Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus
Schweiz

Jonathan Kreutner – «Hassrede muss rechtlich griffiger bekämpft werden»

Mit den Terroranschlägen der Hamas in Israel und dem Krieg in Gaza ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle im letzten Jahr in der Schweiz dramatisch in die Höhe geschnellt. Das zeigt der jährliche Antisemitismusbericht des SIG und der GRA Stiftung gegen Rassismus.

Sarah Stutte

2023 wurden in der Deutschschweiz und in der italienischen Schweiz insgesamt 1130 antisemitische Vorfälle gemeldet oder beobachtet. So steht es im Antisemitismusbericht 2023, der am Dienstag vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) veröffentlicht wurde. Im Vorjahr wurden noch 910 Vorfälle verzeichnet.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds
Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds

Der jährliche Bericht für das Jahr 2023 verzeichnet dabei eine Zunahme dieser Vorfälle sowohl Online wie auch physisch. «Bei den Vorfällen in der sogenannten realen Welt mussten wir eine massive Zunahme, fast eine Verdreifachung, feststellen. Bei den Onlinevorfällen war die Zunahme mit 14 Prozent viel kleiner. Es ist jedoch zu beachten, dass fast die Hälfte aller Onlinevorfälle in den knapp drei Monaten nach dem 7. Oktober stattfanden», sagt dazu Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG).

Gaza-Krieg als «Trigger»

Damit spricht er auch schon einen wesentlichen Grund für die Zunahme der antisemitischen Vorfälle an – die Terrorangriffe der radikalislamischen Hamas vom Oktober 2023 und den darauffolgenden Krieg im Gaza-Streifen. Im Bericht werden diese Ereignisse als «Trigger», also Auslöser, bezeichnet. Dadurch wurden unterschiedliche Gruppen getriggert, teilte der SIG weiter mit. Darunter seien sowohl rechts- als auch linksextreme und pro-palästinensische Gruppierungen, genauso wie solche aus der Mitte der Gesellschaft.

Die Terrorgruppe Hamas erschoss zahlreiche Besucherinnen und Besucher eines Festivals.
Die Terrorgruppe Hamas erschoss zahlreiche Besucherinnen und Besucher eines Festivals.

Der SIG registriert die Vorfälle in der deutschen, italienischen und rätoromanischen Schweiz. Auf die Frage, in welchen Landesteilen sich die stärkste Zunahme zeigte, erklärt Jonathan Kreutner: «Die meisten Vorfälle gibt es in Zürich, Basel und Bern, da es dort grössere jüdische Gemeinden gibt. Es gab aber keinen Kanton, in dem die Zunahme speziell grösser gewesen ist».

Schwerwiegendstes Hassverbrechen seit 20 Jahren

Von den 155 Vorfällen in der realen Welt wurden insgesamt 114 nach dem 7. Oktober registriert – was 74 Prozent aller Vorfälle 2023 entspricht. Darunter fallen zehn direkte physische Tätlichkeiten gegen jüdische Menschen in der Deutschschweiz und der italienischsprachigen Schweiz.

Orthodoxe Juden in der Zelgstrasse
Orthodoxe Juden in der Zelgstrasse

Als «schwerwiegendstes Hassverbrechen seit zwei Jahrzehnten» beurteilt das SIG die versuchte Tötung eines Juden in Zürich. Gemeint ist damit die Messerattacke auf einen 50-jährigen orthodoxen Juden, begangen von einem 15-jährigen Schweizer mit tunesischen Wurzeln, der sich in einem Bekennervideo als IS-Anhänger zu erkennen gab.

Zunahme an Beschimpfungen

Da dieser Vorfall erst kürzlich – nämlich Anfang März dieses Jahres – geschehen ist, steht er noch nicht im vorliegenden Bericht. Genauso wenig zählt der Vorfall in Davos von Mitte Februar 2024 dazu, bei dem ein Bergrestaurant mit einem Aushang angekündigte, keine Ski oder Schlitten mehr an Jüdinnen und Juden verleihen zu wollen. Unterdessen leitete die Kantonspolizei entsprechende Ermittlungen ein.

Dafür stehen darin andere – nicht minder bedenkenswerte antisemitische Angriffe – im Antisemitismusbericht 2023. So wurde im August auf einem Parkplatz in Saas-Fee VS ein jüdischer Tourist von einem Einheimischen beschimpft. Letzterer stieg danach in sein Auto ein und versuchte, den Touristen zu überfahren. Und eine jüdische Schülerin wird im Juni im Kanton Bern von mehreren Mitschülern beschimpft mit den Worten: «Jüdin, Jüdin. Wir müssen die Juden besiegen für das Deutsche Reich.» Im Vergleich zu 2022 nahmen die Beschimpfungen ebenfalls zu – von 16 auf 47 Fälle.

