Karl Saurer drehte «Ahimsa» mit einer indischen Filmcrew.
Religion anders

Karl Saurer: Von einem, der es wagte, sich einzumischen

Der Einsiedler Filmregisseur, Kritiker und Dozent Karl Saurer (1943–2020) versuchte Zeit seines Lebens, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Im Rahmen der Präsentation einer neuen Werkbiografie ist auch der einst zensierte Dokumentarfilm «Ruhe» erstmals öffentlich zu sehen.

Eva Meienberg

Vor der Kirche brennt die Hexe und rundherum sitzen Blauring-Mädchen und staunen. Die Kamera ist nah an den Gesichtern. Sie zeigt verblüffte Primarschulkinder, die nicht so recht zu verstehen scheinen, was sie sehen, während die Leiterinnen der katholischen Jugendorganisation ein Tribunal inszenieren.

Ihr Vorwurf: sexuelle Verführung und moralische Verrohung. Das Urteil: Tod auf dem Scheiterhaufen. Die Leiterinnen stecken die Hexe – ein in Leintücher gehülltes Holzgestell mit angehefteten Bildern von nackten Frauen aus Zeitschriften ausgeschnitten – in Brand.

Scheiterhaufen. Filmbild aus «Ruhe».
Scheiterhaufen. Filmbild aus «Ruhe».

Wir befinden uns in den frühen 1970er Jahren und folgen dem Dokumentarfilm «Ruhe», einem Frühwerk des Einsiedler Regisseurs und Sozialaktivisten Karl Saurer. Der Film zeigt in anklagender und plakativer Weise die enge und rigide Welt von damals.

Die Botschaft ist einfach: Es darf nicht sein, dass Kinder systematisch gebrochen und zu braven Bürgerinnen und Bürgern und zu Konsumenten einer materialistischen Gesellschaft erzogen werden. Vielmehr muss es darum gehen deren Potential zu erkennen und so zu fördern, dass sich die Kinder zu kritisch engagierten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen entwickeln.

Mit Filmen für Unruhe und Umdenken sorgen

Ein ebensolcher Zeitgenosse war Karl Saurer, als er im Alter von 27 Jahren die Hexenverbrennung filmte. Er hatte in Zürich, München und Köln Germanistik, Geschichte, Psychologie, Theater- und Filmwissenschaften studiert. Während des Studiums realisierte er verschiedene Theater- und Filmprojekte und schrieb Theaterkritiken für Schweizer Zeitungen.

1970 erhielten er und sein Studienfreund Erwin Keusch vom Schweizer Fernsehen den Auftrag, Beiträge für ein neues Jungendmagazin zu realisieren. Doch mit «Ruhe» fiel schon die erste Produktion der sechsteiligen Serie der Zensur zum Opfer. Der Programmdirektor des Deutschschweizer Fernsehens senkte den Daumen aus Angst vor negativen politischen Interventionen noch bevor der erste Teil ausgestrahlt worden war.

Lehrlingsgewerkschaft. Filmbild «Ruhe».
Lehrlingsgewerkschaft. Filmbild «Ruhe».

Karl Saurer und Erwin Keusch nahmen die Zensur zum Anlass und realisierten 1973 postwendend ihr nächstes Filmprojekt unter dem unzweideutigen Titel «Es drängen sich keine Massnahmen auf oder Selbstzensur ist besser».

Karl Saurer mischte sich in die öffentlichen Debatten ein und in den gesellschaftlichen Diskurs – provokativ und vor allem immer wieder kreativ. Sei es der Protest gegen das AKW Kaiseraugst («Kaiseraugst», 1975) oder die bürgerfeindliche Stadtplanung Luzerns («Tatort Luzern», 1975), Karl Saurer war mit seiner Kamera zur Stelle, wenn es darum ging Solidarität mit den Widerständigen zu markieren. Ab 1980 lehrte er an verschiedenen Hochschulen in Deutschland, Italien, Ostafrika und der Schweiz bis zu seinem 68. Lebensjahr.

Die (un)gastliche Schweiz im Blick

In «Das Unbehagen an der Vergangenheit»befragte er namhafte Schweizer Regisseure zu ihren filmischen Arbeiten über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg. In «Kebab und Rosoli» von 1993 realisierte er zusammen mit seiner Lebenspartnerin, Elena M. Fischli, einen Film über Einheimische und Geflüchtete.

