikerinnen in der Vorstudie auswerteten, fand sich kein Hinweis darauf, dass je eine kanonische Voruntersuchung eingeleitet oder eine Meldung nach Rom gemacht worden wäre.

Kath.ch hat dazu beim Bistum St. Gallen angefragt. Auch gefragt wurde, ob man dort erwägt, Schritte zu unternehmen, um E. M. aus dem Priesterstand zu entfernen. Antworten des Bistums werden zeitnah erwartet.


Ivo Fürer im Jahr 2014. | © Josef Bossart
12. September 2023 | 10:30
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