Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher
Schweiz

Nicolas Betticher: «Die Bischöfe könnten schon jetzt klare Zeichen setzen»

Der Berner Pfarrer Nicolas Betticher hofft auf ein Drittes Vatikanisches Konzil. Doch schon jetzt könnten die Schweizer Bischöfe Reformen anstossen, sagt er in der Zürcher Paulus-Akademie. Die Präventionsexpertin Karin Iten kündigt für das Bistum Chur einen Verhaltenskodex an. Der dürfte Konsequenzen für die kirchliche Personalpolitik haben.

Raphael Rauch

Nicolas Betticher hat eine steile Kirchenkarriere hinter sich: Er war Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz und ist später vom Kanzler bis zum Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg aufgestiegen.

«So kann es nicht weitergehen»

Als Charles Morerod Bischof wurde, musste Nicolas Betticher gehen. Schon länger ist er Pfarrer von Bruder Klaus in Bern, nun auch im Bistum Basel inkardiniert. Letztes Jahr hat er ein Buch veröffentlicht. Es heisst: «Trotz allem: Macht, Missbrauch, Verantwortung in der katholischen Kirche: Selbstreflexion eines Priesters.»

Nicolas Betticher (links) mit Bischof Charles Morerod im Jahr 2011
Nicolas Betticher (links) mit Bischof Charles Morerod im Jahr 2011

Über seine Motivation für sein Buch sagt er am Dienstagabend in der Zürcher Paulus-Akademie: «So kann es nicht weitergehen.»

Betticher will auspacken

Nicolas Betticher begrüsst die geplante Studie zur Aufarbeitung des Schweizer Missbrauchskomplexes. Wenn die Historikerinnen der Universität Zürich auch ihn befragen wollen, stehe er zur Verfügung. «Vieles ist in den Archiven nicht enthalten. Mündliche Quellen sind notwendig», sagt Nicolas Betticher. Als Kanzler, Offizial und Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg habe er viel mitbekommen. Er befürchtet, dass auch heute noch «nicht alles korrekt behandelt wird in Sachen Machtmissbrauch aller Art».

Csongor Kozma, Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher in der Paulus-Akademie Zürich.
Csongor Kozma, Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher in der Paulus-Akademie Zürich.

Ein Beispiel für Machtmissbrauch? Erst vor wenigen Wochen habe er für einen verzweifelten Priester samstagnachts die Ambulanz gerufen: «Er hat vom Bischof kein faires Verfahren bekommen und gab klare Signale, sich umbringen zu wollen.»

«Die Bischöfe könnten das Amt des obersten Richters im Bistum abgeben»

Nicolas Betticher ist Kirchenrechtler. In seinem Buch beschreibt er, wie er vom strammen Konservativen zum Pragmatiker mit Römerkragen wurde. Nicolas Betticher ist froh, dass Papst Franziskus einen synodalen Prozess angestossen hat. Er hofft, dass dieser in ein Drittes Vatikanisches Konzil mündet: «Ein Konzil kann Vieles verändern, auch die Moraltheologie der Kirche, die heute oft nicht mehr verstanden wird, weil sie eben am Menschen, an seinen Bedürfnissen, an seiner ontologischen Realität vorbeisieht.»

Nicolas Betticher
Nicolas Betticher

Doch Nicolas Betticher will nicht nur auf ein Konzil und auf Rom warten. Er ist überzeugt: Die Bischöfe könnten schon jetzt klare Zeichen setzen. «Sie könnten zum Beispiel entscheiden, dass sie das Amt des obersten Richters im Bistum abgeben. Dann gäbe es schon ein bisschen mehr Gewaltenteilung in der Kirche.»

«Die Notlage kann Vieles legitimieren»

Und wie will er das mit dem Kirchenrecht in Einklang bringen? «Die Notlage kann Vieles legitimieren. Ja, ein Bischof ist in einer Notlage, wenn er einen Priester verurteilen muss und gleichzeitig sein spiritueller Vater ist und für sein Wohl aufkommen muss. Das geht nicht mehr auf. Da müssen wirklich Lösungen gefunden werden.»

Papst Franziskus empfängt die Bischöfe der Schweiz 2021 im Vatikan.
Papst Franziskus empfängt die Bischöfe der Schweiz 2021 im Vatikan.

Bislang hat kein Bischof diesen Schritt getan. Warum, weiss Nicolas Betticher nicht: «Vielleicht befürchten sie, Macht abzugeben und dabei die Einheit des Bistums zu tangieren. Aber dies ist eben eine falsche Sicht der Ekklesiologie. Das Splitting der Ämter kann hier zukunftsorientiert Antworten bieten.»

«Nährboden für Machtmissbrauch und Vertuschung».

Der Kirchenrechtler kritisiert auch: Noch heute würden Schweizer Bischöfe ausserordentliche Verfahren im Kirchenrecht anwenden. «Beim ausserordentlichen Verfahren kann der Bischof alleine entscheiden. Er muss niemanden wirklich fragen, niemanden hinzuziehen. Ein paar Akten, ein paar Zeugnisse, dann macht er den Bericht.» Solche ausserordentlichen Verfahren seien ein «Nährboden für Machtmissbrauch und Vertuschung».

Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.
Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.

Wie kann es sein, dass trotz der globalen Missbrauchskrise noch nicht alle Schweizer Bistümer die Richtlinien der Bischofskonferenz umgesetzt haben – und etwa eigene Präventionsbeauftrage ernannt haben? «Ich finde das beschämend», sagt Nicolas Betticher. «Es zeigt, dass die Präventionsarbeit noch nicht oberste Priorität ist.» Am Geld könne das nicht scheitern: «Die Bischöfe haben Geld. Und wenn sie kein Geld haben, dann gibt es genügend Stiftungen, die das übernehmen würden.»

«Die anderen Bistümer müssen nachziehen»

Karin Iten ist zusammen mit Stefan Loppacher Präventionsbeauftragte des Bistums Chur und bei der Schweizer Bischofskonferenz. Sie hat kein Verständnis dafür, warum nur das Bistum Chur eine 100-Prozent-Stelle für die Präventionsarbeit geschaffen hat: «Die anderen Bistümer müssen nachziehen – und zwar mit angemessenen Stellenprozenten. Andernfalls bleibt die Funktion eine Farce», sagt Karin Iten.

Karin Iten
Karin Iten

Doch auch im Bistum Chur gebe es viel zu tun. «Wir kontrollieren noch nicht, wer eine Schulung zur Präventionsarbeit absolviert hat. Das muss sich ändern. Dafür braucht es Führungspersonen, die das einfordern.»

Aussagen mit Zündstoff

Karin Iten informiert über einen neuen Verhaltenskodex zum Umgang mit Macht, der künftig für das Bistum Chur gilt. «Er schafft verbindliche Qualitätsstandards.» Der neue Verhaltenskodex, der offiziell im April vorgestellt werden soll, enthält Aussagen mit Zündstoff.

Die verbotene Liebe eines Priesters: Rachel Ward und Richard Chamberlain in "Dornenvögel".
Die verbotene Liebe eines Priesters: Rachel Ward und Richard Chamberlain in "Dornenvögel".

So gibt es den Punkt: «Ich anerkenne die sexuellen Rechte als Menschenrechte, insbesondere das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung.» Auch gibt es den Passus: «In jedem Fall unterlasse ich offensives Ausfragen zum Intimleben und zum Beziehungsstatus. Dies gilt auch für Gespräche, die ich als Vorgesetzte*r führe.»

«Das Intimleben geht die Arbeitgeberin Kirche nichts an»

Steht Bischof Joseph Bonnemain hinter dem neuen Verhaltenskodex? «Ja, er befürwortet ihn ausdrücklich und wird ihn unterschreiben», sagt Karin Iten. Dabei widerspricht der Verhaltenskodex der gängigen kirchlichen Personalpolitik. Bei der Vergabe von bischöflichen Beauftragungen in den Generalvikariaten ist das Privatleben durchaus immer wieder Thema.

Bischof Bonnemain hört jungen Erwachsenen an der synodalen Versammlung zu
Bischof Bonnemain hört jungen Erwachsenen an der synodalen Versammlung zu

«Das Intimleben geht die Arbeitgeberin Kirche nichts an. Es ist beschämend und grenzverletzend, am Arbeitsplatz darüber Auskunft geben zu müssen. Zum Beispiel, ob ein Priester zölibatär lebt oder nicht. Oder ob eine Seelsorgerin geschieden oder lesbisch ist», sagt Karin Iten.

Weihbischof Betticher? «Non, Merci»

Unter den Besucherinnen und Besuchern in der Paulus-Akademie war auch Max Stierlin, ein Urgestein der Zürcher Katholiken. Er wünscht sich mehr Priester wie Nicolas Betticher in der katholischen Kirche, die selbstkritisch auf den Klerikalismus blicken.

«Machtgehabe kann auch aus einer Schwäche entstehen, aus Einsamkeit und der Angst zu versagen. Nicolas Betticher wirkt auf mich als ein Mahner, aber mit einem grossen Herzen und viel Empathie für die Menschen», sagt Max Stierlin. Nicolas Betticher, ein möglicher Weihbischof für das Bistum Basel? Seine Antwort: «Non, Merci.»

Die Veranstaltung in der Paulus-Akademie fand unter der Leitung von Direktor Csongor Kozma in Zusammenarbeit mit kath.ch statt. Die Zürcher Synodalratspräsidentin Franziska Driessen-Reding musste ihre Teilnahme auf dem Podium krankheitsbedingt absagen.

Die nächste Veranstaltung zum synodalen Prozess in der Paulus-Akademie Zürich ist am 5. April. Dann geht es um Walter Kirchschlägers Buch «Wie aus Laien Kirche wird: Als Getaufte gemeinsam auf dem Weg». Mit Walter Kirchschläger werden RKZ-Präsidentin Renata Asal-Steger und Franziska Driessen-Reding diskutieren. Mehr dazu hier.


Karin Iten, Raphael Rauch, Nicolas Betticher | © Lukas Bernays
10. März 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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