Typisch für den Filmemacher war, dass er keinen Film über seine Protagonistinnen und Protagonisten machte, sondern mit ihnen. Das Drehbuch zu «Kebab und Rosoli» entstand in gemeinsamer Arbeit mit tamilischen und kurdischen Geflüchteten. Einer der Kameramänner war Tamile.

Die Kurdin Zeliha musste ihren einjährigen Sohn zurücklassen. Seit vier Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Filmbild «Kebab und Rosoli»
Die Kurdin Zeliha musste ihren einjährigen Sohn zurücklassen. Seit vier Jahren hat sie ihn nicht mehr gesehen. Filmbild «Kebab und Rosoli»

Angriffe auf Asylunterkünfte und andere Feindseligkeiten gegenüber Asylsuchenden veranlassten Karl Saurer und Elena M. Fischli die sogenannte Überfremdung zu vermenschlichen. In filmischen Miniaturen bekamen die Fremdarbeiter ein Gesicht, einen Namen und eine Geschichte.

Der Film zeigt, wie eine Annäherung von Geflüchteten und Einheimischen gelingen kann. Er wurde am Filmfestival in Nyon ausgezeichnet und unter anderem vom Katholischen Mediendienst gefördert.

Saurers Filmkarriere begann im Kino in Einsiedeln

Karl Saurer ist am 16. Juli 1943 in Gross bei Einsiedeln auf die Welt gekommen. Die ersten Jahre verbrachte er mit seiner Familie im bäuerlichen Dorf mit Blick auf den Sihlsee. Sein Blick machte aber nicht halt auf der Oberfläche, sondern richtete sich auch auf den Grund des Sees.

Im Film «Der Traum vom grossen blauen Wasser» zeigte er, was die Energie-Pioniere am Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu opfern bereit waren, um das Hochtal zu fluten und es zu einem Speicherbecken für die Stromproduktion zu machen.

Der See steigt. Filmbild aus "Der Traum vom grossen blauen Wasser" von Karl Saurer aus dem Jahr 1993
Der See steigt. Filmbild aus "Der Traum vom grossen blauen Wasser" von Karl Saurer aus dem Jahr 1993

Karl Saurer lässt in seinem Film Zeitzeugen zu Wort kommen, die erzählen, wie sie im Einsiedler Hochtal enteignet worden waren und ihre Vater-Häuser verlassen mussten. Der Filmemacher liess sich nicht dazu hinreissen, den Konflikt in schwarz-weiss zu zeichnen, sondern hielt der Komplexität stand, stellte lieber Fragen, als vermeintlich einfache Antworten zu geben.

1952 zog die Familie Saurer vom See weg ins Einsiedler Klosterdorf. In der zweiten Sekundarklasse gründete Karl Saurer einen Filmclub im Kino Etzel. Dort habe alles angefangen, sagte Karl Saurer 1993 in einem Interview über den Beginn seiner Karriere im Film.

Steinauer heisst das Dorf nach den Brüdern Steinauer, die als Wirtschaftsflüchtlinge von Einsiedeln nach Nebraska emigrierten.
Steinauer heisst das Dorf nach den Brüdern Steinauer, die als Wirtschaftsflüchtlinge von Einsiedeln nach Nebraska emigrierten.

Nach dem Sihlsee-Film führten ihn Einsiedler Auswanderer nach Nebraska. In «Steinauer Nebraska» erzählt er die Geschichte dreier Brüder, die aus wirtschaftlicher Not den Atlantik überqueren mit der Hoffnung im Gepäck, in der neuen Welt zu Wohlstand zu kommen. Die Erfolgsstory ist gleichzeitig die traurige Geschichte von der Vertreibung und Ermordung der American Natives.

Indische Gewaltfreiheit als Inspiration und Vorbild

Die nächste Reise führte den Filmemacher nach Indien auf den Spuren eines Elefanten, der um 1550 von Kerala nach Wien reisen musste. In diesem Roadmovie nimmt der Ghandi-Aktivist P.V. Rajagopal den Weg des Elefanten erneut auf sich, um die Geschichte des beginnenden Kolonialismus durch Europa zu zeigen und die vielen bis in die heutige Zeit andauernden Folgen.

