Isabel Vasquez
Schweiz

Isabel Vasquez: «Die Mission ist für manche Menschen der einzige Ort, wo sie sich nicht als Migranten fühlen»

Seit einem Jahr ist Isabel Vasquez Nationaldirektorin von Migratio. Das heisst, sie leitet den Bereich Migration in der römisch-katholischen Kirche. In der neuen Folge des Podcasts «Laut + Leis» erklärt sie, was es braucht, damit Ortspfarreien und Missionen aufeinander zugehen. Sie sagt, wie Migrantinnen und Migranten auf die Missbrauchsstudie reagieren, und sie spricht über Gemeinsamkeiten von Fussball und Katholizismus.

Sandra Leis

«Traurigkeit, Hilflosigkeit und die Frage, wie geht es weiter mit unserer Kirche?» So fasst Isabel Vasquez die Reaktionen von Migrantinnen und Migranten auf die Pilotstudie zu den Missbrauchsfällen zusammen. Und sie sagt, dass pro Tag zwei bis fünf Menschen das Angebot «Help me: Hilfe bei sexuellem Missbrauch» von Migratio in Anspruch nehmen.

Sie weiss bis jetzt nur von zwanzig Menschen mit Migrationsgeschichte, die aus der römisch-katholischen Kirche austreten, allerdings auch in Zukunft die Programme für die Sprachgemeinschaften unterstützen wollen. Viele andere Gläubige warten auf weitere Informationen und wollen wissen, was die Untersuchungen ergeben.

Mission ist Heimat

Denn für viele Migrantinnen und Migranten sei die Mission nicht nur eine Kirche wie eine Ortspfarrei. «Die Mission bietet ihnen die Möglichkeit, in der Muttersprache zu sprechen und die Kultur zu erleben. Mission ist Heimat, und für manche Menschen ist sie der einzige Ort, wo sie sich nicht als Migranten fühlen.»

Migratio fordert Transparenz

Isabel Vasquez hat spanische Wurzeln: Sie ist in Guatemala aufgewachsen und migrierte dann mit ihren Eltern und fünf Schwestern nach Spanien. Seit rund zwanzig Jahren lebt sie in der Schweiz, und seit gut einem Jahr ist sie Nationaldirektorin von Migratio, der Dienststelle der Schweizer Bischofskonferenz für Migration.

Das Team von Migratio
Das Team von Migratio

Das heisst, Vasquez ist direkt den Bischöfen unterstellt. Ist das angesichts des Umstandes, dass fünf der sechs amtierenden Bischöfe mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert sind, ein Problem? Die Direktorin antwortet diplomatisch: «Es ist nicht an uns Mitarbeitenden, ein Urteil zu fällen. Doch wir erwarten Transparenz und Klarheit.»

Angst auf beiden Seiten

Isabel Vasquez ist Pädagogin, Psychologin und hat langjährige Erfahrung in der interkulturellen und interpastoralen Kirchenarbeit. Ihr Auftrag als Nationaldirektorin von Migratio ist es, das Miteinander von Sprachgemeinschaften und Pfarreien vor Ort zu stärken.

Isabel Vasquez
Isabel Vasquez

Doch das löst Angst aus – auf beiden Seiten. «Menschen mit Migrationsgeschichte fürchten sich, weil sie meinen, ihre Missionen würden geschlossen und sie müssten sich vollumfänglich anpassen», sagt Vasquez. «Und Ortspfarreien haben Angst, weil sie an ihren Traditionen festhalten wollen.»

Miteinander heisst nicht Assimilation

Diese Mauer aus Angst will Isabel Vasquez sprengen. Sie sieht sich als Brückenbauerin: «Unser Ziel ist ein vermehrtes Miteinander und ein wertschätzendes Nebeneinander.» Es brauche beides, die Pflege der eigenen Kultur und das gemeinsame Erleben des Katholizismus. «Es geht nicht um Assimilation, sondern um Partizipation und Bereicherung.»

Diese Stossrichtung ist ausführlich beschrieben im Gesamtkonzept mit dem Titel «Auf dem Weg zu einer interkulturellen Pastoral» (zu finden auf der Website von Migratio). Ende 2020 haben die Schweizer Bischofskonferenz und die Römisch-Katholische Zentralkonferenz dieses Konzept präsentiert – jetzt geht es darum, es im spirituellen Alltag umzusetzen.

40 % der Gläubigen mit Migrationshintergrund

Nach ihrem ersten Jahr als Nationaldirektorin von Migratio stellt Isabel Vasquez fest: «Die interkulturellen Kompetenzen sind oft nicht vorhanden. Weder bei den Mitgliedern der Ortspfarreien noch bei den Menschen mit Migrationshintergrund.»

Isabel Vasquez und ihr Team von Migratio in Freiburg
Isabel Vasquez und ihr Team von Migratio in Freiburg

Was es jetzt brauche, sei eine Sensibilisierungskampagne und die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen. «Denn 40 % der römisch-katholischen Gläubigen in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund. Das sind keine sogenannten Gastarbeiter, die wieder in ihre Ursprungsländer zurückkehren, sondern Menschen, die sich eine Existenz in der Schweiz aufbauen.»

Dietikon, Bern und Yverdon-les-Bains

Auf die Frage, ob das interkulturelle Miteinander bereits irgendwo funktioniere, nennt Isabel Vasquez gleich drei Beispiele – Dietikon: «Das ist eine grosse Pfarrei, die viele Projekte macht in mehreren Sprachen und auch viele Jugendliche miteinbezieht.» Pfarrei Bruder Klaus in Bern: «Hier gibt es viele Programme für Migranten mit Leuten der Ortspfarrei.»

Und in Yverdon-les-Bains gibt es eine Pfarrei, die sogar interkonfessionell sei. «Dort arbeitet ein chaldäischer Priester, und alle Programme und Feste werden zusammen und partizipativ durchgeführt.»

Fussball und Katholizismus

Vasquez liebt Fussball, und sie sagt: «Fussball fasziniert mich genau wie Religion.» Im Fussball gebe es Stars, «aber wenn sie einen Match gewinnen wollen, müssen sie zusammenspielen». Ähnlich sei es im Katholizismus: «Ich habe meine Kompetenzen und meine Spiritualität. Doch um zu überleben, brauche ich eine Gemeinschaft, die miteinander unterwegs ist und die Stärken jedes Einzelnen wertschätzt.» 

Dieses Ziel hat Isabel Vasquez auch bei ihrer täglichen Arbeit vor Augen.


Isabel Vasquez | © Sandra Leis
6. Oktober 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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