Im Foto festgehalten: Papst Pius XII. verkündet 1950 Kraft seiner Unfehlbarkeit ("ex cathedra") das Dogma der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel.
Vatikan

Historiker wollen keine Heiligenbilder polieren

Am 2. März öffnet der Vatikan die Archive aus dem Pontifikat von Pius XII. (1939-1958) für die Forschung. Dies belebte im Vorfeld auch wieder den Vorwurf des Dramatikers Rolf Hochhuth von einem «Schweigen» des Papstes angesichts der Judenverfolgung.

Burkhard Jürgens

Herr Baumeister, können Sie die Aufregung um die Öffnung der Archive verstehen?

Martin Baumeister*: Ja und nein. Wie oft, ist die Aufregung medial angeheizt. Auf der anderen Seite übergreifen die zwei Jahrzehnte des Pontifikats Pius’ XII. eine zentrale Episode des 20. Jahrhunderts: die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Schoah, dann die Zeit der Neuordnung bis 1958, also die erste Phase des Kalten Krieges, die Dekolonisierung und die Entstehung einer neuen globalen Ordnung. Dabei spielt der Heilige Stuhl durchaus eine sichtbare Rolle. Im Pontifikat von Pius XII. verdichtet sich gewissermassen das 20. Jahrhundert insgesamt.

Für die einen ist Pius XII. ein Heiliger, für andere ein Zauderer angesichts der Judenverfolgung. Welches Urteil kann die Geschichtswissenschaft fällen?

Baumeister: Man sollte sich nicht nur auf die Person des Papstes konzentrieren. Was in den vatikanischen Archiven liegt, sind nicht die persönlichen Papiere des Papstes, sondern Dokumente einer komplexen religiösen Institution, in der auch unterschiedliche Meinungen aufeinandertreffen. Ich würde als Historiker versuchen, Pius XII. in seiner Zeit zu interpretieren und einzuordnen.

«Hinter dem Papst steht die komplexe Welt der katholischen Kirche.»

Wenn man sich ausschliesslich auf seine Person fixiert, entstehen gewisse Verzerrungen. Als Papst hat er eine Sichtbarkeit und ein amtliches Charisma, aber hinter ihm steht die komplexe Welt der katholischen Kirche. Die Diskussion um die Heiligkeit ist keine Frage, die mich als Historiker umtreibt.

Aber noch immer prägt Rolf Hochhuths «Stellvertreter» die Diskussion um Pius XII.

Baumeister: Die Fortsetzung der Hochhuth-Themen wird meines Erachtens zu hoch gehängt. Hochhuth war nicht der erste, der die Einstellung der katholischen Kirche gegenüber dem Nationalsozialismus und der Judenverfolgung so kritisch gesehen hat. Es gab den französischen Historiker Leon Poliakov, den Israeli Saul Friedländer. Das ist eine internationale Debatte, die auch der Vatikan mit einer eigenen Kommission aufgriff.

Die demnächst zugänglichen Akten reichen bis 1958 – also bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg. Was ist für Sie besonders spannend?

Baumeister: Der Vatikan hat Nuntiaturen unter anderem in Lateinamerika, Asien und Afrika; jetzt kommen wir an deren Dokumente aus einer Schlüsselphase der globalen Neuordnung, in der sich die Kolonialmächte allmählich zurückziehen. Die katholische Kirche ist hier massiv involviert. Einerseits als Vertreterin von Menschenrechten und der einheimischen Bevölkerung, andererseits mit den Missionen, die auch als Akteure der Kolonisierung auftraten.

«Pius XII. war ein überzeugter Antikommunist.»

Auch stellt sich die Frage nach der Position der Kirche in der Blockbildung. Pius XII. war ein überzeugter Antikommunist. Der Vatikan spielte eine enorme Rolle beim Aufbau eines Feindbildes, hatte aber andererseits auch Interesse, über die wachsenden Mauern hinwegzugehen. Dies allein schon um die katholische Bevölkerung zu betreuen, aber auch um mit der Orthodoxie im Dialog zu bleiben. Wo es sicher auch interessant wird, ist die Gründung des Staates Israel.

Besteht die Gefahr, dass die Archivöffnung medial gekapert wird?

Baumeister: Bemühungen wird es sicher geben. Medien haben ihre Erwartungen. Auch einzelne Wissenschaftler werden dieses Thema noch einmal platzieren wollen. Am Ende ist historische Arbeit in so einem grossen Archiv relativ unspektakulär. Man braucht Zeit und ein gutes Konzept.

Wir sind keine Vereinfacher, wir sind Verkomplizierer.

Eine Goldgräbermentalität halte ich für eine ganz verderbliche Einstellung. Das ist nicht das Anliegen von Historikern. Wir sind keine Vereinfacher, wir sind Verkomplizierer. Wir polieren keine Heiligenbilder, sind aber auch nicht dazu berufen, mit der Axt im Wald zu entmythifizieren.

Haben Sie im Vatikan Versuche beobachtet, die angehenden Forschungen zu steuern?

Baumeister: Es gibt sicher ein Interesse, das Bild von Pius XII. nicht zu sehr angekratzt zu sehen. Ich kann aber nicht sagen, dass der Vatikan verhindern wollte, an bestimmte Dinge ranzukommen. Der entscheidende Schritt der Öffnung ist getan. Ein Problem in der Praxis wird sein, dass schon jetzt alle verfügbaren Plätze bis zum Sommer ausgebucht sind. Auch die Verfügbarkeit aller Akten ist keineswegs gewährleistet. Deren Aufbereitung ist eine enorme Aufgabe, das kann man gar nicht flächendeckend machen.

Wie gut ist der Vatikan für den Forscheransturm gerüstet?

Baumeister: Verglichen mit grossen Nationalarchiven hat er relativ wenige Mitarbeiter. Sie dürften sich bemüht haben, sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln darauf einzustellen. Es ist schwierig, den unterschiedlichen Forschungsinteressen gerecht zu werden.

Ich gehe davon aus, dass der Vatikan für kritische Historiker den Archivzutritt nicht unterbindet. Aber gibt es sicher eine Erwartung, mit bestimmten Themen wie der Person Pius XII., neutral gesagt, sorgsam umzugehen. (kna)

 * Martin Baumeister ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom.


Im Foto festgehalten: Papst Pius XII. verkündet 1950 Kraft seiner Unfehlbarkeit (»ex cathedra») das Dogma der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel. | © KNA
6. Februar 2020 | 05:59
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