Elefantenbad. Filmbild aus «Rajas Reise».
Elefantenbad. Filmbild aus «Rajas Reise».

Seine letzte Filmpremiere feierte Karl Saurer 2012 an den Solothurner Filmtagen mit «Ahimsa». Der Dokumentarfilm begleitet die Basisbewegung Ekta Parishad mit ihrem Gründer P. V. Rajagopal, den der Filmemacher durch «Rajas Reise» kennengelernt hatte. Erzählt wird die Geschichte einer indigenen Dorfgemeinschaft in Südindien, die sich mit Hilfe der Basisbewegung in einem jahrelangen gewaltfreien Kampf das Recht auf Boden und Wasser erstritt.

P.V. Rajagopal machte sich in «Rajas Reise» auf den Weg nach Europa und zu den Wurzeln seiner kolonialen Geschichte.
P.V. Rajagopal machte sich in «Rajas Reise» auf den Weg nach Europa und zu den Wurzeln seiner kolonialen Geschichte.

Karl Saurer hat «Ahimsa. Die Stärke von Gewaltfreiheit» mit einer indischen Crew gedreht. Ebenso gehörte es zu den Angewohnheiten des Filmemachers, seine Filme zuerst den Protagonistinnen und Protagonisten zu zeigen, um gegebenenfalls reagieren zu können, wenn sie sich zu wenig sensibel dargestellt fühlten. Karl Saurer war sich stets bewusst, was er von seinen Akteuren erhalten hatte, die Filme waren sein Dank dafür.

Filme als Möglichkeit, die Welt ein bisschen zu verändern

«Ahimsa» machte nicht nur im Kino Karriere, sondern wird bis heute als Schulungsfilm in den Landrechtsbewegungen in Afrika und Lateinamerika gezeigt. «Einen Dokumentarfilm machen, heisst immer auch ihn nachher für die Auseinandersetzung nutzen, offen zu sein für Diskussionen, gerade auch mit anders Gesinnten», sagte Karl Saurer in einem Interview.

Karl Saurer während einer Drehpause beim Dokumentarfilm «Ahimsa».
Karl Saurer während einer Drehpause beim Dokumentarfilm «Ahimsa».

2020 ist Karl Saurer unerwartet gestorben. Sein Nachlass wird von Elena M. Fischli aufgearbeitet. Kürzlich ist dabei das Werkbuch: «Filme für den kreativen Widerstand. Zum Wirken Karl Saurers 1943-2020» erschienen.

Den Essays zum Werk des Filmemachers ist das folgende Zitat vorangestellt: «Ohne Utopie verkümmern Leidenschaft und Sehnsucht, Schaffensfreude und Sinn. Mische dich ein. Baue Dämme gegen Wellen von Mutlosigkeit, Gleichgültigkeit und Resignation. Vielleicht erfährst du nie, was dein Einsatz bewirkt, aber wenn du dich nicht einsetzt, bewirkst du nichts.»


Karl Saurer drehte «Ahimsa» mit einer indischen Filmcrew. | © Karl Saurer Filmproduktion
18. November 2023 | 07:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Buchvernissagen mit Filmvisionierung «Ruhe»

Flyer Buch und Film-Vernissage.

«Karl Saurer | Filme für den kreativen Widerstand», herausgegeben von Elena M. Fischli (u.a. mit einem Beitrag von Eva Meienberg).

An folgenden Daten finden in verschiedenen Kinos in der Deutschschweiz die Buchvernissage und die Vorführung des einst zensierten Filmes «Ruhe» aus dem Jahr 1970 statt:
Samstag, 18. November im Kino Schwyz um 20.15 Uhr in Anwesenheit von Elena M. Fischli.
Sonntag, 19. November im Kino Bourbaki in Luzern um 11.00 Uhr in Anwesenheit von Elena M. Fischli, Geri Krebs und Prof. em. Dr. Jakob Tanner.
Sonntag, 19. November im Kino Gotthard in Zug um 17.00 Uhr.
Weitere Spielorte und Vorführdaten unter diesem Link.(eme)