Latenter Antisemitismus

Auch das SIG selbst bleibt nicht von Drohungen verschont. Im Oktober bekommt der Israelitische Gemeindebund eine E-Mail, in der steht: «Wir werden euch jagen und alle töten. So lange, bis von euch niemand mehr lebt». Vorfälle, die aufrütteln. Warum ist die Hemmschwelle derart gesunken, antisemitische Parolen in der Öffentlichkeit zu äussern? Jonathan Kreutner erklärt diese Zunahme auch hier mit dem neuerlichen Ausbruch des Gaza-Kriegs.

Antisemitische Parolen auf der Türe der Synagoge von Biel, Februar 2021: "Sieg Heil", "Judenpack" und das Hakenkreuz.
Antisemitische Parolen auf der Türe der Synagoge von Biel, Februar 2021: "Sieg Heil", "Judenpack" und das Hakenkreuz.

«Der Antisemitismus ist bei vielen Menschen immer latent vorhanden. Doch ein so emotionaler Trigger, wie wir ihn mit dem 7. Oktober und dem Gaza-Krieg sehen, verleitet auch mehr Menschen dazu, ihrem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Je mehr Menschen sehen, dass es nicht oft Gegenrede gibt gegen antisemitische Aussagen, desto mehr fühlen sich bestärkt, selbst solche Aussagen zu tätigen», sagt der SIG-Generalsekretär.

Schmierereien statt Sachbeschädigungen

Ebenfalls eine Zunahme nach den Terrorangriffen der Hamas gab es – neben den tätlichen Angriffen – in den Kategorien Schmierereien, Auftritte und Plakate sowie Banner. So wurden laut Jonathan Kreutner 42 antisemitische Schmierereien registriert, jedoch keine Sachbeschädigungen.

Die Mauer des jüdischen Friedhofs in Basel wurde mit antisemitischen Parolen beschmiert.
Die Mauer des jüdischen Friedhofs in Basel wurde mit antisemitischen Parolen beschmiert.

Auch in der digitalen Welt häuften sich die antisemitischen Vorfälle nach dem 7. Oktober, auch wenn sie im Vergleich zum Vorjahr nur geringfügig zunahmen. 459 von 975 Fällen (Stand 2022: 853 Fälle) ereigneten sich nach dem 7. Oktober – dies entspricht einem Anteil von 47 Prozent aller Vorfälle des Jahres 2023. «Auf Telegram, X und Facebook konnte wir eine Zunahme der Vorfälle registrieren. Unser Monitoring kann jedoch nicht den Gesamtbereich dieser Plattformen abdecken», so Jonathan Kreutner.

Dringender Handlungsbedarf

Nach der Veröffentlichung des Berichts und der aktuellen Messerattacke in Zürich sieht der Generalsekretär dringenden Handlungsbedarf. «Die gegenwärtige Lage mit dem ersten fast tödlichen Angriff auf einen Juden seit Jahrzehnten ist derart gravierend, dass nun eine Zäsur in der schweizerischen Politik zur Antisemitismusbekämpfung erfolgen muss. Es muss gehandelt werden», sagt er.

Und er fordert: «Wir brauchen mehr staatliches Engagement bei Analyse und Monitoring, Hassrede muss rechtlich griffiger bekämpft werden können, Social Media-Plattformen müssen zur Verantwortung gezwungen werden, das Verbot von Nazi-Symbolen muss nun endlich kommen und die Präventionsarbeit in den Schulen muss gestärkt werden. Das alles gehört zusammen und darum ist eine Antisemitismusstrategie nötig. Hier ist der Bundesrat gefragt».

Plakat der GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus
Plakat der GRA, Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus

Er hoffe nicht, dass das Gewaltpotenzial gegen jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Schweiz noch zunehme, könne aber gleichzeitig nicht ausschliessen, «dass es zu keinen weiteren Gewalttaten kommt». Aktionen wie die «Tage gegen Rassismus», die rund um den 21. März in verschiedenen Schweizer Kantonen stattfinden, seien deshalb wichtig. «Es ist immer gut, das Problem Rassismus und Antisemitismus zu thematisieren. Da können auch solche Aktionstage helfen», sagt Kreutner.

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Bekenntnis zu Israel und gegen Antisemitismus | © Sabine Zgraggen
12. März 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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