Verkäuferin mit "Pussy Lolis".
Story der Woche

«Jungfräulichkeit ist ein spiritueller Zustand, der nicht durch einen Eingriff wiederhergestellt werden kann»

Kein Blut in der Hochzeitsnacht bedeutet in manchen Kulturkreisen: «Die Frau war keine Jungfrau – sondern eine Schlampe.» Auch in der Schweiz lassen sich manche Frauen für 2000 Franken das Jungfernhäutchen zunähen. Biologisch macht das keinen Sinn. Eine Genfer Ärztin will die Operation verbieten. 

Silvan Beer

Archaisches Frauenbild trifft auf moderne Medizin: Auch in der Schweiz begegnen Ärztinnen und Ärzte immer wieder Frauen, die sich das Jungfernhäutchen chirurgisch wiederherstellen lassen möchten. 

Populäre Irrtümer über Jungfrauen

Hinter dem Eingriff stehen problematische Vorstellungen von Sex, Geschlechterrollen und Jungfräulichkeit, die in keiner Weise dem wissenschaftlichen Anspruch entsprechen. Ärztinnen und Ärzte arbeiten an verbindlichen Richtlinien, um Aufklärung, Sicherheit und eine adäquate medizinische Versorgung der Frauen gewährleisten zu können.

Protest in Ägypten im Jahr 2012 gegen Jungfräulichkeitstests.
Protest in Ägypten im Jahr 2012 gegen Jungfräulichkeitstests.

Das Hymen, eine feine, elastische Schleimhautmembran, die den Scheideneingang ringförmig umgibt, ist zum Politikum geworden. Hartnäckig hält sich der Mythos, dass das Hymen beim ersten Geschlechtsverkehr reisst und blutet. Ein intaktes Hymen soll also eine Garantie für die Jungfräulichkeit der Frau darstellen. 

Von Ächtung bis Mord: Frauen voller Angst

Mittlerweile haben Studien gezeigt, dass diese Vorstellungen haltlos sind. Das Hymen bleibt oft intakt, obwohl die Frau Sex hat. Und Frauen, die noch nie Geschlechtsverkehr gehabt haben, können ein gerissenes Hymen haben. Ein anderer Mythos lautet, ein Mann könne spüren, ob eine Frau noch Jungfrau ist oder nicht. 

So unterschiedlich können Jungfernhäutchen aussehen, wie die Genfer Forscherin Michal Yaron zeigt.
So unterschiedlich können Jungfernhäutchen aussehen, wie die Genfer Forscherin Michal Yaron zeigt.

Das kulturelle Konzept von Jungfräulichkeit als sexuelle Unberührtheit der Frau wird an einer körperlichen Beschaffenheit aufgehängt, die keiner wissenschaftlichen Untersuchung standhält. In patriarchalen Kulturen, in denen der Wert einer jungen Frau massgeblich von ihrer Jungfräulichkeit abhängt, werden diese Tatsachen kaum zur Kenntnis genommen. Die Angst der Frauen bleibt. Denn wer diesen Vorstellungen nicht entspricht, ist massiver sozialer Stigmatisierung ausgesetzt. Diese kann von familiärer Ächtung bis Mord reichen.

Street-Art-Protest in Ägypten gegen Jungfräulichkeitstests.
Street-Art-Protest in Ägypten gegen Jungfräulichkeitstests.

Ein Angebot der plastischen Chirurgie

Je wichtiger die Vorstellung von Jungfräulichkeit, desto grösser der Wunsch, diese operativ wiederherzustellen. Viele Schönheitskliniken bieten die umstrittene Operation an. So findet man zwischen «Brazilian Butt Lifting» und Brustimplantaten nicht selten die Hymenoplastie im Angebot der plastischen Chirurgie. 

Tiger, Häschen, Schmetterling, Hai – die namenlose Vulva erhält im Film "Die göttliche Ordnung" viele Spitznamen.
Tiger, Häschen, Schmetterling, Hai – die namenlose Vulva erhält im Film "Die göttliche Ordnung" viele Spitznamen.

Dabei sind sich die Ärztinnen und Ärzte im Klaren, dass es sich hierbei nicht um eine klassische Schönheitsoperation handelt. Der Arzt Christian Köhler ist Geschäftsleiter der Schönheitsklinik «prevention-center» in Zürich. Im Gespräch mit kath.ch berichtet er von seinen Beratungsgesprächen zur Hymenoplastie. 

Kapsel mit roter Farbe in der Vagina simuliert Blutung

Er versichert, in den Gesprächen über die biologischen Fakten aufzuklären und herauszufinden, ob die Frau unter externem Druck handle. Ebenfalls versuche er, Alternativen zu einem Eingriff vorzuschlagen. Denn oftmals dominiere die Angst, in der Hochzeitsnacht nicht zu bluten. Manche Frauen müssten sich dadurch den Vorwurf gefallen lassen, keine Jungfrau gewesen zu sein. Konkret: eine «Schlampe» zu sein.

