Karin Iten
Schweiz

Karin Iten fordert Bischof Joseph Bonnemain heraus

Bischof Joseph Bonnemain (73) und die Präventionsbeauftragte Karin Iten (51) sind oft einer Meinung. Nicht aber beim Thema sexuelle Selbstbestimmung. «Wer Gottes Plan bis ins Schlafzimmer der Menschen kennt, sollte sein Gottesbild nochmals überdenken», sagt Karin Iten.

Raphael Rauch

An der Medienkonferenz über den neuen Verhaltenskodex sind Differenzen zwischen Ihnen und Bischof Joseph Bonnemain klar geworden. Wo liegen Sie am weitesten auseinander?

Karin Iten*: Bei vielem besteht ein Konsens. Die grösste Knacknuss ist die Umsetzung der «sexuellen Selbstbestimmung». Im Verhaltenskodex steht: Die Sexualität hat verschiedene Sinndimensionen. Bei der Sexualität geht es nicht nur um Fortpflanzung, sondern auch um Lust, um Soziales, um Identität. Und sexuelle Selbstbestimmung heisst: Das entscheidet jede und jeder selbst. Wenn der Bischof Heterosexualität auf der Verhaltensebene als praktikabel bezeichnet und Homosexualität nicht, dann bedeutet dies ein Eingriff in die selbstbestimmte Praxis der Sexualität. Sexualität findet ja nicht nur im Kopf statt. 

Nicole Büchel, Karin Iten, Stefan Müller, Bischof Joseph Maria Bonnemain stellen den Verhaltenskodex vor.
Nicole Büchel, Karin Iten, Stefan Müller, Bischof Joseph Maria Bonnemain stellen den Verhaltenskodex vor.

Wo sehen Sie weitere Spannungen mit dem Bischof?

Iten: Der Verhaltenskodex will Berufliches und Privates entflechten, das ist ganz in Joseph Bonnemains Sinn. Das gehört zur Professionalität, denn auch ein Priester braucht Rückzugsräume und Privaträume. Das gehört auch zur Selbstfürsorge. Aber was nicht aufgeht darin: dem Idealbild des Evangeliums zu genügen mit einseitiger Definitionsmacht. Das hat etwas Vereinnahmendes. Die Ansprüche darin sind zu einseitig interpretiert und auch zu hoch – sie überhöhen und überfordern zugleich.

Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher auf dem Podium der Paulus-Akademie
Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher auf dem Podium der Paulus-Akademie

Sie haben an einer Diskussion in der Zürcher Paulus-Akademie gesagt: «Das Intimleben geht die Arbeitgeberin Kirche nichts an. Es ist beschämend und grenzverletzend, am Arbeitsplatz darüber Auskunft geben zu müssen. Zum Beispiel, ob ein Priester zölibatär lebt oder nicht. Oder ob eine Seelsorgerin geschieden oder lesbisch ist.» Warum ist so eine Haltung aus Ihrer Sicht Teil von Präventionsarbeit?

Iten: Ein solches Gespräch weist ein Machtgefälle auf und tangiert die verletzliche Intimsphäre. Und: Wo Druck ausgeübt wird oder gar Entscheide abgeleitet werden, resultiert daraus eine Kultur der Angst. Genau diese will Bischof Joseph nicht. Und doch existiert sie genau hier. Der einzige Ausweg ist heute dann oft der Aufbau von Lügengeschichten rund ums eigene Intimleben. Lügengebäude wiederum schaffen den Nährboden für Vertuschung. Und was eine Kultur der Vertuschung rund um sexuelle Gewalt bewirkt, haben wir zur Genüge gesehen.

«Damit müsste schon längst Schluss sein.»

Bei der Frage der bischöflichen Beauftragung, der «Missio canonica», spielt das Intimleben von Seelsorgerinnen und Seelsorgern immer wieder eine Rolle. Ist damit nun Schluss?

Iten: Aus den genannten Gründen müsste damit schon längst Schluss sein, nicht erst seit dem Verhaltenskodex. Der Verhaltenskodex benennt konkret, dass offensives Ausfragen durch Vorgesetzte nicht erlaubt ist. 