Göttliche Vulva: Das Kunstwerk "Diva" der brasilianischen Künstlerin Juliana Notari.
Göttliche Vulva: Das Kunstwerk "Diva" der brasilianischen Künstlerin Juliana Notari.

Laut Christian Köhler gibt es verschiedene Tricks, um eine Blutung zu simulieren. So kann eine Kapsel mit roter Farbe in der Vagina platziert werden. Oder man sticht sich mit einer Nadel in den Finger, um eine Blutspur auf dem Laken herbeizuführen.

OP kostet 2000 Franken

Trotz dieser Tricks entscheiden sich Frauen oft dennoch für eine Operation, sagt Christian Köhler. Der soziale Druck und die Angst vor einer vermeintlichen Blamage seien zu gross. 

Ein "Vagina dentata"-Schmuckanhänger.
Ein "Vagina dentata"-Schmuckanhänger.

Bei einer Operation wird zunächst das Hautgewebe am Hymen durch kleine Schnitte aufgeraut und dann enger zusammengenäht, um beim nächsten Geschlechtsverkehr eine Blutung herbeizuführen. Es ist ein kleiner Eingriff, der mit lokaler Betäubung durchgeführt wird und etwa 2000 Franken kostet. Nach 30 Minuten ist das Ganze vorbei, doch die medizinethischen Vorbehalte sind gross.

Mediziner im Dilemma

Christian Köhler spricht von einem Dilemma. Als Mediziner lehnt er die Operation ab, denn sie ist medizinisch nicht notwendig. Aber er weiss um die massive psychische Belastung, unter der manche Frauen stehen. Deswegen könne er es gegenüber seinem Gewissen rechtfertigen, die Operation durchzuführen. Dies sei im Einklang mit dem hippokratischen Eid, wonach Gesundheit und Wohlergehen der Patientin stets im Zentrum stehen müssen.

Vulva-Protest in Freiburg im Breisgau: ein Transparent von "Maria 2.0".
Vulva-Protest in Freiburg im Breisgau: ein Transparent von "Maria 2.0".

Michal Yaron ist Gynäkologin und Koautorin von «Hymen and virginity: What every paediatrician should know». Sie arbeitet am Universitätsspital Genf und lehnt Christian Köhlers Haltung vehement ab. 

Reaktionäres Frauenbild

Sie teilt die Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass eine überflüssige Operation an den Genitalien als Genitalverstümmelung zu werten sei. Und sie ist überzeugt, dass Hymenoplastie patriarchalen Vorstellungen in die Hände spiele – und nicht den Interessen der Frau diene. 

Die Schöpfung - hier in der Kapelle des Uni-Spitals Zürich.
Die Schöpfung - hier in der Kapelle des Uni-Spitals Zürich.

«Ich habe noch nie und werde niemals eine solche Operation durchführen», sagt sie im Gespräch mit kath.ch. Diese Vorstellungen seien reaktionär und hätten in einer modernen medizinischen Welt keinen Platz. 

Kontrolle über den Körper einer Frau

Auch wenn es natürlich ein erstes Mal gibt – die Vorstellung eines intakten Jungfernhäutchens sei ein Konstrukt: «Jungfräulichkeit ist ein spiritueller Zustand, der nicht durch einen Eingriff wiederhergestellt werden kann.» Es sei «absurd und gefährlich», wie versucht werde, Kontrolle über den Körper einer Frau auszuüben. Die Medizin dürfe sich diesen Vorstellungen nicht unterwerfen. «Wir müssen diese Dynamik durchbrechen – mit Ärztinnen und Ärzten, Eltern und Lehrpersonen sprechen. Man kann den Wert einer Frau nicht an diesem kleinen Häutchen festmachen.»

"Love is love."
"Love is love."

Michal Yaron und ihr Team arbeiten zurzeit an einer Umfrage unter Ärztinnen, Gynäkologen und Medizinstudierenden, um die Causa Hymenoplastie zu evaluieren. Danach sollen verbindliche Richtlinien entwickelt werden, um Mythen rund um Jungfräulichkeit und ihre angebliche operative Wiederherstellung aus der modernen Medizin zu verbannen. 

Forderung nach klaren Richtlinien

Michal Yaron findet, dass solche Eingriffe verboten gehören. Der Schutz der Frauen, die diesem Druck ausgesetzt sind, müsse mit anderen Mitteln statt einer Operation gewährleistet werden. Dazu brauche es wissenschaftlich fundierte Bildung der medizinischen Fachkräfte, Aufklärungsarbeit, Zugang zu sicheren Unterkünften und Betreuung für gefährdete Frauen. Und nicht zuletzt klare und einheitliche Richtlinien für Ärztinnen und Ärzte. 


Verkäuferin mit «Pussy Lolis». | © Keystone
16. Dezember 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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