Bischof Joseph Maria Bonnemain
Bischof Joseph Maria Bonnemain

Bischof Joseph Bonnemain ist gegen offensives Ausfragen – aber trotzdem davon überzeugt: Auch das Intim- und Privatleben ist für die Kirche eine wichtige Entscheidungsgrundlage.

Iten: Mit seiner Unterschrift verpflichtet sich der Bischof, dass die Kompetenzen am Arbeitsplatz im Vordergrund stehen – und nicht das Intim- und Privatleben. Als Präventionsfachfrau werde ich immer wieder Kritik üben, wenn der intimste Bereich des Menschen am Arbeitsplatz eine Rolle spielt. Und ich rechne auch damit, dass die Kritik von unten lauter wird. Das ist gut so – Kritik ist erlaubt. Damit entmachtet der Verhaltenskodex auch Einzelpersonen, die sich ohne plausible Erklärung ausserhalb des Commitments bewegen.

Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht
Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht

Welches Gegenargument würden Sie gelten lassen?

Iten: Ich würde faire und begründete Argumente erwarten. Das Argument «Gottes Plan» oder «Wille des Papstes» zählt für mich nicht dazu, weil der Verweis auf Autorität in der Argumentationstechnik ein schwaches Argument ist. Zudem: Wer Gottes Plan bis ins Schlafzimmer der Menschen kennt, sollte sein Gottesbild nochmals überdenken und überlegen, ob es sich um Verwechslung mit einem Kleingeist handelt.

«Der Kulturwandel soll mit praktischem Verhalten im Alltag beginnen.»

Sie fordern einen Kulturwandel. Wie wollen Sie den erreichen?

Iten: Der Verhaltenskodex formuliert klare und überprüfbare Erwartungen. Im Fachjargon sprechen wir von «Checks» oder «Standards». Die Punkte im Verhaltenskodex sind so konkret gefasst, damit sie im Alltag besprechbar sind. Der Kulturwandel soll mit praktischem Verhalten im Alltag beginnen. Dazu gehören auch mehr Dialogräume, denn nur konkrete und ehrliche Auseinandersetzung führen ins Handeln, schützen damit Menschen und können eine Kultur rund um Macht verändern. 

Unterschrieben vom Bischof, den Generalvikaren und den Landeskirchen: der neue Verhaltenskodex.
Unterschrieben vom Bischof, den Generalvikaren und den Landeskirchen: der neue Verhaltenskodex.

Wie legen Sie jetzt genau los?

Iten: Wir bieten Schulungen an für die Fach- und Führungspersonen im Bistum, den Kantonalkirchen und Dekanaten. Und wir bieten Schulungen für grössere Gruppen von Mitarbeitenden an. Was wir nicht leisten können ist auf Ebene der Pfarreien und Kirchgemeinden Schulungen anzubieten. Deswegen arbeiten wir in Zukunft mit einem E-Learning-Modul. Und Präventionsarbeit ist auch Führungsaufgabe. Deshalb unterstützen wir Führungskräfte, damit diese in ihren Teams damit arbeiten.

Bischof Joseph Maria Bonnemain unterschreibt den Verhaltenskodex. Neben ihm Stefan Müller von der Biberbrugger Konferenz.
Bischof Joseph Maria Bonnemain unterschreibt den Verhaltenskodex. Neben ihm Stefan Müller von der Biberbrugger Konferenz.

Risikosituationen gibt es aber eher an der kirchlichen Basis als in der Verwaltung einer Kantonalkirche. Müssten Sie nicht stärker an die Basis?

Iten: An der Basis sind wir in den verbindlichen Kursen, die wir für Seelsorgende ausrichten – organisiert über die Kantonalkirchen. 

«Wenn Massnahmen nichts bringen, dann muss der Person gekündigt werden.»

Was passiert mit Priestern oder Theologinnen, die sich weigern, den Verhaltenskodex zu unterschreiben? Oder die ihn unterschreiben, sich aber nicht daran halten?

Iten: Wir brauchen ein klares Risiko-Management. Wer den Kodex pauschal ablehnt, der hat zu wenig Reflexionsfähigkeit und differenziert nicht. Der Kodex beinhaltet viele Punkte, die Qualität schaffen. Eine Person, die ein Nähe-Distanz-Problem hat, das sich nicht korrigieren lässt, darf man letztlich nicht auf Menschen loslassen. Wenn Massnahmen nichts bringen, dann muss der Person gekündigt werden. Und wenn es ein Priester ist, den man nicht kündigen kann, dann muss man ihn von der Seelsorge fernhalten. Es gibt andere Aufgaben im kirchlichen Kontext, die kein Risiko bergen.

Medienkonferenz in Chur.
Medienkonferenz in Chur.

Der Verhaltenskodex geht von einem Rot- und einem Graubereich aus. Was ist der Unterschied?

Iten: Im roten Bereich geht es um Übertretungen des Strafrechtes. Nur schon Verdachtsmomente im roten Bereich gehören in die Hände der staatlichen Strafverfolgungsbehörden. Der Verhaltenskodex thematisiert den Graubereich. Im Graubereich geht es um irritierendes Fehlverhalten, das zwar nicht strafrechtlich relevant ist, aber trotzdem korrigiert werden muss. Hier muss die Kirche selbst Qualität definieren.

«Solange es Machtgefälle gibt, wird Macht auch missbraucht werden.»

Ein Verhaltenskodex kann keine Übergriffe verhindern. Warum ist der Verhaltenskodex aber ein Beitrag, um das Risiko zu senken?

Iten: Solange es Machtgefälle gibt, wird Macht auch missbraucht werden. Wenn es aber die Möglichkeit gibt, angstfrei über Macht zu sprechen und an der Qualitätssicherung zu arbeiten, wird es für Täterinnen und Täter schwieriger, Situationen auszunutzen und zu manipulieren. Der Verhaltenskodex baut konkrete Schwellen ein gegen den Aufbau von Taten. 

Franziska Driessen-Reding ist ehemalige Zürcher Synodalratspräsidentin.
Franziska Driessen-Reding ist ehemalige Zürcher Synodalratspräsidentin.

Das Bistum Chur hat viele konservative Priester. Werden auch die eine Präventionsschulung machen und den Verhaltenskodex unterschreiben müssen?

Iten: Der Verhaltenskodex gründet auf Professionalität – und gilt unabhängig davon, ob man mit dem Etikett progressiv oder konservativ unterwegs ist. Auch die Schulungen zum Kodex sind für alle verbindlich. Die katholische Kirche im Kanton Zürich kontrolliert, wer teilnimmt – und das ist gut so. Jetzt werden hoffentlich auch noch die Personen aufgeboten, welchen die Schulung noch fehlt. Die anderen Bistumsregionen werden dies ebenfalls einführen. 

Monika Rebhan Blättler ist Präsidentin der Landeskirche Nidwalden.
Monika Rebhan Blättler ist Präsidentin der Landeskirche Nidwalden.

Sie sind auch für die Bischofskonferenz tätig. Sollte der Verhaltenskodex in anderen Diözesen Schule machen?

Iten: Der Verhaltenskodex gehört nach heutigem Stand zum «State of the Art» der Prävention und ist in anderen Segmenten das Herzstück des Risikomanagements, etwa in Schulen, Kitas, Institutionen. Der Verhaltenskodex ist keine Erfindung der Kirche. Deshalb: Er muss Kirche machen! Meine Funktion in der Bischofskonferenz ist ohne Entscheidungsbefugnis und zudem niederprozentig. Ich kann als Präventionsfachfrau Themen einbringen, mehr nicht. Auf nationaler Ebene stelle ich kritisch fest, dass die Prävention zu wenig Strategie und Koordination hat. Das muss sich ändern.

* Karin Iten (51) ist Präventionsbeauftragte des Bistums Chur und Co-Leiterin der Geschäftsstelle des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz.


Karin Iten | © Christian Merz
5. April 2022 | 17:31
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